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Britannien: Ukip auf der Insel
Frackzwang, Prügelstrafe und Commonwealth
8. Mai 2014 | Mit bis zu dreissig Prozent der Stimmen könnte eine bislang kaum bekannte rechtpopulistische Partei die EU-Wahl gewinnen. In anderen Staaten ist die EU-Skepsis zwar ähnlich stark, aber nirgendwo ist die Ablehnung so gross wie in Britannien.
«Nur wir sagen die Wahrheit, nur wir kämpfen gegen das Monster, nur wir engagieren uns für britische Jobs!» Ray Finch hält es nicht mehr auf seinem Stuhl. In seinem grauen Anzug, die Hände in den Hosentaschen, tigert er über die Bühne und ruft seine Parolen in den Saal: «Wir sind die neue Volksarmee und stehen kurz vor einem Erdbeben!» Alles deute darauf hin, dass jetzt der Durchbruch gelingt, dass sich die Menschen die Diktatur des «schrecklichen Imperiums» nicht mehr gefallen lassen, dass endlich Schluss ist mit der EU. «Es geht um nichts weniger als das Überleben Britanniens, um unsere Souveränität.» Auch von «Überfremdung» ist viel die Rede: «Britannien droht eine neue Migrationswelle», steht denn auch in grossen Lettern auf den Faltblättern, die zu Veranstaltungsbeginn verteilt worden sind.
Die United Kingdom Independence Party (Ukip) hat zu einem Informationstreffen ins Gemeinschaftszentrum von Shoreham-by-Sea geladen, die Bühne ist mit dem Logo der Partei – einem violetten Pfundzeichen in gelbem Kreis – dekoriert, und auf dem Podium agieren die lokalen Grössen: Finch, der in West Sussex für das EU-Parlament kandidiert und das Büro des Parteichefs Nigel Farage leitet, die EU-Kandidatin Janice Atkinson aus Kent und Mike Glennon, Fraktionsvorsitzender der Ukip-Gruppe im Grafschaftsrat von West Sussex. Ukip sei keine Sekte, Ukip sei nicht rassistisch, Ukip sei für alle da, beteuert Glennon mehrfach, und das Publikum nickt dazu. Wer sieht sich selbst schon als Rassist? Aber man wird doch wohl noch sagen dürfen, dass die Zuwanderung der vielen Arbeitslosen aus dem europäischen Süden gestoppt werden muss.
Also klatschen die Leute, fast alles Männer, alle weiss und die meisten mit grauen Haaren. Dabei können ihnen gar so viele Auswärtige nicht begegnet sein. Dass man das Land wegen der «Überfremdung» kaum wiedererkenne, wie Farage immer wieder medienwirksam beklagt, gilt jedenfalls nicht für ihren Ort. In Shoreham-by-Sea, einer Kleinstadt an der englischen Südküste, gibt es einiges zu sehen: herausgeputzte Fachwerkhäuser, gediegene Läden, zwei mittelalterliche Kirchen, sauber gekehrte Gassen, einen Jachthafen, einen schnuckeligen Bahnhof, aber keine fremdländischen Gestalten – die heile Welt des kleinbürgerlichen Englands. Und doch gehört die frühere Tory-Hochburg wie so viele Gemeinden des englischen Südostens inzwischen zu den Epizentren einer politischen Umwälzung, die weit über die Wahl zum EU-Parlament hinausreichen könnte.
Warum er hergekommen sei? «Weil ich wissen will, wie wir schnellstmöglich die EU verlassen können», antwortet Bill Johnson, ein stämmiger Mann Mitte sechzig. Und was spricht gegen die EU? «Wir zahlen immer nur ein und bekommen dafür ständig neue Regeln vorgesetzt, die unserer Wirtschaft schaden. Wir sind doch nicht mehr Herr im eigenen Haus!» Andere Veranstaltungsbesucher argumentieren ähnlich: Fast alle Gesetze würden mittlerweile in Brüssel beschlossen. Die EU und die anderen Parteien hätten nichts gegen die Stilllegung des Ford-Werks in Southampton (2013) und die Verlagerung der Jobs in die Türkei unternommen. Britannien sei doch nur eine Milchkuh, die von Eurotechnokraten gemolken werde. Und überall diese Ausländer, demnächst sicher auch hier.
Uniformen für TaxifahrerInnen
Fast zwei Stunden lang verstärken die Ukip-RednerInnen in Shoreham diese Auffassungen und liefern eine bunte Mischung aus durchaus richtigen Beobachtungen («die EU ist undemokratisch»), Halbwahrheiten («nicht die EU hat für Frieden in Europa gesorgt, sondern die Nato») und schlichtweg Erfundenem («am Tag nach unserem EU-Austritt werden Tausende neuer Jobs geschaffen»). Sie polemisieren gegen das elitäre Gehabe der PolitikerInnen anderer Parteien («alle in Oxford geschult»), beklagen die hohen Strompreise («wegen der Förderung erneuerbarer Energien, die unsere Atomwirtschaft kaputt macht»), beschuldigen die Gewerkschaften («sie haben in den siebziger Jahren unsere Industrie ruiniert») und wenden sich gegen die vermaledeiten EU-Vorschriften, die nur ein Ziel hätten: den Ruin der britischen Wirtschaft. Denn dazu würden eine stärkere Regulierung des Finanzmarkts oder Bestimmungen zum Schutz der Beschäftigten und der KonsumentInnen unweigerlich führen.
Während rechtspopulistische Parteien in anderen EU-Staaten zumeist zwei Botschaften vermitteln (Stopp der «Massenimmigration» plus mehr Schutz für die heimische Wirtschaft), geht die UKIP mit marktradikalen Positionen hausieren – und hat Erfolg damit. In den vergangenen zwei Jahren konnte sie bei jeder Nachwahl ins Unterhaus Labour oder den Tories den zweiten Platz streitig machen und die LiberaldemokratInnen zumeist auf den vierten Rang verweisen. Sie gewann bei Lokal- und Grafschaftswahlen zahllose Sitze dazu und ist in etlichen Regionen – besonders im traditionell konservativen Südosten – mittlerweile die stärkste Kraft. Einen solch rasanten Aufstieg im durch das Mehrheitswahlsystem fest gefügten britischen Politsystem hat seit Jahrzehnten keine andere Partei geschafft.
Dabei war die Ukip, vor zwanzig Jahren gegründet, bis vor kurzem noch ein wirrer Haufen durchgeknallter SpinnerInnen gewesen, die manchmal mit der rechtsextremen British National Party liebäugelten. Eine Ansammlung von «fruitcakes and closet racists», von Verrückten und klammheimlichen Rassisten, wie David Cameron vor einiger Zeit lästerte. Hatte Ukip im Programm zur Unterhauswahl 2010 nicht einen Frackzwang für alle Taxifahrer verlangt, die Wiedereinführung der Prügelstrafe gefordert und Soldaten durch die Strassen patrouillieren lassen wollen? Mittlerweile ist Premierminister Cameron der Spott allerdings vergangen. Und auch Labour muss sich Sorgen machen.
Der Druck von rechts
Woher dieser Wandel? «Die Krise ab 2008 hat den Menschen die Augen geöffnet und den Charakter der EU erkennen lassen», sagt Ukip-Kandidatin Atkinson, nach eigenem Bekenntnis eine glühende Verehrerin der früheren Premierministerin Margaret Thatcher. Diesen Zusammenhang stellen auch Matthew Goodwin und Robert Ford her, allerdings anders. Die RechtspopulistInnen seien vor allem in Wahlkreisen mit einem hohen Anteil an unqualifizierten Beschäftigten stark, schreiben die beiden Wissenschaftler in ihrem gerade erschienenen Buch «Revolt on the Right». Sinkende Einkommen, zunehmend prekäre Arbeitsverhältnisse, wachsende Ungleichheit und die rigorose Austeritätspolitik (die auch Labour befürwortet) hätten zu einer tiefen Verunsicherung geführt – und zu einer grossen Wut auf das Establishment.
Es sind nicht nur Absturzgefährdete, die in der EU die Hauptursache aller Übel sehen. Von jeher mobilisiert ein starker Tory-Flügel gegen den «Zentralismus aus Brüssel». Die (zumeist begüterten) Rechtskonservativen proben immer wieder den Aufstand gegen Premierminister Cameron, den sie – weil er die Homoehe akzeptiert und den Klimawandel als Fakt anerkennt – für viel zu liberal halten. Es war dieser parteiinterne Druck von rechts, der Cameron Anfang 2013 ein EU-Referendum im Jahr 2017 versprechen liess, sollten die Tories nächstes Jahr die Unterhauswahl gewinnen.
Auch Linke wollen raus
Da laut Umfragen derzeit knapp sechzig Prozent der BritInnen einen Austritt aus der EU befürworten, hält sich auch die Führung der Labour-Partei bedeckt. Sie ist zwar vorwiegend pro EU, aber so kurz vor der Parlamentswahl will sie sich nicht festlegen. Abgesehen von den LiberaldemokratInnen und den schottischen NationalistInnen gibt es somit keine nennenswerte politische Kraft, die sich für den Europagedanken starkmacht. Und das unterscheidet Britannien von anderen Ländern mit starken EU-skeptischen Gruppierungen.
Selbst innerhalb der Linken gibt es Strömungen, die lieber heute als morgen die EU verlassen würden. Labour war schon in den siebziger Jahren in der Europafrage gespalten. Damals, beim Referendum 1975 (zwei Drittel der Bevölkerung begrüssten seinerzeit den EWG-Beitritt Britanniens), mobilisierte die Parteilinke um Tony Benn für ein Nein. «Die EU wurde als undemokratischer Klub der Bosse konzipiert, der ihrer Profitmaximierung dient, Arbeiterrechte untergräbt, öffentliche Güter privatisiert und Sozialsysteme zerschlägt», sagt Geoff Martin von der Transportgewerkschaft RMT. «Das war von Anfang an so, und das ist heute noch viel mehr der Fall.»
Bereits vor der EU-Wahl 2009 hatten die RMT und kleine linke Gruppierungen mit No2EU eine Wahlplattform gegründet, die auch jetzt in mehreren Regionen KandidatInnen ins (aussichtslose) Rennen schickt – damit nicht die Neoliberalen von Ukip und den rechten Tories die Debatte dominieren. Aber hat die EU nicht auch positive Seiten? «Welche denn?», fragt Martin zurück. «Dieses Europa und das Gerede von Miteinander und Solidarität – das ist doch alles nur ein Mythos.» Und auch wenn manche Linke auf dem Kontinent noch hoffen: Nein, «diese EU ist nicht reformierbar».
Diese scharfe Kritik von links, die ewig polternde Tory-Rechte und die einfachen Botschaften des Ukip-Vorsitzenden und früheren Börsenmaklers Nigel Farage erklären aber noch nicht den Stimmungswandel in der britischen Bevölkerung. Warum die grosse Zustimmung vor vierzig Jahren, woher die Ablehnung jetzt?
«Früher war die Bevölkerung im Durchschnitt viel ärmer als heute und hoffte auf Europa», sagt die Wirtschaftshistorikerin Pat Hudson, «und es gab damals noch eine namhafte britische Industrie, die sich für den gemeinsamen Markt einsetzte.» Heute dagegen beherrsche das Finanzkapital das Land – «und dem ist Europa ziemlich egal». Ausserdem, so Hudson, habe die Politik noch immer nicht auf das Phänomen der «guest workers» reagiert, also auf die grosse Zahl von MigrantInnen aus EU-Staaten, die nur vorübergehend in Britannien arbeiten und in der Hoffnung auf ein besseres Leben danach miserable Löhne akzeptieren. «Auf dem Kontinent hat man sich daran gewöhnt und Vorkehrungen getroffen. Hier aber ist das neu.»
Das Überbleibsel Empire
Noch weiter zurück greift der Soziologe Tony Lane. Eine der Grundideen des gemeinsamen Europas sei doch der Gedanke «Nie wieder Krieg!» gewesen. «Dagegen konnte niemand etwas haben», sagt er, «ausser den Briten, deren Land nie besetzt und nie von einem Krieg zerstört wurde und die sich in den fünfziger und sechziger Jahren», in der Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaft, «noch für eine Weltmacht hielten.» Dieser imperiale Zug präge die britische Politik bis heute. «Und viele verstehen sich noch heute, bestärkt durch eine chauvinistische Presse, als Teil einer grossen und grossartigen Nation auf einer Insel», sagt Lane. «Die Erinnerung an das Empire ist ein Überbleibsel, das im kollektiven Gedächtnis haften blieb.»
Welche Alternativen zur EU es denn gebe, will ein Besucher der Ukip-Versammlung in Shoreham-by-Sea wissen. Das sei eine einfache Frage, sagt Ray Finch und tritt an den Rand des Podiums: «Wir sollten uns endlich wieder um unsere wirklichen Freunde und Alliierten kümmern, um die Mitgliedstaaten des Commonwealth, die wir so schmählich verraten haben.» Und dass Farage, von dem an diesem Abend ständig die Rede war, eigentlich nur dann sein Mandat in Brüssel oder Strassburg wahrnimmt, wenn es dort Abgeordnetenzulagen zu verteilen gibt, hält Finch völlig in Ordnung. «Wir sind doch keine Affen, die dort herumhampeln und Befehle entgegennehmen», sagt er, «wir kämpfen hier». Der Beifall war gross. (pw)