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Britannien: Regionaler Boykott der «Sun»

Kollektiv erinnern, kollektiv handeln

16. Juni 2014 | Zu Beginn der Fussballweltmeisterschaft wollte ein grosses britisches Boulevardblatt eine Gratisausgabe verteilen. Und stiess damit in Merseyside auf Widerstand.

Es gibt gute Geschichten, es gibt schöne Geschichten, und manchmal gibt es so richtig gute und schöne Geschichten, die zum Nachahmen anregen. Eine solche schrieben am 12. Juni die PostgewerkschafterInnen von Skelmersdale, eine Stadt vor den Toren von Liverpool. Denn sie beschlossen gemeinsam, die Auslieferung der «Sun» zu boykottieren, dem auflagenstärksten Boulevardblatt Britanniens. Der «Sun»-Verlag News International – er gehört dem US-australischen Medienzar Rupert Murdoch und gibt auch die «Times» und die «Sunday Times» heraus – wollte zum Beginn der Fussball-WM in Brasilien über zwanzig Millionen Exemplare einer Sonderausgabe an alle britischen Haushalte verteilen lassen. Den Auftrag dafür hatte die kürzlich privatisierte britische Post Royal Mail erhalten.

Auf einer Belegschaftsversammlung weigerten sich die PostarbeiterInnen von Skelmersdale, den Job auszuführen. «Wenn Royal Mail uns dazu zwingen will, legen wir die Arbeit nieder», sagten die Beschäftigten.

Die «Sun» hatte 1989 die Katastrophe von Hillsborough auf die ihr eigene Weise analysiert. Am 15. April 1989 war es im Hillsborough-Stadium von Sheffield bei einem Pokalhalbfinale zwischen dem Liverpool FC und Nottingham Forest zu einem Desaster gekommen, als die Polizei Liverpooler Fans in umgitterte Tribünenränge trieb. 96 Menschen wurden zu Tode gequetscht. Es war das grösste Massaker in der englischen Fussballgeschichte.

Und was schrieb die «Sun»? Die Liverpooler Fans seien zum Grossteil betrunken gewesen, hätten die Arbeit der Rettungskräfte behindert und es sei auch vorgekommen, dass dieser «Abschaum» auf Leichen urinierte. Alles Lügen, wie spätere Untersuchungen ergaben. In ganz Merseyside, der Region um Liverpool, reagierten die kollektiv trauernden Menschen erst entsetzt, dann wütend. «Don't buy the ‹Sun›» lautete die Parole, die schnell um sich griff.

Und seither, seit über 25 Jahren, hält sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung daran. Noch immer gibt es nur wenige Newsagents, die die rassistische und sexistische Postille im Sortiment führen, und falls doch (wie der Kiosk im Hauptbahnhof Lime Street Station), dann nur wenige Exemplare. Der Boykott funktioniert immer noch.

Und nun also sollte die «Sun» gratis verteilt werden. Nicht in Liverpool selber, wie der Verlag verlauten liess (man habe die Postleitzahlen der Stadt schon vorher aus dem Verteilprogramm genommen, sagte ein Konzernsprecher), aber im Rest von Merseyside. Dort jedoch erinnern sich ebenfalls Menschen an die «Sun»-Berichterstattung vor 25 Jahren. Allein aus Skelmersdale waren sechs PostarbeiterInnen in Hillsborough dabei und hatten die Katastrophe miterlebt.

Die kollektive Streikandrohung der Beschäftigten von Skelmersdale wirkte, Royal Mail gab nach. Das lokale Postamt verzichtete nach Verhandlungen mit der Gewerkschaft Communication Workers' Union auf den Auftrag. Und der Protest blieb nicht auf Skelmersdale beschränkt. Am Tag vor der geplanten Auslieferung der Spezialnummer votierten um die hundert «Posties» von St. Helens, der zweitgrössten Stadt von Merseyside, einstimmig für eine Arbeitsniederlegung, sollten sie zur Auslieferung gezwungen werden. Postbelegschaften von Runcorn, Ellesmere Port und Neston drohten ebenfalls Aktionen an.

Erst vor kurzem war es einer Initiative von Angehörigen und FreundInnen der 96 Toten nach langem Kampf gelungen, eine offizielle Untersuchung der damaligen Vorgänge durchzusetzen. Lange Zeit hatte die für die Katastrophe verantwortliche Polizeidirektion von South Yorkshire jede Schuld von sich gewesen. Kürzlich jedoch entschuldigte sie sich für ihre Fehler. Und auch die «Sun» entschuldigte sich öffentlich für ihre damalige Berichterstattung.

Doch in Merseyside vergessen die Menschen nicht so schnell – und offenbar anderswo auch nicht. Denn nicht nur in Liverpool, überall im Land klebten Menschen Zettel an ihre Wohnungs- oder Haustür, die an die PostlerInnen adressiert waren. «Justice for the 96!» stand auf ihnen, oder: «Remember the 96» (eine Auswahl dieser Zettel sind auf der Webseite der Tageszeitung «Liverpool Echo» zu sehen – auf «View Gallery» gehen und durchklicken). Es gibt also selbst in unserer schnellen, eher geschichtslosen Zeit ein kollektives Gedächtnis. (pw)