Indien: schwache Linke, starke Rechte
Gratisburkas vom Muslimfeind
6. Mai 2014 | Kommende Woche gibt die indische Wahlkommission das Ergebnis der Parlamentswahl bekannt. Laut Umfragen liegen die HindunationalistInnen vorne. Überraschungen sind aber nicht ausgeschlossen.
Text: Joseph Keve; Übersetzung: Pit Wuhrer
«Stoppt die korrupte Kongresspartei, stoppt die Hindunationalisten!» plärrt es aus dem Lautsprecher. «Für Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Transparenz! Wählt einen von uns! Wählt Mr. Innocent!» Immer wieder dreht der mit Blumen und roten Fahnen dekorierte Jeep seine Runden durch Ankamali, einer kleinen Stadt im südindischen Bundesstaat Kerala, und überall stehen Menschen am Strassenrand, die gekommen sind, um ihren Lieblingsschauspieler zu sehen: Innocent Vareed. Der 69-Jährige ist neu in der Politik, er hat noch nie eine Wahl bestritten, aber er geht davon aus, dass sich sein Ruhm in Stimmen niederschlägt – in Stimmen auch für die Linksdemokratische Front (LDF).
Denn für diese von der einst maoistischen, jetzt sozialdemokratischen Kommunistischen Partei Indiens / Marxisten (CPIM) geführte Allianz tritt Vareed an. Erstmals in der Geschichte der CPIM setzt Keralas Linke auf unabhängige KandidatInnen. Damit, so hofft sie, könnte man der Kongresspartei und deren Bündnispartnerinnen, die seit 2011 den Bundesstaat regieren, Stimmen abjagen – vor allem jene der christlichen Minderheit. Diese unterstützte bisher die Kongresspartei.
Es steht nicht gut um die Linke. Bei keiner nationalen Wahl zuvor war so wenig von ihr zu hören gewesen. Vorbei die Zeit, als linke Politiker wie Jyoti Basu (der frühere Chefminister von Westbengalen), Harkishan Singh Surjeet (der langjährige CPIM-Generalsekretär) oder Indrajit Gupta (für einige Zeit Indiens Innenminister) national eine Rolle spielten: Diese hatten in der Unabhängigkeitsbewegung gekämpft, sassen in Haft und galten als ehrliche Politiker. Vorbei auch die Zeit, als alle säkularen Kräfte den Rat der linken Parteien wie der CPIM suchten. Seit die Nachfahren der grossen Alten mit neoliberalen Ideen zu liebäugeln begannen und die CPIM für diese Politik in ihren Hochburgen Westbengalen und Kerala krachende Niederlagen erlitt (sie regiert nur noch im kleinen nordostindischen Bundesstaat Tripura), kann von einer Dritten, einer linken Kraft auf nationaler Ebene keine Rede mehr sein.
Viele Faktoren haben zu ihrem Niedergang beigetragen: Die vielen unternehmensfreundlichen Entscheidungen zu Lasten der Armen, die Korruption unter den Kadern, der fast völlige Verzicht auf die früher so erfolgreiche Schulung von BasisaktivistInnen, die Reduktion der politischen Inhalte auf wirtschaftliche und manchmal soziale Belange. Und auf jene Fragen, die viele InderInnen angesichts der Globalisierung bewegen – die nach einer regionalen, ethnischen, religiösen oder Kastenidentität –, fiel der Linken keine Antwort ein.
Noch mehr Liberalisierung
Dabei könnte eine inhaltlich stimmige, aktive Linke heute durchaus punkten. Denn zwischen den Hauptkontrahentinnen dieser Wahl – der Kongresspartei und der hindunationalistischen Indischen Volkspartei BJP – gibt es in vielen Bereichen kaum Unterschiede. Die Kongresspartei, die Indien seit der Unabhängigkeit 1947 meistens regierte, hat alle Dynamik und jede Vision verloren. Sie gilt mittlerweile als eine von der Korruption zerfressene, unfähige und praktisch führungslose Organisation, die in den vergangenen zehn Regierungsjahren zwar viele Massnahmen zugunsten der über 700 Millionen Armen versprach, aber kaum eine umsetzte. Das «Shining India», das Leuchtende Indien, von dem der abtretende Ministerpräsidenten Manmohan Singh stets sprach, verlor an Glanz. Das Wirtschaftswachstum (2009: 9 Prozent, 2013: 4,8 Prozent) brach ein, die Preise der Grundnahrungsmittel explodieren (siehe WOZ Nr. 38/13), die Arbeitslosigkeit steigt rasant. Meinungsumfragen zufolge bekommt die Kongresspartei jetzt die Quittung für ihre Politik, die sich in den letzten beiden Parlamentsperioden vor allem an den Interessen des internationalen Kapitals orientierte: Wann immer Grosskonzerne anklopften, lud Singh sie ein.
Die BJP wiederum, die sich vor allem dem mittelständischen Handel verpflichtet sieht, betrachtet Auslandsinvestitionen etwas skeptischer (vor allem die von Handelskonzernen wie Walmart oder Tesco), vertritt jedoch eine ebenso wirtschaftsfreundliche Politik. BJP-Kandidat Narendra Modi, der von den indischen Grossunternehmen als Wirtschaftsreformer gefeiert und unterstützt wird, verspricht eine weitere Modernisierung und Liberalisierung des Landes. Als Chefminister des Bundesstaats Gujarat hatte er die Unternehmenssteuern gesenkt, Firmen mit Zuschüssen bedient, ihnen billiges Land zugeschanzt und die Strompreise für Grossabnehmer verbilligt – alles zu Lasten der staatlichen Ausgaben für das Bildungswesen, den Gesundheitssektor und öffentliche Investitionen.
Hat Modi in Gujarat ökonomisch erfolgreich agiert, wie viele Medien schreiben? Mulayam Singh Yadav, langjähriger Chefminister von Uttar Pradesh und Mitglied der linken Samajwadi Party, hält das für reine Propaganda. «In Gujarat sind über dreissig Prozent der Frauen und fünfzig Prozent der Kinder unterernährt, die Flüsse gehören zu den am stärksten verschmutzten des Landes, die Tagelöhner verdienen noch weniger als anderswo», sagt Yadav. «Und das soll eine gute Entwicklung sein?» Dennoch könnte Modi der nächste Ministerpräsident Indiens werden; die BJP liegt Umfragen zufolge weit vorn.
Drei Fundamentalismen
Die Vorstellung, dass Modi das Land regieren könnte, erschreckt viele. «Seit dem Aufstieg des aggressiv politisierenden Modi sind die moderaten Stimmen in der BJP verstummt», sagt beispielsweise U. R. Ananthamurthy, einer der renommiertesten Schriftsteller des Landes, «Modi ist eine Bedrohung für die indische Zivilisation». Ananthamurthy, 81 Jahre alt, denkt an Auswanderung, sollte Modi Regierungschef werden. Modi repräsentiere drei Fundamentalismen, erläutert Harsh Mandar, Direkter des Zentrums für Gleichheitsstudien in Neu-Delhi. «Er verbindet Marktradikalismus mit ethnischem Sektierertum und militärischen Fundamentalismus: Er ist pro Big Business, hasst religiöse Minderheiten und befürwortet eine aggressive Politik gegen Pakistan.»
Allerdings stecken die BJP und Modi auch in einem Dilemma. Um auch nur in die Nähe einer Mehrheit an Sitzen zu kommen (543 Mandate werden im Majorzverfahren vergeben), braucht die BJP in vielen Wahlkreisen die Unterstützung der Minderheiten; vor allem die Stimmen der rund 180 Millionen MuslimInnen könnten in vielen Bezirken den Ausschlag geben. Gleichzeitig will die Partei nicht die Voten jener Hindus riskieren, die in den vergangenen Jahrzehnten von ihr, der hinduradikalen Kaderorganisation RSS und dem Welthindurat VHP fanatisiert wurden.
Also verfolgt die BJP eine Doppelstrategie. Modis Adjutanten bedienen mit ihren Hindutva-Parolen von der einzig wahren Hindu-Nation die chauvinistische Klientel. Modis Vertrauter Amit Shah – gegen den derzeit wegen Anstiftung zum Polizeiterror ermittelt wird – rief Hindus zur Stimmabgabe für die BJP auf, «um sich an den Muslimen zu rächen». Und der BJP-Politiker Giriraj Singh versprach laut Medienberichten gar, dass nach der Wahl alle Modi-GegnerInnen nach Pakistan abgeschoben würden.
Der Spitzenkandidat selber schlägt hingegen gemässigte Töne an – und setzt darauf, dass die Öffentlichkeit die Pogrome von 2002 vergessen hat. Damals hatte ein Mob, aufgestachelt von Modis Regierung in Gujarat rund 1500 MuslimInnen massakriert, nachdem ein Zug mit Hindu-Militanten nach Ayodhya in Brand gesteckt worden war. Doch es stehen im BJP-Wahlprogramm immer noch Forderungen nach dem Bau eines Ram-Tempels in Ayodhya (wo 1992 aufgepeischte BJP- und RSS-Mitglieder eine alte Moschee zerstört hatten), nach der Abschaffung des Sonderstatus von Kaschmir und nach der Einführung eines Uniformen Zivilrechts, das den Minderheiten ihre bisher geltenden sozialen und kulturellen Rechte nehmen soll. Davon spricht Modi allerdings kaum. Lieber bittet er bei seinen Wahlkampfkundgebungen MuslimInnen – falls anwesend – in die erste Reihe, und es kam auch schon vor, dass seine Leute 5000 Gebetskäppis und Burkas verteilten.
Entscheidend: die Regionalparteien
Geht dieses Doppelspiel auf? Rund ein Drittel aller Stimmen – mehr als zuvor – dürften an regionale, kastenorientierte Parteien gehen. Fast die Hälfte aller Wahlkreise liegt in den bevölkerungsreichen Bundesstaaten Uttar Pradesh, Tamil Nadu, Westbengalen, Maharashtra und Bihar, und hier geben Regionalparteien den Ton an: die regional regierende sozialdemokratische Samajwadi Partei, die die unteren Kasten vertritt, sowie die Bahujan Samaj Party in Uttar Pradesh. Die tamilische Dravida Munnetra Kazhagam und die regierende All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam in Tamil Nadu. Der Trinamool Congress, der die CPIM als Regierungspartei in Westbengalen ablöste, die Nationalist Congress Party in Maharashtra sowie die Janata Dal (United) und die Rashrriya Janata Dal in Bihar.
All diese regional verankerten Parteien werden von erfahrenen PolitikerInnen geführt – und halten sich diesmal bedeckt. Während sie früher schon vorab bekannt gaben, welchem Bündnis sie sich anschliessen wollen (der United Progressive Alliance unter Führung der Konkresspartei oder BJPs National Democratic Alliance), warten sie nun ab. Um nach der Wahl jener Partei eine Koalition anzubieten, die ihren am weitesten entgegen kommt.
Heisst das, dass alles beim Alten bleibt, weil ein Erfolg der von der indischen Dispora – etwa in Britannien und den USA – finanziell stark unterstützten BJP sich längst nicht so krass auswirkt, wie das hindu-nationalistische Programm vermuten lässt? Erfahrungsgemäss verwässern Regierungsverhandlungen die Ziele der grossen Parteien, da sie ohne die Unterstützung der Kleinen nicht auskommen. Dennoch sind die MuslimInnen alarmiert. «Wir haben die fortwährende Ablehnung unserer Gemeinschaft durch die BJP nicht vergessen», sagt der Politikstudent Latif Mohammed (29) von der Universität Cochin in Kerala. «Die RSS betrachtet uns Muslime, die Christen und die Kommunisten doch nur als Feinde, die vertrieben werden müssen.»
Und so werden wohl auch diesmal nur wenige MuslimInnen für die BJP stimmen. Auch andere haben sich abgewandt, darunter sogar einige Regionalparteien, die bisher mit der BJP verbandelt waren – weil ihnen Narendra Modi und dessen aggressive Politik nicht geheuer sind.
Ende des Wahlmarathons
814 Millionen Wahlberechtigte (hundert Millionen mehr als 2009), 930000 Wahllokale in 543 Wahlkreisen, rund eine halbe Milliarde US-Dollar Verwaltungskosten – noch nie war der Aufwand für eine einzige Wahl so gross wie der zur 15. Lok Sabha, der neuen Legislaturperiode des indischen Parlaments.
Begonnen hat der neunstufige Wahlmarathon am 7. April im unruhigen Nordosten, er endet am kommenden Montag in den Bundesstaaten Bihar, Uttar Pradesh und Westbengalen. Das Ergebnis wird am Freitag nächster Woche veröffentlicht.
Laut Umfragen liegt die BJP, die bei der letzten Wahl 2009 116 Sitze errang, deutlich vor der Kongresspartei (2009: 206 Mandate). Offen ist, ob die Antikorruptionspartei Aam Aadmi an ihren Erfolg bei der Regionalwahl in Delhi anknüpfen kann.