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Britannien: Schottland vor der Unterhauswahl
Wieder auf der Tagesordnung
23. April 2015 | Nach dem Referendum im September schien das Thema schottische Unabhängigkeit erledigt. Doch jetzt geht das Gespenst wieder um. Und nimmt reale Züge an.
Nicola Sturgeon war mal wieder glänzend in Form. «Wir werden all jenen die Hand reichen, die sich für einen positiven Wandel stark machen, der die Lebensbedingungen der einfachen Leute verbessert», sagte die Vorsitzende der Scottish National Party (SNP) am vergangenen Wochenende. Es gebe gemeinsame Interessen über Schottland hinaus, und diese Interessen werde die SNP überall vertreten, fuhr Sturgeon fort, die auch Schottlands Erste Ministerin ist. Ihr Auftritt bei der Präsentation des SNP-Wahlprogramms gipfelte schliesslich im Versprechen, eine konservative Regierung zu verhindern: «Die SNP wird nie den Tories zur Macht verhelfen.»
Es könnte gut sein, dass die SNP nach der Unterhauswahl am 7. Mai in der Lage ist, dieses Versprechen umzusetzen. Laut jüngsten Umfragen gewinnt die Partei rund 50 der 59 schottischen Wahlkreise, vielleicht sogar mehr (bisher waren es 6), während Labour in Schottland (bisher 41 Sitze) ein Wahldesaster droht. Damit wäre die SNP drittstärkste Kraft in Westminster. Und da weder die konservative Partei von David Cameron noch Labour unter dem bisherigen Oppositionsführer Ed Miliband allen Prognosen zufolge keine parlamentarische Mehrheit erzielen, käme den NationalistInnen in London eine entscheidende Rolle zu: Ohne sie gibt es aller Wahrscheinlichkeit nach keine handlungsfähige Regierung in Britannien.
Woher kommt dieser rasante Aufschwung, der sich auch in einem beachtlichen Mitgliederzuwachs ausdrückt (innerhalb eines halben Jahres stieg die Zahl von 25000 auf 105000)? Da ist zum einen die bisherige Amtspolitik der SNP, die in Schottland seit 2007 regiert und die begrenzte Kompetenz der schottischen Verwaltung zu nutzen wusste: Sie weigerte sich, jene Studiengebühren einzuführen, die die konservativ-liberale Regierungskoalition im Rest des Landes verdreifacht hat. Sie bestand darauf, dass Kranken in Schottland auch künftig keine Rezeptgebühren bezahlen müssen. Und sie lehnte es ab, viele der verheerenden Sozialkürzungsprogramme der britischen Regierung – etwa die Schlafzimmersteuer – umzusetzen.
Zweitens hat sie Ziele formuliert, die teilweise dem Wahlprogramm von Labour gleichen (ein Spitzensteuersatz von fünfzig Prozent, Einführung einer Villensteuer, Abschaffung der Nullstundenarbeitsverträge), teilweise aber weit darüber hinausgehen: Anhebung des Mindestlohns, sofortige Beendigung der Austeritätspolitik mit ihrem Sozialabbau und den Entlassungen im öffentlichen Dienst, radikaler Verzicht auf die von den Tories und von Labour geplante Modernisierung des Atomwaffensystems, mehr Geld für den sozialen Wohnungsbau.
Die Referendumskampagne
Der Hauptgrund für die enorme Popularität der SNP liegt aber ein paar Monate zurück. Im Sommer und Frühherbst 2014 standen sich in Schottland zwei Lager gegenüber. Es ging um die Frage: «Soll Schottland ein unabhängiges Land werden?» Auf der einen Seite argumentierte die politische Elite bei ihren wenigen öffentlichen Auftritten für eine Beibehaltung der Union mit England, Wales und Nordirland. Sie nutzte die herkömmlichen Medien, die fast durchweg auf ihrer Seite standen; sie malte den wirtschaftlichen Untergang an die Wand; sie drohte mit Rentenkürzungen und Steuererhöhungen – und sie versprach eine weitgehende Föderalisierung, sollten die SchottInnen mit «Nein» stimmen.
Auf der anderen Seite mobilisierte eine bunte Koalition von Friedensaktivisten, Feministinnen, SozialistInnen und UmweltschützerInnen unter dem Banner der linken Radical Independence Campaign (RIC) für ein «Ja». Sie zogen von Tür zu Tür, bauten in den Städten ihre Infostände auf, kommunizierten über Webseiten und soziale Medien – und schafften es mit tatkräftiger Hilfe vieler frustrierter Labour-WählerInnen, dass sich auch jene ins Wahlregister eintrugen, die seit Jahrzehnten nicht mehr abgestimmt hatten. «Eine solche Bewegung hat es seit dem Widerstand gegen Thatchers Poll Tax nicht gegeben», sagt Paul Stewart, Soziologe an der Glasgower Strathclyde University. Damals, 1989, hatte Premierministerin Margaret Thatcher zuerst in Schottland eine kommunale Kopfsteuer eingeführt – und war 1990 über die Aufstände und Boykottkampagnen gestürzt.
«Beim Referendum spielte Nationalismus kaum eine Rolle», erläutert Stewart. «Hätte sonst die SNP-Regierung», die die Bedingungen festlegen konnte, «alle in Schottland lebenden Menschen, egal welcher Herkunft oder Nationalität, abstimmen gelassen?» Am 18. September sei es mehr um das Recht auf Selbstbestimmung gegangen als um staatliche Souveränität; der Gemeinschaftsgedanke – tief verwurzelt in der schottischen Tradition – habe im Vordergrund gestanden, nicht ein Nationalismus, der keine Klassenunterschiede kennt. Angesichts mangelnder Alternativen und einer dezimierten Gewerkschaftsbewegung, so Stewart, habe der Widerstand gegen die von Oberschichten-Tories orchestrierte Austeritätspolitik andere Ausdrucksformen gesucht – und gefunden.
Bewegung nach der Niederlage
Das Abstimmungsergebnis war ernüchternd. Zwar hatten die Altersgruppen unter 45 Jahren mehrheitlich für eine schottische Eigenständigkeit votiert, auch in den ehemaligen Industriestädten Glasgow (54 Prozent dafür) und Dundee (57 Prozent) wollte eine Mehrheit dem Londoner Diktat von Tories und New Labour entkommen (in den ärmsten Quartieren von Glasgow, wo die durchschnittliche Lebenserwartung noch unter der von Bangladesh und dem Irak liegt, stimmten 65 Prozent für Yes). Und selbst die SchottInnen asiatischer Herkunft waren dafür. Doch es reichte nicht. Das Resultat war knapper, als vorher gedacht, aber eindeutig: 55 Prozent der Abstimmungsberechtigten entschieden sich für den Verbleib Schottlands im Vereinten Königreich.
Was dann folgte, kam für viele noch überraschender als das enorme Engagement der radikalen VerfechterInnen einer schottischen Loslösung von London. Rund 7000 AktivistInnen trafen sich kurz nach dem Referendum zur RIC-Konferenz «Wohin jetzt?», kurz danach versammelten ebenso viele zu einer Kundgebung der Gruppe «Hoffnung statt Angst». Die Empörung über die britische Politik war nicht verschwunden, die Frustration über die Massnahmen der von Labour dominierten Stadtverwaltungen – die Londons Kürzungsvorgaben folgten, Pflegeheime schlossen, Bedienstete feuerten – hielt an. Und dann war da noch die Enttäuschung all jener, die mit Nein stimmten, weil sie den Zusagen von Labour und den Tories für bare Münze genommen hatten.
In dieser Situation handelte die taktisch versierte neue Vorsitzende Sturgeon klug: Die Partei öffnete sich nach links, lud explizit auch die RIC-AktivistInnen ein und stellte KandidatInnen aus allen Lebensbereichen auf. So fordert nun in Paisley eine zwanzigjährige Working-class-Göre, die das Fluchen noch nicht verlernt hat, Schattenaussenminister Douglas Alexander heraus, der Labours Wahlkampf leitet. Sie könnte ihn besiegen. Auch in den anderen Wahlkreisen bangen bisherige Labour-Abgeordnete, die LiberaldemokratInnen (jetzt noch elf Sitze) und Schottlands einziger Konservativer im Unterhaus um ihre Mandate. Mittlerweile hat die Bewegung eine Eigendynamik entwickelt, die derzeit nicht zu stoppen ist.
Und was ist mit der schottischen Unabhängigkeit? Die stehe zur Zeit nicht auf der Tagesordnung, sagte die langjährige Kriegsgegnerin Sturgeon am Wochenende. Aber alle wissen, dass das nicht stimmt. Die Partei wird es sich nicht leisten können, in Westminster nur Juniorpartnerin zu spielen; dazu sind die Erwartungen der neuen, jungen, hoffnungsvollen Basis zu hoch. Spätestens bei den schottischen Regionalwahlen in einem Jahr wird diese Frage im Zentrum stehen. Und sollten nach dem 7. Mai die Konservativen mit der xenophoben, europafeindlichen United Kingdom Independence Party und anderen kleinen Parteien (wie etwa die protestantisch-nordirische Democratic Unionist Party) eine Koalition bilden können und ein EU-Austrittsreferendum vereinbaren, ist das Thema noch schneller wieder da. Denn in einem sind sich fast alle SchottInnen einig: Ein Ausscheiden aus der EU kommt für sie nicht in Frage. (pw)