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Britannien: Boykott der Sun

Sonnenfinsternis

14. Juli 2017 | Sind die Tage der rechten Boulevardzeitung Sun gezählt? Die Boykottbewegung gegen Rupert Murdochs Kampfblatt wird immer breiter.

Sie lassen nicht locker. Und sie vergessen nichts. Seit der Tragödie von Hillsborough, als eine im Bergarbeiterstreik 1984-85 militarisierte Polizei Hunderte von Liverpooler Fans in überfüllte Stadionränge trieb und dabei 96 Menschen zu Tode gequetscht wurden, ist in der Hafenstadt keine Zeitung so unpopulär wie die Sun des US-australischen Medienmagnaten Rupert Murdoch.

Der Anlass des Protests bezog sich auf die Berichterstattung des Blatts über den Polizeieinsatz: Am 15. April 1989 war ein Pokalhalbfinale zwischen dem Liverpool FC und Nottingham Forest im Hillsborough-Stadion von Sheffield angesetzt gewesen, Tausende reisten von Liverpool nach Sheffield. Vor dem den LiverpoolerInnen zugewiesenen Stadionabschnitt in der Leppings Lane bildeten sich lange Schlangen, dann gab die zuständige Polizeiführung von South Yorkshire den Befehl, die Tore zu Zuschauerrängen zu öffnen, die ohnehin schon dicht besetzt waren. Was folgte, war ein Desaster.

Und was berichtete die Sun am nächsten Tag? Statt wahrheitsgemäss zu vermelden, wie Hunderte den Bedrängten zu Hilfe kamen, sie über Zäune hoben und Verletzte in Sicherheit brachten, erfand das auflagenstarke britische Boulevardblatt Greuelgeschichten.

Die Liverpooler Fans seien zum Grossteil betrunken gewesen, hätten die Arbeit der Rettungskräfte behindert, manche hätten sogar auf Leichen gepisst: «Abschaum» halt. Zuständig für die Berichterstattung war damals der Sun-Chefredakteur Kelvin MacKenzie. Das hat die Liverpooler Bevölkerung der Sun nie vergeben. Und sie vergab auch der Polizei nicht. Ein erster unabhängiger Untersuchungsbericht, geleitet von Lord Justice Taylor, kam zwar zu dem Ergebnis, dass die Polizei unter Führung von David Duckenfield für den Tod der 96 Liverpooler Fans (der jüngste war 10 Jahre alt, der älteste 67) mitverantwortlich war. Er kritisierte auch, dass Duckenfield den Fans die Schuld zuschob. Doch eine offizielle staatsanwaltschaftliche Ermittlung ergab: «accidental death», also Tod durch widrige, zufällige Umstände.

«Gerechtigkeit für die 96!»

Das jedoch wollte die Hillsborough Family Support Group, eine in Liverpool von allen unterstützte Organisation der Angehörigen nicht hinnehmen. Und so mobilisierten sie über Jahre und Jahrzehnte hinweg. «Justice for the 96!» – dieser Schlachtruf ist in Liverpool bis heute nicht verhallt. Bereits 1990 publizierte der Liverpooler Professor Phil Scraton, der den Familien von Anfang an zur Seite stand, seine eigenen Erkenntnisse im Buch «Hillsborough – the Truth», das immer noch als gründlichste Darstellung des damaligen Geschehens gilt. Er war es auch, der viele Jahre später als Anwalt der Opfer agierte: 2009 wurde auf Grund des großen Drucks von unten eine Überprüfung der ersten Untersuchung angeordnet.

Das Ergebnis des Hillsborough Independent Panels, des neuen Untersuchungsausschusses, der 450.000 Dokumente einsah und zahllose ZeugInnen befragte: Die Fans hatten keinerlei Schuld, verantwortlich war allein die Polizei. Sein Bericht führte zu einer Neuauflage der offiziellen juristischen Untersuchung, die im März 2014 begann und im April 2016 zu einem Urteil gelangte; es war das umfangreichste und längste Gerichtsverfahren in der britischen Geschichte. Und es kam zum selben Resultat: Es war die Polizei.

Für seine langjährige Arbeit sollte Phil Scraton Ende 2016 geehrt werden: Ihm war der Ehrentitel eines Officers des Order of the British Empire (OBE) zugedacht, den die Queen zum Jahreswechsel vergibt. Doch Scraton lehnte den Ritterorden ab – aus Protest gegen all jene im Establishment und der Regierung, «die sich nie um Gerechtigkeit gekümmert haben». Außerdem, so fügte er hinzu, «kann ich als Dozent und Wissenschaftler keine Ehrung im Namen des Britischen Empires akzeptieren», denn: «Ich bleibe ein Kritiker der historischen, kulturellen und politischen Ursachen, Begleiterscheinungen und internationalen Folgen des Imperialismus.»

Interview- und Stadionverbote

Nach dem Gerichtsurteil – und auch aufgrund der anhaltenden Empörung in der Bevölkerung – vollzog die Clubführung des FC Liverpool einen längst überfälligen Schritt: Sie untersagte Anfang 2017 Clubmitgliedern, also auch den Spielern und dem Trainerteam, Interviews mit der Sun – und erteilte Sun-JournalistInnen Stadionverbot.

Ihr folgte im April 2017 der andere große Fußballclub in Liverpool, Everton FC. Dessen Clubleitung agierte teilweise aus Solidarität mit dem Lokalrivalen, hatte aber eigene Gründe. In einem Kommentar hatte Sun-Kolumnist Kelvin MacKenzie (derselbe, der 1989 für die Beleidigung der Liverpooler Fans verantwortlich gewesen war) einen kleinen Kneipenkonflikt zum Anlass genommen, einen Everton-Spieler mit Migrationshintergrund zu beleidigen und die Liverpooler generell mit Mafiosi zu vergleichen. MacKenzie bekam diese neuerliche Attacke nicht gut (er wurde von der Sun-Chefredaktion suspendiert), dem Blatt aber auch nicht: Sun-ReporterInnen dürfen seither weder Evertons Spiele noch Pressekonferenzen besuchen.

Und nicht nur das. Anfang Juli hat sich die Football Supporters' Federation – eine weltoffene, antirassistische Vereinigung von Fußballfans mit insgesamt rund einer halben Million Mitglieder – dem Sun-Boykott angeschlossen. Auf ihrer Jahreshauptversammlung beschlossen siebzig Fanclubs, darunter die aller Erstliga-Mannschaften, eine Kampagne gegen das Blatt. Anlass war das Sun-Titelbild nach einem Terroranschlag Anfang Juni in London gewesen. Überschrift: «Dschihadisten-Killer im Arsenal-Shirt».

Dass das europafeindliche und durchweg rassistische Kampforgan aus dem Hause Murdoch (das neben der Sun auch die Times und die Sunday Times herausgibt sowie Anteile am TV-Sender «Sky» hält) Fussballfans pauschal als «Hooligans» diffamiert, ihre vielfältigen Proteste gegen die Kommerzialisierung des Fussballs schmäht und generell eine dumpf-rechte publizistische Linie fährt, die nicht einmal Bild (Deutschand), Blick (Schweiz) oder der Kronen-Zeitung (Österreich) in den Sinn käme – geschenkt. Das weiß man. Aber dass sie nun Fans mit Dschihadisten gleichsetzt, und das war ja die Botschaft – das geht vielen nun doch zu weit.

Die Frage ist, wie effektiv die landesweite Boykottbewegung ist. In Liverpool gibt es seit Jahrzehnten kaum noch einen Zeitungshändler, der die Sun im Sortiment führt. Sollte die Kampagne auch anderswo Fuß fassen, wird es für das Blatt eng. Mitte der achtziger Jahre verkaufte die auflagenstärkste Boulevard-Zeitung Britanniens rund vier Millionen Exemplare am Tag; inzwischen sind es noch 1,6 Millionen.

PS: Und einen weiteren Erfolg konnte die zähe Hillsbrough Justice Campaign verbuchen: Im Juni eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen sechs Polizisten, die für die Hillsborough-Tragödie verantwortlich waren, darunter auch den Einsatzleiter David Duckenfield. (pw)