↑ home
zur Übersicht ↑ Britannien
Britannien: Der Widerstand gegen das Sparprogramm
Eine Krabbelstube in der Bankfiliale
3. November 2011 | Was unternimmt man gegen eine Regierung, die partout den Sozialstaat gegen die Wand klatschen will? Man lässt sich was Neues einfallen. Und vergisst die Vergangenheit nicht.
Im Grunde genommen war das Ganze doch eher ernüchternd. Da kamen sie aus dem ganzen Land herbeigeströmt, hatten in Birmingham, Sheffield und Leeds Busse gemietet, waren in Bristol, Brighton und Luton in Züge gestiegen, um denen im Londoner Regierungsviertel mal richtig die Meinung zu sagen – und dann interessierte sich niemand für ihre Kritik. Die Regierung nicht, die Unterhausabgeordneten nicht, denen sie ja eigentlich ihr Anliegen hatten vortragen wollen, und auch die Medien nicht. Dabei hätte sich ein genaues Hinhören durchaus gelohnt. «Was denken die eigentlich, wo wir uns herumtreiben, wenn sie unsere Jugendzentren zumachen», fragte da beispielsweise Chandel Neadham aus Wolverhampton. «Sollen wir etwa zu Hause herumhocken?» Noch bitterer und ein klein bisschen drohend klang auch das, was Deyontae James zu sagen hatte: «Die sparen doch bloss bei uns, weil sie glauben, dass wir uns nicht wehren können.»
Fast alle der über tausend Jugendlichen, die sich da in der Londoner Methodist Central Hall versammelt hatten (die meisten waren unter achtzehn Jahre alt), zeigten sich ähnlich frustriert. Sie berichteten, dass in manchen Grafschaften wie etwa Oxfordshire inzwischen die Jugendarbeit gänzlich eingestellt wurde, dass dort aufgrund der drastischen Sparmassnahmen der konservativ-liberalen Regierung alle Jugendzentren schliessen mussten und dass sämtliche JugendarbeiterInnen entlassen wurden. Sie rechneten vor, dass allein mit den Boni, die im Februar den Bankern in der Londoner City ausgezahlt wurden, die Jugendarbeit in England und Wales für 26 Jahren zu finanzieren gewesen wäre. Und sie zitierten aus einer Studie der Gewerkschaft Unite, derzufolge bis Ende Jahr rund der Hälfte der insgesamt 7000 JugendarbeiterInnen in England und Wales gekündigt werden soll. Verheerende Aussichten, wenn man die Riots im August und die desolaten Verhältnisse in den Armenvierteln der Grossstädte bedenkt – aber kaum jemand scherte sich drum: Nur der BBC war das Treffen der Kids eine Meldung wert.
Ähnlich erging es den dreihundert EisenbahnerInnen, die am selben Morgen ebenfalls in der Methodist Hall von Westminster ihre Banner entrollten. Auch sie hatten eine Kundgebung organisiert – gegen die Rationalisierungspläne der Regierung, die den privatisierten Bahngesellschaften einen weiteren Stellenabbau und erhebliche Lohnkürzungen erlauben will. Über ihren Protest berichtete nicht einmal die BBC. Dabei waren die BahngewerkschafterInnen sogar vors Parlament gezogen.
Woher kommt das Desinteresse der Öffentlichkeit? Dass die überwiegend konservativen Medien des Landes die beiden Anlässe nicht vermelden würden, war ja zu erwarten gewesen. Aber die anderen? Vielleicht liegt es ja an der schieren Menge der Aktionen. Denn wohin man derzeit auch blickt – ein Teil der Bevölkerung befindet sich in heller Aufruhr: Lokale Kundgebungen in Greenwich, Hull, York, Nottingham oder Cardiff gegen die Schliessung kommunaler Einrichtungen wie Kinderhorts und Büchereien; Demonstrationen in Liverpool und Manchester gegen die den Stadtverwaltungen aufgezwungenen Haushaltskürzungen; überall Versammlungen, Mahnwachen und Sitzstreiks für anständige Renten, zur Verteidigung des staatlichen Gesundheitswesens oder gegen die Schliessung von Einrichtungen für Behinderte.
Der Kreuzzug gegen das Soziale
Selten zuvor sind so viele Menschen in England und Wales bei so vielen Aktionen gegen die Politik ihrer Regierung auf die Strasse gegangen. Im November 2010 rebellierten 50.000 SchülerInnen und Studierende gegen die Verdreifachung der Studiengebühren auf umgerechnet 9000 Pfund pro Studienjahr (mehrere Tausend demolierten dabei das Hauptquartier der Konservativen Partei). Im März 2011 demonstrierten 400.000 GewerkschafterInnen in London gegen die Sparmassnahmen des Kabinetts von David Cameron, die – so fürchten ExpertInnen – in den nächsten vier Jahren bis zu 1,3 Millionen Jobs kosten könnten. Ende Juni legten dann rund 700.000 Beschäftigte des öffentlichen Diensts für einen Tag die Arbeit nieder. Und am 30. November wollen bis zu drei Millionen Lohnabhängige im Service public streiken, falls die Regierung nicht noch nachgibt.
Doch die denkt nicht daran, ihren Kreuzzug gegen das, was vom britischen Sozialstaat übrig geblieben ist, einzustellen. Dabei warnen nicht nur britische ÖkonomInnen seit langem vor den Folgen des Sparkurses. Mit einer Staatsverschuldung in Höhe von rund achtzig Prozent der Wirtschaftsleistung stehe Britannien im internationalen Vergleich recht gut da, argumentieren sie, besser noch als Deutschland. Zudem würde das Kürzungsprogramm in Höhe von insgesamt über 95 Milliarden Euro nur eine neue Rezession auslösen, wie vor kurzem hundert renommierte Wirtschaftswissenschaftler in einem offenen Brief an die Regierung schrieben. All das kümmert die achtzehn MillionärInnen im Regierungskabinett jedoch wenig. Denn die aktuelle Staatsschuld, die vor der Finanzmarktkrise und der teuren Bankenrettung nur halb so gross gewesen war, bietet den Marktradikalen eine willkommene Gelegenheit, den britischen Staat völlig umzukrempeln. Und arg erfolglos ist ihr Argument, dass es zur Austeritätspolitik keine Alternative gebe, derzeit ja nicht: Rund die Hälfte der Bevölkerung glaubt, dass der Sparkurs nötig ist. Doch das könnte sich noch ändern.
120 Milliarden Pfund Steuerausfall
«Es war schon traurig, wie schnell die ersten Proteste verpufften», sagt Paul Long, der an der ersten Demonstration der Gewerkschaften teilgenommen hatte. Das war im vergangenen Oktober gewesen, Schatzkanzler George Osborne hatte gerade das Sparpaket im Unterhaus vorgestellt. «Der Abend war kalt», erinnert sich Long, «nur wenige zogen vors Parlament, und dann gingen alle nach Hause». Eine trostlose Sache sei das gewesen, niemand habe Notiz genommen, «und so sind wir auf die Idee gekommen, andere Protestformen auszuprobieren und vor allem das Argument von der Alternativlosigkeit zu widerlegen. Dass unsere Aktionen so einschlagen würden, konnten wir damals nicht ahnen.»
Dem 24-jährigen Long und seinen KollegInnen, die sich wie er bereits an den sogenannten Climate Camps gegen neue Kohlekraftwerke und Flughafenausbauten beteiligt hatten, war zu jener Zeit aufgefallen, dass das britische Steueramt in einem Geheimabkommen dem Mobilfunkkonzern Vodafone 6 Milliarden Pfund (umgerechnet 7,5 Milliarden Euro) Steuern erlassen hatte. Diese Information griffen erfahrene AktivistInnen des zivilen Ungehorsams auf und besetzten kurzerhand die Vodafone-Filiale in der Londoner Oxford Street. «Hier hatten wir den Link zu den Kürzungen», sagt Long. «Mit dem Geld, das die Regierung Vodafone schenkte, hätten unzählige Sozialeinrichtungen auf lange Zeit finanziert werden können.»
Die Botschaft kam an. Kurze Zeit später entstanden im ganzen Land ähnliche Flashmob-Initiativen, die seither – dezentral übers Netz organisiert – unter dem Namen UK Uncut für Furore sorgen. Denn nicht nur Vodafone geriet ins Visier der AktvistInnen. Sie okkupierten auch die Topshop-Modefilialen des Multimilliardärs Philip Green, der seine versteuerbaren Einkünfte nach Monaco transferiert (und den die Regierung zu einem Berater ihrer Kürzungspolitik gemacht hatte). Sie liessen sich in den Läden der Drogeriekette Boots nieder, die 2008 ihren Finanzsitz in den Kanton Zug verlegte. Sie besuchten das Edelkaufhaus Fortnum & Mason, dessen EigentümerInnen ebenfalls Steuern vermeiden, und besetzten Supermärkte des Tesco-Konzerns, der sich aus Steuergründen eine hochkomplexe Firmenstruktur zugelegt hat.
«Mit unserem konfrontativen Ansatz haben wir etwas geschafft, was den Gewerkschaften bisher kaum gelungen ist», sagt Paul Long. «Wir wurden wahrgenommen, weil wir unsere spektakulären Aktionen mit einer einfachen Botschaft verknüpfen, die allen sofort einleuchtet: Stoppt den Steuerschwindel, dann braucht es keine Kürzungen.» Nicht nur die Medien griffen das Thema auf, auch die PassantInnen und die VerkäuferInnen reagierten zustimmend. Dieselbe Antwort auf den Regierungskurs hatte auch die grosse Public-service-Gewerkschaft PCS schon lange verbreitet: Ihren Berechnungen zufolge – die mit vertraulichen Unterlagen des Finanzministeriums übereinstimmen – könnte die britische Staatskasse jährlich rund 120 Milliarden Pfund (umgerechnet 150 Milliarden Euro) mehr einnehmen, wenn die Regierung alle Steuerschlupflöcher stopfen und ausstehenden Steuern auch eingetreiben würde. Doch was bewirken schon ein paar nüchterne Zahlen auf einer Website?
Die Wirkung direkter Aktionen
«Einmal hatten wir 55 Besetzungen an einem einzigen Tag», erzählt Long, «das war fantastisch». Ein Zufall ist die Popularität solcher Aktionen freilich nicht. UK Uncut achtet sehr darauf, dass alles friedlich abläuft, «denn es geht nicht um die direkte Aktion an sich, sondern um das Zeichen, das wir damit setzen. Und wir wollen möglichst viele Menschen mit einbeziehen.» Das klappt auch ganz gut: Reingehen, Flugblätter verteilen, die KundInnen ansprechen, ein T-Shirt mit der Aufschrift «Ich bin ein Steuerschwindler» überziehen und sich ins Schaufenster stellen, während draussen per Megafon der Sinn der Aktion erklärt wird – die meisten UK-Uncut-Ladenaktionen laufen nach diesem Muster ab.
Diese Kombination von radikaler Taktik und radikalen Vorschlägen ist in Britannien nicht neu. Schon die Suffragetten hatten Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur harmlos für das Frauenstimmrecht demonstriert: Sie sprengten Briefkästen, schmissen Fensterscheiben ein, steckten Landsitze der Begüterten in Brand und ketteten sich an (heute kleben sich UK-Uncut-Aktivistinnen mitunter an Schaufenstern fest). Radikal war auch der Widerstand der Frauen von Greenham Common, die in den Achtzigern über Jahre hinweg die Stationierung von US-amerikanischen Mittelstreckenraketen bekämpften und sich immer wieder durch die Zäune des Militärflughafens schnitten. Und in den letzten Jahren war radikale Proteste der UmweltschützerInnen sogar erfolgreich gewesen: Die direkten Aktionen, die von den Climate Camps ausgingen, verhinderten ein neues Kohlekraftwerk und den Ausbau des Flughafens Heathrow.
Auch die Steuerkampagne von UK Uncut blieb nicht ohne Wirkung. Das Thema wird seither diskutiert, selbst in den Ministerien. Und so wandte sich die Initiative dem Finanzsystem zu, «schliesslich hatten die Banken den Crash verursacht, der uns die Sozialeinrichtungen wegnimmt» (Paul Long). Mit der Folge, dass über Monate hinweg auch Bankfilialen Besuch bekamen – von Eltern, die mit ihren Kindern den Schalterraum in eine Krabbelstube verwandelten (weil die Gemeinde den Kinderhort schliessen muss), oder von SchauspielerInnen, die vor den Kassen Shakespeare rezitierten, weil die Kulturförderung ebenfalls eingedampft wird.(pw)
Kreativ waren die UK-Uncut-AktivistInnen nicht nur beim Streik der Staatsangestellten Ende Juni, als sie die Streikposten mit Tee und Sandwiches bewirteten (um ihnen zu zeigen, das sie nicht alleine sind). Kreativ waren sie auch am 9. Oktober. An diesem Tag hatten über 2000 DemonstrantInnen in einer illegalen Aktion die Westminster Bridge besetzt; im Unterhaus wurde gerade über die Privatisierung des Nationalen Gesundheitswesens debattiert, und die Brücke führt direkt vom Parlament zum St. Thomas Spital. Und als die Besetzung vorbei war, trafen sie sich zu einer Versammlung – auf der die Idee eines Occupy-Camps à la New York entstand.
Die Londoner Occupy-Bewegung hat also tiefe Wurzeln und ist auch recht stabil. Die beiden Camps vor St. Paul's (eine Besetzung des Platzes vor der Londoner Börse hatte die Polizei verhindert) und auf dem Finsbury Square (wohin viele BesetzerInnen ausweichen mussten, weil vor der Kathedrale kein Platz mehr war) waren von Anbeginn an Diskussionsforen: Hier debattieren junge Kapitalismuskritikerinnen mit Börsenhändlern, hier treffen altgediente Gewerkschafter wie der fünfzigjährige Busfahrer und Familienvater David MacGinty auf ein Publikum, das sie bisher nicht kannten; und mitunter legen vermögende Bankerinnen auch mal tausend Pfund in die Spendenkasse – «weil sie wahrscheinlich viel besser wissen als wir, dass es so nicht weitergehen kann» (MacGinty).
Das Zeltcamp wirkt aufgeräumt, alle zwei Stunden fegt jemand den Platz, in der Tent-University, dem grössten Zelt, vermitteln ProfessorInnen wie Richard Wilkinson (Autor des höchst lesenswerten Buchs «Gleichheit ist Glück») einem jungen Publikum ihre Erkenntnisse, es gibt ein Erste-Hilfe-Zelt, eine Gratiskantine (die natürlich auch Obdachlose verköstigt), ein Informationszelt für die vielen JournalistInnen, die das Lager rund um die Uhr beobachten und vor allem die zwei Vollversammlungen pro Tag verfolgen. Und dann steht da neben den Recycling-Kübeln auch noch ein Klavier, das irgendwer gespendet hat.
Professioneller kann man ein Ad-hoc-Camp nicht einrichten. Und verstörender könnte der Protest kaum sein: Dass sich die OkkupantInnen Zeit lassen mit ihren Forderungen, dass sie erst einmal ein Zeichen setzen wollen gegen ein Raubtiersystem, das alle verschlingt, und dass sie nun in aller Ruhe von unten her und mit allen, die vorbeikommen, also auch den neugierigen Bankern, Alternativen zu entwickeln versuchen – all das richtet sich nicht nur gegen das System der kapitalistischen Profitmaximierung. Das trifft auch die Linke, die es in den letzten Jahrzehnten nicht geschafft hat, glaubwürdige Konzepte für eine bessere Gesellschaft zu entwickeln. So gesehen ist die britische Occupy-Bewegung ein Versuch. Und wenn es damit nicht klappt, sagt Paul Long, «dann lassen wir uns halt was Neues einfallen.»