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Indien: Aufräumen. Aber wozu?

Rupien für die Partei mit dem Besen

23. März 2014 | Gerade mal 49 Tage regierte die Anti-Korruptionspartei AAP im Grossraum Delhi, dann trat die Regionalregierung zurück. Dennoch könnte die neue Partei die kommenden Parlamentswahlen prägen.

Text: Joseph Keve; Übersetzung: Pit Wuhrer

«Ich kann das immer noch nicht glauben. Indien ist also doch veränderbar», sagt Ankush Patil, 23 Jahre alt und Zeitungsverkäufer in Palghar, einer Stadt im indischen Bundesstaat Maharashtra. «Alle wollen wissen, was passiert»; er habe noch nie so viele Zeitungen verkauft.

Auch Dominic Savio ist begeistert: «Ich hätte nicht gedacht, dass sich politisch noch etwas ändert in meinem Leben», staunt der 26-jährige Computeringenieur in Virar bei Bombay, der sich vor Jahren in der Bewegung Indien gegen Korruption engagiert hatte. «Und jetzt zeigt sich, dass die einfachen Leute die politischen Tagediebe besiegen können.» Das, was man derzeit erlebe, sei «die zweite indische Freiheitsbewegung».

Was Patil und Savio so in Aufregung versetzt, war ein Wahlergebnis von vielleicht historischer Bedeutung. Anfang Dezember erzielte die bis dahin kaum bekannte Aam Aadmi Party (AAP, die Partei des einfachen Manns) in der Hauptstadt Delhi aus dem Stand heraus knapp dreissig Prozent der Stimmen und errang 28 der 70 Sitze des Regionalparlaments. Damit hatte niemand gerechnet. Seit der Unabhängigkeit 1947 geben in Indien zwei Parteien den Ton an: die Kongresspartei und die hindunationalistische Volkspartei BJP, deren Macht und Einfluss keiner dritten Kraft Raum liessen – ausser den Linken, die aber nur regional verankert waren. Und plötzlich tauchen Nobodys auf, die nur ein Thema zu haben schienen – den Kampf gegen die grassierende Korruption.

Stampede vor den Parteibüros

Mit einem Besen als Symbol war die AAP 2012 gegründet worden. An ihrer Spitze steht mit dem 45 Jahre alten Arvind Kejriwal ein Prototyp der indischen Mittelschicht: Der frühere Aktivist der Antikorruptionsbewegung von Anna Hazare) entstammt nicht (wie die Gandhis in der Kongresspartei) einer politischen Dynastie, er predigt auch nicht – wie die BJP-PolitikerInnen – einen religiösen Fundamentalismus und er besitzt keine Reichtümer.

Er war ein Beamter – und wie viele seiner MitstreiterInnen war er es leid, in einem politischen System zu leben, in dem sich alles um Bestechung und Handaufhalten dreht: Gegen 167 Abgeordnete, nahezu ein Drittel der Mitglieder des Bundesparlaments, ermitteln derzeit die Strafverfolgungsbehörden. Der Oberste Gerichtshof hatte im Juli 2013 zwar verfügt, dass alle ParlamentarierInnen automatisch ihr Mandat verlieren, wenn sie zu zwei Jahren Haft verurteilt werden – doch die regierende United Progressive Alliance unter Führung der Kongresspartei brachte sofort ein Gesetz auf den Weg, das das höchstrichterliche Urteil aushebelt. Gegen Korruption, so schien es, ist kein Kraut gewachsen.

Doch das könnte sich allmählich ändern – auch dank der AAP, die derzeit rasanten Zulauf erfährt: Ende Januar zählte die Partei zehn Millionen Mitglieder (zu Jahresbeginn 2014 waren es noch 700.000 gewesen). «Unsere Mitglieder kommen aus allen Gesellschaftsschichten», sagt Gopal Rai, Mitglied des politischen Ausschusses der AAP, «und aus fast jedem Distrikt des Landes. Sie haben das Vertrauen in die anderen Parteien verloren und hoffen auf tiefgreifende Veränderungen.»

Mehr als nur Moral?

Es sind nicht nur Habenichtse, die in AAP eine Chance sehen. Auch Teile der gesellschaftlichen Elite gehören mittlerweile dazu: Der 91-jährige ehemalige Unabhängigkeitskämpfer Venkita Kalyanam, der Mahatma Gandhis Sekretär gewesen war; die sechzig Jahre alte Schauspielerin und Sozialaktivistin Mallika Sarabhei; die Finanzspezialistin Meera Sanyal (52), bis vor kurzem CEO der Royal Bank of Scotland India; der frühere TV-Intendant Samir Nair (49); H.S. Phoolka (58), Anwalt am Supreme Court; Apple-Manager, IT-AufsichtsrätInnen, Airline-Gründer – sie alle traten erstmals einer Partei bei oder wechselten von der Kongresspartei oder der BJP zur AAP. «Kejriwal und seine Partei haben einer Stimmung Ausdruck verliehen, die seit langem unter der Oberfläche brodelt», beschrieb der Kolumnist Vidya Subrahmanyam in der Zeitung «The Hindu» die «Stampede vor den AAP-Büros».

Der Wahlkampf im Unionsterritorium Delhi mit seinen siebzehn Millionen EinwohnerInnen war ja auch ungewöhnlich gewesen. Zum ersten Mal hatte da eine Partei auf Grossspenden verzichtet und stattdessen um Beiträge in Höhe von jeweils einer Rupie gebeten (mit dem Ergebnis, dass innerhalb von zwei Wochen zwei Millionen Rupien, umgerechnet 29.000 Franken, zusammenkamen). Und zum ersten Mal verpflichteten sich die KandidatInnen einer Partei, im Falle ihrer Wahl weder Dienstwagen noch Dienstwohnungen in Anspruch zu nehmen. Auch Gelder von der Partei seien tabu, sagt Gopal Mohan, ein AAP-Gründungsmitglied, «schliesslich sollen die Abgeordneten den Menschen dienen, und nicht sie ausnehmen». Der 28-Jährige finanziert stattdessen sein Parteiengagement aus eigener Tasche. Er kann sich diese Haltung allerdings auch leisten – er lebt von den Erlösen zweier Patente, die er sich als Robotertechniker gesichert hatte.

Ist die AAP also eine reine Mittelstandspartei, die mit populistischen Inhalten hausieren geht und nur ein Thema kennt? Hat sie ausser einem Habenichtseischen Ansatz auch konkrete politische Inhalte zu bieten, die den Interessen der Armen und Hungernden entsprechen? Schliesslich offeriert sie kein klares Programm, wie Prakash Karat, Generalsekretär der sozialdemokratischen Kommunistischen Partei Indiens / Marxisten (CPIM), kritisiert. Transparente Regierungsführung, Dezentralisierung der Macht, Kampf für Bürgerrechte – in all diesen Punkten lägen die AAP und die CPIM, die grösste linke Partei Indiens, nahe beieinander. Doch der AAP fehle es «an Ideologie».

In Kerala, so der CPIM-Chef, habe die erste frei gewählte kommunistische Regierung der Welt in den 1950er Jahren immerhin eine umfassende Landreform durchgesetzt. Was Karat jedoch verschweigt: Alle nachfolgenden CPIM-Regierungen in den Bundesstaaten Kerala, Westbengalen und Tripura liessen die Landfrage links liegen. Mit der Folge, dass jetzt auch langjährige CPIM-AktivistInnen zur AAP überlaufen. «Ich hätte erwartet, dass die Linke den Impuls aufgreift, der von der neuen Partei ausgeht», sagt beispielsweise Anil Kumaran (52) aus Cochin (Kerala), «stattdessen sitzt sie auf dem hohen Ross und erwartet von der neuen Partei Lösungen, zu denen sie in den letzten Jahrzehnten selber nicht fähig war.»

Links oder nur liberal, aus der Mitte kommend oder von unten? Auf jeden Fall habe der AAP-Erfolg in Delhi mehrere Entwicklungslinien in der indischen Gesellschaft aufgezeigt, sagt der Analytiker Ajoy Ashirwad Mahaprashasta. Erstens hätten sich «urbane Wähler in Massen gegen den Spiessgesellenkapitalismus des gegenwärtigen neoliberalen Wirtschaftsregimes gewandt und damit die Legende zerstört, dass die Stadtbevölkerung vom Zustrom privaten Kapitals profitiert». Zweitens habe sich eine Antikorruptionsbewegung erstmals als politisch-parlamentarisch relevante Kraft etablieren können. «Und drittens verdankt die AAP ihren Erfolg ehrenamtlich aktiven Wahlhelfern ohne vorherige Erfahrung, die allein aus politisch-moralischen Motiven handeln.»

Sturz nach 49 Tagen

Wo die AAP steht, zeigte die kurze Amtszeit von Arvind Kejriwal als Chefminister von Delhi. Als Minderheitsfraktion war seine Partei nach der Dezember-Wahl auf Unterstützung angewiesen – die ihm die Kongresspartei (sie hatte 35 Mandate verloren und war auf nur 8 Sitze gekommen) bot, weil sie eine BJP-Regionalregierung verhindern wollte. Doch die Tolerierung währte nicht lange. Das hatte weniger damit zu tun, dass plötzlich kleine Leute ins Zentrum rückten wie Vijay Baba, ein sechzigjähriger Rikschafahrer, der am 26. Januar, dem Unabhängigkeitstag, zu seiner eigenen Verblüffung ein modernisiertes Spital eröffnen durfte. Sondern damit, dass Kejriwal und seine MinisterInnen den Mächtigen auf die Zehen traten.

So beschloss die neue Regionalregierung, das Investitionsabkommen im Einzelhandel ausser Kraft zu setzen – sehr zum Missvergnügen internationaler Handelskonzerne wie Tesco und Wal-Mart. Gleichzeitig richtete sie einen Antikorruptionsnotruf ein, der es BürgerInnen ermöglichte, bestechliche Beamte zu melden – und setzte Verfahren gegen Mukesh Ambani, den reichsten Mann Indiens und Vorsitzender des mächtigen Reliance-Konglomerats, und gegen den Energieminister Veerappa Moily in Gang, den Petroleum- und Gasminister der Zentralregierung. Reliance Industries und die Zentralregierung hatten im Juni 2009 einen Gasliefervertrag abgeschlossen, der es dem Unternehmen erlaubte, den Gaspreis innerhalb von vier Jahren um das 3,4-Fache zu erhöhen (Moilys Vorgänger war gefeuert worden, weil er das intransparente Preissystem in Frage gestellt hatte).

Zuvor hatte die APP-Regierung die Gratiswassermenge pro Haushalt deutlich angehoben und die Strompreise halbiert. Die Industrie war entsetzt; ihre schönen Projekte und Privilegien, die die Kongresspartei im Rahmen der Wirtschaftsliberalisierung durchgesetzt hatte, schienen bedroht – auch weil immer mehr Menschen in anderen Bundesstaaten von den Regierenden vergleichbare Massnahmen verlangen.

Als die AAP Mitte Februar auch noch ein Gesetz zur Einrichtung der Stelle eines Ombudmanns mit weitreichenden Befugnissen vorlegte, das «einflussreiche BJP- und Kongresspolitiker hinter Gitter bringt», wie Kejriwal versprach, kündigte die Kongresspartei ihre Unterstützung auf – und die AAP-Regierung trat zurück. Unter diesen Bedingungen könne man nicht regieren, argumentierte AAP-Sprecher Prithvi Reddy, «wir werden die Bevölkerung erneut um ein Mandat bitten, das es uns erlaubt, unsere Vorstellungen auch umzusetzen». Für die bevorstehenden Parlamentswahlen (vgl. «Indien wählt»), hat die Partei bereits 131 KandidatInnen in den 543 Wahlkreisen des Landes nominiert. Weitere Kandidaturen sind angekündigt.

Ob die AAP in ganz Indien schafft, was ihr in Gross-Delhi gelungen ist, kann noch nicht abgeschätzt werden. Aber sie hat mit ihrem Tür-zu-Tür-Wahlkampf, der in Delhi für die höchste Wahlbeteiligung aller Zeiten sorgte, Zeichen gesetzt. Auch weil sie auf das bisher übliche und von allen Parteien gepflegte Werben um Blockstimmen, die sogenannten Vote Banks, verzichtete. Praktisch alle Parteien sichern sich eine geschlossene Stimmabgabe von Religionsgemeinschaften, Kasten und anderen Gruppierungen mit Partikularinteressen, indem sie deren Belange in den Vordergrund rücken – und die jeweiligen GruppensprecherInnen kaufen. «Derzeit erleben wir den Anfang vom Ende der traditionellen Vote Banks», sagt der politische Beobachter Jayprakash Narayan, «und den Beginn einer neuen Ära, in der nicht Geld die grösste Rolle spielt, sondern die politischen Inhalte». Und das ist schon viel.