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Britannien: Brexit und die Gewerkschaften

Die Geschundenen des Marktes

10. September 2016 | Noch ist nicht klar, ob und wie die neue britische Regierung das Brexit-Votum vom Juni umsetzt. Sicher scheint nur: Für die Gewerkschaften wird es nicht einfacher.

Für Eddie Roberts ist die Sache relativ einfach. Die Brexit-Abstimmung, sagt der Rentner, sei ein «Erfolg der Linken» gewesen, endlich habe die Neoliberalisierungsmaschine EU die verdiente Quittung für ihre Privatisierungs- und Deregulierungspolitik erhalten, und das sei «gut für die Arbeiterklasse». Man müsse doch nur anschauen, wie die EU die griechische Regierung in die Knie gezwungen habe; das jedenfalls könne künftig in Britannien nicht passieren.

Roberts ist trotz seiner über siebzig Jahre eine wichtige Figur in der Arbeiterbewegung von Merseyside, der Region um Liverpool. Er war bereits mit dreissig Betriebsratsvorsitzender des einst riesigen Ford-Werks im Süden der Stadt, diente dann als Hauptamtlicher seiner Gewerkschaft Transport & General Workers Union TGWU (heute Unite the Union), war später über lange Zeit hinweg leitender Sekretär der TGWU von Liverpool, der mit Abstand wichtigsten Gewerkschaft in der Hafenstadt, und ist heute noch in zahlreichen Initiativen aktiv. Roberts kann sich noch gut an die sechziger und siebziger Jahre erinnern, als die Liverpooler FordarbeiterInnen zur militanten, stets streikbereiten Avantgarde der britischen Arbeiterbewegung zählten – und an die achtziger Jahre, als Margaret Thatcher mit ihrer rigiden Deindustrialisierungspolitik und ihrer einschneidenden Gesetzgebung die Organisationen der Lohnabhängigen an die Kette legte. «Viel schlimmer», sagt Roberts, «kann es heute auch nicht kommen».

Etwas anders sieht das Len McCluskey, der als TGWU-Sekretär in Liverpool für die Hafenangestellten zuständig war und über Jahre hinweg Roberts untergeordnet war. Heute ist McCluskey Generalsekretär von Unite, die aus der TGWU hervorgegangen war und mit 1,4 Millionen Mitgliedern die grösste britische Gewerkschaft ist. Vor dem Brexit-Votum im Juni hatte er mit Verve für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU geworben. «Natürlich stehen die Lohnabhängigen seit Jahrzehnten unter Druck», betonte der immer wieder, «aber nicht wegen der Migration, die hat es immer gegeben». Sondern aufgrund der «Attacken der Bosse und ihrer Politiker». Und einer ungezügelten Globalisierung, die besonders von den britischen Regierungen vorangetrieben worden sei. Ausserdem dürfe man nicht vergessen, dass das Brexit-Referendum – anders als die Volksabstimmung über die EG-Mitgliedschaft 1975 – kein linkes Projekt sei, sondern ein interner Machtkampf der konservativen Tories: «Wenn wir aus der EU austreten, haben wir noch lange kein sozialistisches Britannien, dann bekommen wir bloss eine noch reaktionärere Regierung.»

Und heute? Heute sieht Len McCluskey seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Das Ergebnis sei ein Desaster, sagt er. «Statt gemeinsam und solidarisch mit den Beschäftigten anderer europäischer Länder für ein sozialeres Europa zu kämpfen, stehen wir jetzt alleine da.» (Siehe dazu auch den Nachtrag unten.)

Unterschiedliche Positionen

So gespalten wie die alten Freunde Roberts und McCluskey war vor der Abstimmung die gesamte Gewerkschaftsbewegung – und uneins ist sie noch heute. Vor dem Brexit hatten sich etliche Organisationen für ein Verlassen der EU stark gemacht – die kampfkräftige und konfliktbereite Bahn- und Seeleutegewerkschaft RMT zum Beispiel, die den undemokratischen Charakter der EU betonte («Brüssel führt mit der Bahnliberalisierung einen Klassenkampf von oben»).

Auf der anderen Seite stand hingegen eine überwältigende Mehrheit der Organisationen: Unite zum Beispiel, die Dienstleistungsgewerkschaft Unison (1,3 Millionen Mitglieder), die GMB (600.000 Millionen Mitglieder), der Gewerkschaftsdachverband TUC mit seinen 51 Mitgliedsorganisationen. Vor allem die TUC-Generalsekretärin Frances O'Grady wies immer wieder darauf hin, dass es – bei aller Kritik an ihrer marktradikalen Ausrichtung – die EU gewesen sei, die in den Thatcher-Jahren das Prinzip gleicher Lohn für vergleichbare Arbeit durchgesetzt habe. Und dass bei einem Brexit die Rechte von Frauen oder etwa Behinderten gefährdet seien – ganz zu schweigen von den Folgen für soziale Einrichtungen wie dem nationalen Gesundheitsdienst NHS.

Die Ablehnung der Eliten

Wie aber konnte es kommen, dass trotz der vielen Aufrufe prominenter GewerkschafterInnen wie McCluskey oder O'Grady eine Mehrheit der britischen ArbeiterInnen (und Arbeitslosen) für den Brexit stimmte? Nicht in Liverpool zwar, auch nicht in Manchester, Leeds oder London, nicht in Schottland und Nordirland – aber überall sonst. Hören die rund sechs Millionen Mitglieder nicht mehr auf das, was die Gewerkschaftsspitzen sagen? Und welche Position die von den Gewerkschaften gegründete frühere ArbeiterInnenpartei Labour vertritt? Immerhin hatte sich der in einer Urwahl vor einem Jahr zum Labour-Vorsitzenden gewählte Linke Jeremy Corbyn – bei aller Kritik an der EU-Politik – für einen Verbleib in der EU ausgesprochen.

Die Antwort ist nicht einfach. Denn im Brexit-Entscheid bündelte sich vieles, Rationales wie Emotionales. Die tief sitzende Frustration über die politischen Eliten (auch denen von «New Labour») zum Beispiel, die die Folgen der Finanzmarktkrise allein den Lohnabhängen aufbürdeten: Von 2008 bis 2014 schrumpfte der Durchschnittslohn um acht Prozent, Hunderttausende Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst wurden gestrichen, zahllose Beschäftigte verloren ihre Stelle. Die Finanzindustrie hingegen blieb ungeschoren. Oder die Empörung über den Sozialabbau und die Kürzungsmassnahmen, die bereits unter New Labour begannen, in der Zeit der konservativ-liberalen Regierung (2010 bis 2015) aber deutlich zunahmen und nach dem Tory-Wahlsieg 2015 intensiviert wurden. Dazu die Angst um die Zukunft und die Zunahme von sogenannten Zero-Hour-Jobs: Fast zwei Millionen Lohnabhängige sind derzeit – auch auf Druck teilprivatisierter Arbeitsagenturen – gezwungen, Lohnverträge zu akzeptieren, die ihnen weder feste Arbeitszeiten noch eine Mindestsumme an Arbeitsstunden garantieren. Wenn sie gebraucht werden, arbeiten sie dreissig Stunden in der Woche oder mehr; wenn nicht, gibt es null Stunden und null Lohn. Dazu die schleichende Privatisierung und finanzielle Ausblutung des NHS (die Warteschlangen selbst für Notfälle werden immer länger), die grassierende Wohnungsnot in den urbanen Ballungsgebieten, die exorbitanten Fahrpreise des privatisierten «öffentlichen» Verkehr. Und schliesslich das fulminante Desinteresse der PolitikerInnen an den sozialen Zuständen im Land.

Alle Untersuchungen seit dem Brexit-Entscheid deuten darauf hin, dass dieser Volksentscheid in einem Land, in dem Referenden höchst selten abgehalten werden, vielen Marginalisierten und Benachteiligten einfach die Möglichkeit bot, «denen da oben» einfach mal zu zeigen, dass man nicht einverstanden ist. Nicht mit dem «freien Markt», die in Britannien noch stärker als anderswo in Europa propagiert und umgesetzt wird. Nicht mit der Elite, die die Interessen der City of London (dem Finanzzentrum) über das Gemeinwohl stellt. Und ja, auch nicht mit der Personenfreizügigkeit, an der – so betonten die Londoner Regierungen und ganz besonders die Brexit-BefürworterInnen immer wieder – allein Brüssel schuld sei.

Der Niedergang ganzer Regionen

Natürlich gab es in der britischen Arbeiterklasse stets den Reflex, KonkurrentInnen auf dem Arbeitsmarkt abzulehnen. Das war im vorletzten Jahrhundert so, als Hungernde und Arbeitssuchende aus der damaligen Kolonie Irland nach Britannien strömten. Das war in den 1950er und 1960er Jahren der Fall, als der NHS und London Transport billige Arbeitskräfte in der Karibik und Westafrika rekrutierten. Und in den 1970er Jahren – damals kamen zahlreiche MigrantInnen aus dem asiatischen Raum (ebenfalls aus ehemaligen Kolonien) – schwadronierten manche Politiker gar von den «Strömen an Blut», die fliessen würden, wenn die Migration nicht sofort gestoppt würde. Sie wurde nicht gestoppt. Zum einen, weil das Kapital ein Interesse an den Arbeitskräften hatte. Zum anderen aber, weil die Gewerkschaften eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und -entgelte durchsetzen konnten. Und weil sie eine – gemeinsam mit der Labour Partei – eine soziale Kraft darstellten, an der Basis aktiv waren und beständig aufklärten.

Heute ist das anders. In den früheren Kohlerevieren von Durham, South Yorkshire oder Südwales zum Beispiel (alles ländliche Gebiete) gab einst die Bergarbeitergewerkschaft NUM den Ton an: Sie sorgte für akzeptable Arbeitsbedingungen, organisierte Bildungskurse, baute Büchereien auf, betrieb soziale Einrichtungen – die Gebäude der «Miners' Institutes», wie sie in Südwales hiessen, waren oft grösser als die lokalen Kirchen. Es gab regelmässige Zusammenkünfte, man verabredete im Pub Solidaritätsaktionen, erfuhr über gesellschaftliche Zusammenhänge. Seit dem Kahlschlag, den die Tories nach dem Bergarbeiterstreik 1948/85 durchsetzten, gibt es in den südwalischen Bergbautälern nichts mehr. Keine Fördertürme. Keine Gewerkschaft. Keinen Zusammenhalt. Keine politische Bildung. Niemanden, der erklärt, weshalb was warum passiert.

Bloss Sorgen gibt es genügend. Was, zum Beispiel, wird aus Port Talbot, einem der letzten Stahlwerke Britanniens. 4000 Beschäftigte arbeiten hier noch. Der Eigentümer, Tata Steels, hat im Mai den Verkauf, möglicherweise die Schliessung angekündigt. Betroffen wären (Zulieferdienste eingerechnet) über 30.000 Arbeitsplätze in Südwales – und das, weil die Regierung in London einen EU-Plan zur Erhebung von Sonderzöllen für chinesischen Billigstahl angelehnt hatte.

Hoffnungslosigkeit

Alle hätten unterschätzt, was sich da zusammenbraut, sagt beispielsweise der Industriesoziologe Huw Beynon, einer der profundesten Kenner der ehemaligen Bergbauregionen. «Das Elend ist allgegenwärtig: Frauen, die sich aus schierer Not prostituieren, Jugendliche, die in die Arbeitslosigkeit hineinwachsen, in Resignation versunkene Erwachsene, niemand hat eine Perspektive.» Die wenigen Initiativen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, oft gefördert von der EU, hätten bestenfalls ein paar Billiglohnjobs gebracht. Diese Menschen hätten dem Aufruf von David Cameron folgen sollen – ausgerechnet jenem (früheren) Premierminister, der den katastrophalsten Sozial-Kahlschlag seit dem Zweiten Weltkrieg anordnete? Der eine weitere Verschärfung des Anti-Gewerkschaftsgesetzes auf den Weg brachte – mit grossem Spielraum für Streikbrecher und Polizei sowie einer neuen Behörde, die künftig Gewerkschaften und ihre Aktivitäten überwachen darf? Und der im Einklang mit dem Unternehmerverband CBI zwar vor den ökonomischen Folgen eines Brexits warnte, sich aber in Verhandlungen mit den anderen EU-Regierungen lediglich für weitere Sozialkürzungen (für osteuropäische MigrantInnen) und Ausnahmen zugunsten des Finanzkapitals in der Londoner City einsetzte?

Für sie, die Geschundenen des Markts, hat sich dieser Cameron nie interessiert. Also stimmten sie ab wie viele deklassierten Lohnabhängige in anderen Staaten Europas, die (wie auch die verunsicherte Mittelschicht) den Front national wählen, die FPÖ, die niederländische «Partei für die Freiheit» oder die AfD. Nicht unbedingt aus voller Überzeugung. Dazu waren die Heilsversprechen des rechten Brexit-Lagers um den früheren Londoner Bürgermeister (und jetzigen Aussenminister) Boris Johnson, die United Kingdom Independent Party (UKIP) und eines Grossteils der Printmedien dann doch zu krude. Sondern aus Protest.

«Die gewerkschaftliche Linke ist dabei, ihre alte Basis zu verlieren», fürchtet Huw Beynon – «wenn sie sie nicht schon verloren hat». Inzwischen würden sich evangelikale Sekten in den Tälern breit machen. Und UKIP, vor ein paar Jahren noch unvorstellbar, sei schnell zu einer politischen Grösse herangewachsen, die nicht mehr ignoriert werden könne. Sind also aus den früheren Mitgliedern der linken NUM von South Wales Rassisten geworden? Nein, antwortet Beynon. «Aber sie sind orientierungslos geworden.»

Mitsprache unerwünscht

Seit die neue Regierung steht, hat TUC-Generalsekretärin Frances O'Grady – wie auch der Unternehmerverband CBI – die Regierung mehrfach aufgefordert, in den Verhandlungen zur Umsetzung des Brexits einbezogen zu werden. Der Dachverband befürchtet, dass die Rechte der Lohnabhängigen im Zuge der kommenden Entwicklungen weiter beschnitten werden – und die Gewerkschaften noch mehr an Einfluss verlieren. Denn heute sind im Privatsektor nur noch 14 Prozent der Beschäftigten organisiert. Auch im öffentlichen Dienst (Organisationsgrad: knapp 55 Prozent) sinkt die Zahl der Mitglieder.

Noch ist nicht absehbar, ob und wann das Brexit-Votum umgesetzt wird. Die neue Kabinett von Premierministerin Theresa May betont zwar immer wieder, dass der Volksentscheid gilt; aber die Probleme sind enorm. Den Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten und gleichzeitig die Persoenfreizügigkeit ausser Kraft setzen – das der Regierung kaum gelingen. Zudem ist die Regierung, wie von Unite-Chef McCluskey prognostiziert, von ihrer Zusammensetzung her noch konservativ-reaktionärer ist als das vorherige Kabinett. In ihr sitzen nun ausgesprochene Hardliner. Und so hat May bisher nicht auf die TUC-Forderung regiert, an den Gesprächen beteiligt zu werden. Sie wird es wohl auch nicht tun.

PS: Nachtrag

Mit der Bemerkung, dass die britischen Gewerkschaften jetzt alleine dastünden, denkt McCluskey zu sehr in administrativen Strukturen – indem er sich vor allem auf die EU-Gruppe innerhalb des Europäischen Gewerkschaftsbunds in Brüssel bezieht, in dem die britischen Trade Unions nach dem Brexit wahrscheinlich weniger Gewicht haben werden. Dabei übersieht er, dass es immer wieder Ansätze hin zu einer internationalen Solidarität jenseits der EU gibt – und auch gab: Etwa den gemeinsamen Streik von Dunlop-ArbeiterInnen in Merseyside und ihren KollegInnen in den italienischen Pirelli-Werken 1972. Die Versuche der Liverpooler FordarbeiterInnen Ende der siebziger Jahre, auf Basisebene mit den Vertrauensleuten der Fordfabriken in Köln und Gent zusammenzuarbeiten. Oder die globale Solidarität mit den Liverpooler Dockern, die von 1995 bis 1998 gegen die Wiedereinführung des Tagelohns kämpften. Der Dunlop-Pirelli-Streik (vor Britanniens EU-Beitritt) gilt als einer der ersten internationalen Streiks überhaupt. Die Ford-Kooperation auf Werksebene scheiterte u.a an der IG Metall, die eine Zusammenarbeit nur auf Funktionärsebene akzeptieren wollte (wie mir damals die Liverpooler Ford-Shop-Stewards erzählten). Und die globale Hafenarbeitersolidarität zugunsten der Liverpooler (sie reichte von der US-amerikanischen Westküste bis nach Australien) war die – meiner Kenntnis nach – breiteste internationale Solidaritätsbewegung der letzten Jahrzehnte.

Angesichts der vorschnellen Befürchtungen vor nationalen Alleingängen auch der Gewerkschaften sollte man fragen: Was hindert die Beschäftigten und GewerkschafterInnen daran, auch nach dem Brexit weiterhin solidarisch mit Gewerkschaftskollegen in anderen Ländern gemeinsam zu kämpfen? Sicherlich nicht die Frage, ob der Arbeitsplatz in der EU liegt oder nicht. Zunächst einmal wurden und werden die meisten gewerkschaftlichen Kämpfe sowieso noch auf nationaler Ebene geführt. Hindert etwas unsere norwegischen KollegInnen, sich einem europäischen Protest anzuschliessen? Dass international organisiert werden kann, zeigt etwa die Seeleutegewerkschaft Nautilus International deren Mitglieder in Britannien, den Niederlanden und der Schweiz beschäftigt sind (siehe dazu https://www.nautilusint.org/en/).

Es gibt also durchaus Handlungsspielraum über die nationalen Denk- und Aktionsmuster hinaus. Das weiss auch Len McCluskey – schliesslich steht er einer Gewerkschaft vor, die sowohl in Britannien als auch in Irland organisiert. Und das heisst demnächst: In einem Nicht-EU-Staat wie in einem EU-Staat eine vergleichsweise fortschrittliche Politik verfolgt. (pw)