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Britannien: Das Ende von New Labour
Die Hoffnung steht links
20. Juni 2017 | Die Labour Partei von Jeremy Corbyn schaffte, was niemand für möglich hielt: Die Tories verloren ihre Mehrheit. Ein Beispiel für Linke anderswo?
Mitte Mai, drei Wochen vor der britischen Unterhauswahl, verschickte die Vereinigung der ehemaligen Bergarbeiter von Durham folgende Pressemitteilung: «Wir sind stolz, dass wir Jeremy Corbyn als Hauptredner für die diesjährige Durham Miners' Gala gewinnen konnten», schrieb Alan Cummings. Corbyn sei dort schon häufig auftreten – als Hinterbänkler, als Kandidat um den Labourvorsitz, als Vorsitzender. «Jetzt hoffen wir, dass er als Premierminister kommt.»
Die Gala im Nordosten Englands ist das mit Abstand wichtigste Fest der britischen Arbeiterbewegung. Jedes Jahr strömen Anfang Juli 100.000 bis 150.000 GewerkschafterInnen in die frühere Zechenregion von Durham, um den gewerkschaftlichen Kampf zu zelebrieren, die Solidarität zu feiern und klassenkämpferische Reden zu hören. Dieses Jahr, am 8. Juli, sprechen neben Corbyn der Filmregisseur Ken Loach, dessen wunderbar sozialkritischer Film «Ich, Daniel Blake» 2016 die Goldene Palme von Cannes gewann. Und Len McCluskey, der gerade wiedergewählte linke Generalsekretär von Unite, die mit 1,4 Millionen Mitgliedern stärkste Gewerkschaft im Land.
Corbyn habe das «beste Labourprogramm seit Generationen vorgelegt», begründete Cummings die Einladung. In der Tat: Seit Clement Attlee Ende der 1940er Jahre das Nationale Gesundheitswesen NHS einführte und die Eisenbahnen, die Kohleindustrie, die Stromwerke sowie die Bank of England verstaatlichte, stand noch nie ein Labourchef den Gewerkschaften so nahe. Beim grossen Bergarbeiterstreik 1984–85 gegen Margaret Thatchers Zechenstilllegungs- und Privatisierungspläne war Corbyn unter den Streikposten zu finden. Er unterstützte die Liverpooler Docker bei deren langem Kampf (1995–1997) gegen die Rückkehr des Tagelohns in den Häfen. Kein anderer Politiker nahm in den letzten Jahrzehnten so oft an Friedensdemonstrationen teil, an Kundgebungen gegen den Sozialabbau oder an Solidaritätsveranstaltungen für Flüchtlinge.
BBC mit Schlagseite
Zum Premierminister hat es dieses Mal zwar nicht gereicht. Aber die breite Bewegung, die er und sein Team während des Wahlkampfs entfachten, hat die politische Landschaft umgekrempelt. Noch sechs Wochen vor der Wahl am 8. Juni schien alles klar zu sein: Labour lag in den Umfragen beachtliche 20 bis 25 Prozent hinter den Tories; Corbyn war innerhalb der Labour-Fraktion äusserst umstritten; die Partei sei zerrissen, führungslos und desorientiert, meldeten nicht nur der feindselige Mainstream.
Und so gab niemand Corbyn eine Chance. Doch es kam anders. Ausschlagend waren eine Reihe von Faktoren. Zum einen beschloss Corbyns kleines Wahlkampfteam – darunter der frühere «Guardian»-Redakteur Seamus Milne und der erfahrene Kampagnenorganisator, Antikriegsaktivist und McCluskeys Büroleiter, Andrew Murray – ganz auf die Basis zu setzen. Nur so, das war ihr Kalkül, könnten sie den Einfluss der Medien neutralisieren.
Rund vier Fünftel der grossen Zeitungen des Landes standen eindeutig auf Mays Seite – der «Telegraph», die «Daily Mail», der «Daily Express», «Daily Star», die jeweiligen Sonntagsausgaben, die Blätter des Medienmoguls Rupert Murdoch («Sun», «Times», «Sunday Times») sowieso, auch die BBC berichtete mit rechter Schlagseite. Also organisierten sie zahllose öffentliche Auftritte. Während die reichlich kommunikationsunfähige Premierministerin May ab und zu vor ausgesuchten ClaqueurInnen Statements vom Blatt ablas, strömten Tausende zu Corbyns öffentlichen Auftritten – wo sie einen Labourchef erlebten, der was zu sagen hatte.
Investitionen in die Gesellschaft
Nicht der Brexit und die nationale Frage stand im Vordergrund seiner Reden, sondern die soziale Lage im Land, dessen Lohnabhängige heute weniger verdienen als vor Beginn der Finanzmarktkrise 2008, dessen Arme und sozial Bedürftige eine Kürzungsrunde nach der anderen hinnehmen mussten, aus ihren Wohnungen vertrieben wurden und in Zero-Hour-Arbeitsverträge gezwungen wurden. Rund zwei Millionen dieser Verträge gibt es mittlerweile, die den Beschäftigten Arbeit auf Abruf (also die ständige Verfügbarkeit) auferlegen, ihnen aber keine Mindestarbeitszeit (und damit ein Auskommen) garantieren.
Und so entwickelten Corbyn (der seit 1983 im Unterhaus sitzt) und seine wenigen MitstreiterInnen ein klar linkssozialdemokratisches Programm. Es verspricht
● viele Sozialkürzungen der Konservativen (u.a. für Behinderte) rückgängig zu machen,
● die Zero-Hour-Verträge zu verbieten
● die Deckelung der Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst aufzuheben (seit Jahren bekommen die staatlich beschäftigten ArbeiterInnen und Angestellten jährlich maximal ein Prozent mehr – und das bei einer deutlich höheren Inflationsrate),
● den gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 7,50 Pfund/Stunde sofort auf 10 Pfund anzuheben,
● ein massives Investitions- und Sozialwohnungsbauprogramm aufzulegen (vor allem im Südosten Britanniens, insbesondere in der Region London, können sich Normalverdienende kaum noch eine Unterkunft leisten),
● die Bahn, die Post, die Trinkwasserversorgung und den Energiesektor wieder zu verstaatlichen,
● mehr Geld in das staatliche Gesundheitssystem NHS zu investieren und alle Privatisierungen (die von den Konservativen, aber auch von Tony Blairs und Gordon Browns New-Labour-Regierungen vorangetrieben wurden) sofort zu stoppen,
● Thatchers Antigewerkschaftsgesetze, die auch von Blair und Brown nicht revidiert wurden (Streiks dürfen in Britannien nur nach einem langen, höchst bürokratischen Verfahren ausgerufen werden), zu revidieren,
● wieder kostenloses Schulessen,
● und die exorbitant hohen Studiengebühren, die Studierende massiv verschulden, abzuschaffen.
So ein Programm hat seit Attlee niemand mehr vorgelegt; der Aufruhr war enorm. Völlig unbezahlbar, heulte der Mainstream. Doch es war solide durchgerechnet, wie über hundert WirtschaftsprofessorInnen in einem offenen Brief erklärten: Denn parallel zu den Sozialmassnahmen wollen Corbyn und sein Schattenschatzkanzler John McDonnell den historisch niedrigen Unternehmenssteuersatz (derzeit 19 Prozent) und den Spitzensteuersatz für Reiche anheben.
«Im Juni die Mai beenden»
Dazu – und das ist der dritte Faktor – kam eine geschickte Nutzung der sozialen Medien: Vor allem die Jungen posteten, was ihre Keativität hergab – siehe zum Beispiel Cassetteboy vs. Theresa May. Mindestens vier Mal am Tag war Corbyn auf Facebook und Twitter präsent. Es entstanden neue Slogans («Make June [der Tag der Abstimmung] the end of May»), die Filme seiner Auftritte wurden zigtausendfach angeklickt, die Stars des vor allem unter den Jugendlichen multiethnischer Herkunft angesagten Grime positionierten sich klar für den Labourlinken. Ken Loach drehte einen vielbeachteten Werbespot. Die Kulturschaffenden stellten sich mit erdrückender Mehrheit auf Corbyns Seite. Und irgendwann wurde aus einem Fussballchoral der Schlachtruf «Oh, Jeremy Corbyn». Je mehr die Leute von und über Corbyn erfahren hätten, «desto mehr mochten ihn», heisst es in einem kleinen BBC-Portrait.
Auch die Bevölkerung in den deindustrialisierten Regionen Britanniens, die angesichts von New Labour ihr Vertrauen in die Bewegung verloren hatten, gewann wieder Zuversicht. Sollte Labour siegen, würde die «Schlacht von Orgreave» neu untersucht, versprachen Corbyn und seine Leute. Vor Orgreave, einer ehemaligen Verkokungsanlage, hatten im Juni 1984 während des Bergarbeiterstreiks 6000 Polizisten Streikposten der Bergarbeitergewerkschaft NUM attackiert; Polizisten waren zu Pferd in die Menge hineingeritten, viele Kumpel wurden krankenhausreif geprügelt. Noch heute steht Orgreave für Staatsterror gegen kämpfende GewerkschafterInnen; Thatchers Regierung hatte damals Krieg gegen die Arbeiterklasse geführt. Nach den Übergriffen wurden nicht etwa die verantwortlichen Polizeichefs angeklagt, sondern die Miners. Und keine Regierung wollte diese Geschichte aufarbeiten.
Siebzig Prozent der Jungen für Corbyn
Das Ergebnis dieses furiosen Wahlkampfs, an dem auch kämpferische Gewerkschaften wie Unite, die Fire Brigades Union FBU, die Public Services Union PCS, die Krankenhausbeschäftigten von Unison, die Mitglieder der Transportarbeitergewerkschaft RMT oder die von ehemaligen Bergarbeitern betriebene Facebookseite «Anniversary of the Miners' Strike» einen gehörigen Anteil hatten, ist bekannt. Seit Attlees überraschendem Wahlsieg 1945 hat Labour nie so viele Stimmen hinzugewonnen.Vor zwei Jahren kam die Partei unter Ed Miliband auf 30,4 Prozent, jetzt gewann sie 40 Prozent. Über zwei Drittel der 18- bis 25-Jährigen votierten für Corbyn; 2015 hatten 48 Prozent dieser Altersgruppe für Labour gestimmt. Theresa Mays Konservative verloren hingegen ihre Unterhausmehrheit.
Die Bedeutung dieses Ergebnisses kann kaum überschätzt werden (zumal es im Schatten von zwei islamistischen Anschlägen in Manchester und London zustande kam): Erstens beendete es die von New Labours BlairistInnen stets wiederholte Mär, dass in Britannien nur eine an der rechten Mitte orientierte Politik an der Wahlurne bestehen kann. Zweitens zeigte es aller Welt, dass eine klar formulierte, kohärente Alternative zum neoliberalen Mainstream möglich ist und Menschen anspricht, die sich scheinbar von der Politik abgewandt hatten. Drittens zeigte sich, dass eine optimistische Vision («die Hoffnung steht links», hatte Corbyns Mentor Tony Benn stets gesagt) junge Bevölkerungsgruppen begeistern kann. Und viertens schafften Corbyn und McDonnell, was undenkbar schien: Sie holten rund zwanzig Prozent jener von den Eliten frustrierten 3,8 Millionen WählerInnen zurück, die 2015 für die fremden- und europafeindliche UKIP-Partei gestimmt hatten. Und so stellt sich die Frage, ob Corbyns Strategie der notleidenden europäischen Sozialdemokratie und den mit ihr verbundenen Gewerkschaften als Beispiel dienen könnte. Antwort: Im Prinzip ja. Aber nur, wenn sie nicht bloss da und dort ein paar Reförmchen verlangen oder in Aussicht stellen, ein wenig an Hartz IV herumschrauben – und gleichzeitig die Agenda 2010 für grundsätzlich richtig halten und weitere Privatisierungen vorantreiben.
Und wenn sie über jemanden verfügen, der die Geradlinigkeit, Bescheidenheit und Offenheit eines Jeremy Corbyn hat. Der sass dreissig Jahre im Unterhaus auf einer harten Hinterbank, hat in dieser Zeit rund 500 Mal gegen die eigene Fraktions- und Parteiführung gestimmt (beispielsweise 2003 bei der britischen Beteiligung am Irakkrieg) und blieb stets seinen Prinzipien treu. Ähnlich wie dem linkssozialdemokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders haben auch Corbyn vor allem die Jungen abgenommen, dass er nicht einfach nur linke Töne klopft und von «mehr sozialer Gerechtigkeit» spricht, um Karriere zu machen.
Das war auch deswegen glaubhaft, weil sich Corbyn (wie Sanders) nicht allein auf das Thema soziale Gerechtigkeit beschränkte. Er sprach vieles an: die beständigen Kürzungen im kulturellen Bereich, den grassierenden Rassismus, die katastrophalen Aufrüstungsbemühungen, die fatale Aussenpolitik, die Not der Flüchtlingen, das grassierende Unrecht, die massive Umweltzerstörung – und setzte all dem die Utopie einer offenen, sozialistischen, menschenwürdigen, abgerüsteten, ökologischen Gesellschaft gegenüber.
Austerität tötet
Dass es Theresa May schafft, eine Minderheitsregierung mit Hilfe der stockkonservativen, nordirisch-protestantischen Democratic Unionist Party zu bilden, ist wahrscheinlich. Aber sicher ist es nicht. Denn knapp eine Woche nach der Wahl fing ein 27 Stockwerke hoher Sozialwohnungsblock im Südwesten Londons Feuer; das Inferno im Grenfell-Tower breitete sich rasant aus und kostete bis zu achtzig Menschen das Leben.
Mit dem Desaster sitzt nicht mehr nur eine schwache und schwankende Theresa May auf der Anklagebank, sondern die gesamte konservative Partei samt dem früheren Premier Cameron und dessen Schatzkanzler George Osborne. Hatten sie nicht die Budgets der Gemeinden um vierzig Prozent gekürzt, Sicherheitsbestimmungen dereguliert, Kontrollgremien privatisiert, den Schutz der Bevölkerung demontiert? Hatte nicht die konservative Bezirksverwaltung von Kensington und Chelsea, einem der reichsten Quartiere des Landes, zahllose Sicherheitsbedenken der BewohnerInnen des Grenfell-Wohnblocks und der Feuerwehr ignoriert, bei der kürzlichen Renovierung auf Sprinkleranlagen verzichtet und eine Aussenverkleidung aus billigem, entflammbarem Material ausgewählt? Hatte nicht der frühere Londoner Oberbürgermeister Boris Johnson (wieder fürs Amt des Aussenministers vorgesehen) gegen den heftigen Protest der FBU über 500 Stellen bei der Londoner Feuerwehr gestrichen und mehrere Feuerwachen stillgelegt. Und waren es nicht die vielen ImmobilienbesitzerInnen in der Tory Party gewesen, die wegen der angeblichen Überregulierung der EU (beispielsweise bei den Sicherheitsbestimmungen) für den Brexit getrommelt hatten?
Die Rufe «Austerität tötet» und «Wir wollen Gerechtigkeit», die derzeit auf Londons Strassen zu hören sind, werden so schnell nicht verhallen. Und viele werden es auch nicht vergessen, wie Corbyn auf das Desaster reagierte (er war sofort vor Ort, umarmte die Angehörigen und versprach, dass so was nie wieder geschehen dürfe) – und was May zustande brachte: Sie lehnte zunächst ein Treffen mit den Betroffenen ab, liess sich nur mal kurz im Kreise weniger Feuerwehrkommandanten ablichten und brauchte Tage, bis sie Hilfe zusagte.
Da bei Rücktritten oder einem Ableben von Abgeordneten in deren Wahlkreisen Nachwahlen stattfinden, die das knappe Mehrheitsverhältnis im Unterhaus ändern können, ist nicht ausgeschlossen, dass Corbyn doch noch als Premierminister auf einer Durham Miners' Gala auftreten kann. Wenn nicht in diesem Jahr, dann vielleicht im nächsten. Er wäre dann endgültig angekommen. Seine Laufbahn hat der oft belächelte und vielfach geschmähte Politiker übrigens schon im Alter von 22 Jahren begonnen: als Sekretär einer TextilarbeiterInnengewerkschaft.
PS: Es gibt zahlreiche weitere alte Videos mit Corbyn, die inzwischen auf Youtube zu sehen sind, darunter Corbyns Disput mit Margaret Thatcher im Unterhaus (1990). Oder 1988 als Wahlkampfmanager von Tony Benn. (pw)