Kapital & Arbeit: Widerstand gegen Freihandelsabkommen
Vom Erfolg überrollt
28. Oktober 2014 | Wie entfacht man am besten eine breite Bewegung? Mit Geheimniskrämerei und Beschwichtungen zeigen das derzeit die Regierungen der EU-Staaten und die EU-Kommission auf geradezu vorbildliche Weise.
Es ist verdächtig ruhig geworden um die Freihandelsabkommen TTIP und Ceta. Nicht auf der Strasse – dort agitieren weiterhin Tausende gegen die geplante Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen der EU und den USA und gegen das Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen (Ceta) mit Kanada – aber auf dem politischen Parkett der europäischen Hauptstädte. Glauben die PolitikerInnen, die Empörung aussitzen zu können, die immer mehr BürgerInnen erfasst? Sind sie schlichtweg ratlos? Geben sie klein bei? Oder hecken sie neue Strategien aus, mit denen sie die Protestbewegung zu untergraben hoffen? In Berlin jedenfalls ist Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) guten Muts – hat er doch mit ziemlich grossen Versprechungen die FreihandelskritikerInnen aus den Gewerkschaften und den Reihen der SPD beschwichtigen können.
Die Regierung wolle natürlich alle Einwände berücksichtigen, versicherte Gabriel auf einem SPD-Parteikonvent Ende September: Man werde den umstrittenen Investitionsschutz ablehnen, gentechnisch veränderte Produkte nicht zulassen, die bestehenden Umweltauflagen nicht verwässern, die öffentliche Förderung der Kultur beibehalten und die Rechte der Lohnabhängigen nicht beschneiden. Die anwesenden Delegierten gaben sich damit zufrieden – und das, obwohl genau diese Punkte den Kern der beiden Abkommen TTIP und Ceta ausmachen.
Aber können die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten überhaupt eingreifen? Die geheimen TTIP-Verhandlungen führt auf europäischer Seite allein die EU-Kommission, die sich dabei von Unternehmensverbänden und der Wirtschaftslobby beraten lässt, und nur auf den Europäischen Rat der Staats- und RegierungschefInnen hören muss, der in sogenannt übergeordneten Belangen die Legislative darstellt. Eine Mitsprache nationaler Gremien ist derzeit nicht geplant; selbst das Europäische Parlament soll erst nach Abschluss der Gespräche das gesamte Vertragswerk abnicken oder verwerfen können.
Dass dieses Vorgehen funktioniert, zeigt Ceta: Die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada sind inzwischen abgeschlossen. Es muss – wie auch bei anderen völkerrechtlichen Verträgen – nur noch parafiert, also vorläufig festgelegt werden. Welche Gremien es wann ratifizieren sollen, ist derzeit noch offen.
Von Mitsprache also keine Rede. Viel deutet darauf hin, dass Gabriel – der wie Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Freihandelsabkommen grundsätzlich begrüsst – mit seinen Zusicherungen nur Druck wegnehmen wollte. Um dann hinterher behaupten zu können, dass er, immerhin Vizekanzler des wichtigsten EU-Staats, alles Denkbare versucht habe, aber leider, leider nicht durchgedrungen sei und deswegen, nach Abwägung aller Vor- und Nachteile, halt doch TTIP und Ceta zustimmen müsse, schon der in Aussicht gestellten Jobs wegen.
Internationale Proteste
Ob Gabriels Strategie aufgeht, ist allerdings ungewiss. Denn derzeit rollt eine Protestwelle durchs Land, die die an Kampagnen und Initiativen nicht gerade arme Republik so noch nie erlebt hat. So kam eine im Frühjahr vom breiten Bündnis TTIP unfairhandelbar, dem globalisierungskritischen Netz attac und der Kampagnenplattform Campact Kampagnenplattform Campact lancierte Online-Petition gegen TTIP innerhalb von drei Monaten auf rund 715.000 Unterschriften, die sie vor der EU-Parlamentswahl im Mai den deutschen KandidatInnen überreichten. Vor dem Reichtagsgebäude in Berlin gab es immer wieder Aktionen, in vielen Städten wurden Informationsveranstaltungen organisiert, Organisationen wie der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), das Umweltinstitut München oder die Gruppe Global Marshall Plan publizierten Flyer und Broschüren, Gewerkschaften wie Verdi veröffentlichten Stellungnahmen.
Nicht nur in Deutschland begannen die Menschen Sturm zu laufen. In Österreich zum Beispiel liess das auflagenstarke Boulevardblatt «Kronen-Zeitung» grossflächige Anti-TTIP-Plakate (Slogan: «Unser Wasser ist unverkäuflich») verkleben und sammelte Hunderttausende Protestmails. In Frankreich erklärten sich Kommunen zu TTIP-freien Zonen, in Britannien mobilisierte die Onlineplattform 38 Degrees (Motto: «People. Power. Change.») in Fussgängerzonen und im Internet, in Spanien begann sich die Bewegung der Indignados zu interessieren und internationale Gewerkschaftsverbände wie die Union der Lebensmittel- und Landwirtschaftsgewerkschaften IUL versorgten ihre Mitglieder mit Informationsmaterial. Viele BürgerInnen treibt die Sorge um, dass die geplanten Verträge die Demokratie aushöhlen. Warum sonst finden die Gespräche, die zentrale Lebensbereiche für immer ändern werden, im Geheimen statt? Und weshalb haben ihre Parlamente nichts mitzubestimmen?
Europaweiter Aktionstag
Da all diese nationalen Proteste nichts bewirkten, beschlossen im Juni rund 180 nichtstaatliche Organisationen (NGOs) aus dem gesamten EU-Raum, eine Europäische Bürgerinitiative (EBI) zu starten. Dieses seit 2011 von der EU anerkannte Instrument der BürgerInnenbeteiligung hat zwar keinen bindenden Charakter (die EU-Kommission muss sich lediglich erneut mit einem Thema befassen, wenn innerhalb eines Jahres in mindestens sieben EU-Staaten mindestens eine Million Unterzeichnungsberechtigte eine Petition unterschreiben), kann aber durchaus beeinflussen. So stornierte die EU-Kommission im März 2014 ihre Pläne zur Privatisierung des Trinkwassers, nachdem ihr 1,8 Millionen Unterschriften vorgelegt worden waren.
Dieser Erfolg lasse sich wiederholen, hoffte das europaweite Bündnis Stop TTIP (dem mittlerweile 250 NGOs angehören). Doch Mitte September versagte die EU-Kommission der Anti-TTIP-Bürgerinitiative die offizielle Anerkennung. Fadenscheinige Begründung: Da die Verhandlungen noch laufen, sei eine solche Aktion nicht rechtskonform. Die Reaktion folgte prompt: Der Stop-TTIP-Bürgerausschuss reichte Klage beim Europäischen Gerichtshof ein, beschloss eine selbstorganisierte EBI und rief den 11. Oktober zum Aktionstag aus. «Da solche Klagen erfahrungsgemäss erst nach anderthalb Jahren vor Gericht landen, haben wir uns entschieden, selber zu handeln», sagt Roland Süss, der bei attac Deutschland für den Themenbereich Freihandel zuständig ist.
Es wurde gehandelt – und zwar massiv. Am Aktionstag beteiligten sich Zehntausende an Strassenaktionen. Sie sammelten Unterschriften für die internationale EBI-Petition, demonstrierten in allen grösseren Städten Österreichs, veranstalteten Treffen in Barcelona («Katalonien gegen TTIP») und verteilten Informationsmaterial in schätzungsweise 500 europäischen Städten.
Der Protest reisst nicht ab. Innerhalb von gerade mal drei Wochen (die Kampagne begann am 7. Oktober) haben laut Campact 750.000 EU-BürgerInnen die selbstorganisierte EBI unterschrieben, 38 Degrees in Britannien hat sogar 870.000 gezählt. Und da sind die Signaturen auf den papiernen Unterschriftenbögen nicht mitgerechnet. «Wir waren die letzten Tage vollauf mit dem Öffnen der Post beschäftigt, die körbeweise bei uns eintraf», heisst es bei der deutschen Stop-TTIP-Zentrale in Berlin: «Der Erfolg hat uns überrollt. Wir brauchen mindestens eine Woche, bis wir einen Überblick haben.»
Überall umstritten
Warum dieser breite Widerstand – und das bei einem Thema, das lange Zeit kaum kampagnenfähig schien? Gegen freien Handel ist ja eigentlich nichts einzuwenden. Vielleicht war es anfangs nur die Geheimniskrämerei, die manche skeptisch werden liess. Als dann allmählich der eine oder andere Sachverhalt durchsickerte, wurde aus Besorgnis Zorn. Und dass sich mit der Zeit so viele mit dem Thema auseinandersetzten, hat vor allem auch damit zu tun, dass die Abkommen fast alle Aspekte des privaten und öffentlichen Lebens tangieren.
UmweltschützerInnen kritisieren die vorgesehene Angleichung (und Absenkung) der Standards: Mit TTIP und Ceta sei auch in der EU der Import und Anbau von Gentech-Lebensmitteln möglich, argumentieren sie zu Recht – und weisen darauf hin, dass Fracking durch die Hintertür Einzug halte. KonsumentInnenverbände befürchten, dass künftig hormonbehandeltes Fleisch im Kühlschrank landet und Medikamente leichter auf den Markt kommen. Kulturschaffende halten es – nicht ohne Grund – für denkbar, dass die öffentliche Förderung von Theatern, Orchestern und Kunst leidet, wenn die ausschliesslich private US-Kulturindustrie Gleichbehandlung in Europa und damit Subventionen fordert. Und die Gewerkschaften bangen um die von den Lohnabhängigen erkämpften Rechte und Sozialstandards.
Ausserdem lehnen alle die geplanten Investitionsschutzklauseln (vgl. «Geplant oder schon unterschriftsreif») mit der damit einhergehenden Schattenjustiz ab, die den Konzernen weitreichende Klagemöglichkeiten bieten. Hatte nicht der französische Konzern Veolia auf Basis eines Investitionsschutzabkommens vor einem dieser privaten, geheim verhandelnden Sondergerichte Ägypten verklagt (gegen deren Urteil keine Revision möglich ist), weil die ägyptische Regierung 2011 den monatlichen Mindestlohn von 41 auf 72 Euro anhob – und Recht bekommen? Musste nicht der Staat Ecuador 2012 dem US-Öl-Multi Oxy 1,8 Milliarden US-Dollar Schadensersatz zahlen, weil die Regierung nach Protesten der Bevölkerung eine bereits genehmigte Probebohrung untersagte? Und ist es Recht und richtig, dass der schwedische Energiekonzern Vattenfall von den deutschen SteuerzahlerInnen 4,7 Milliarden Euro wegen «entgangener Gewinne» fordert, die er durch den Atomausstieg verloren haben will?
Gegen die Machtverschiebung
Auch der Handlungsspielraum der Kommunen ist bedroht, wie der Handelsexperte Thomas Fritz in der Campact-Broschüre «TTIP vor Ort» beschreibt. So soll TTIP den allumfassenden Marktzugang gewährleisten, also beispielsweise auch dem milliardenschweren, von Google und Goldman Sachs finanzierten US-Online- und Transportunternehmens Uber, das in vielen europäischen Städten den regulierten Taxiverkehr unterbietet – und die ohnehin mageren Löhne auf Dauer nach unten treibt. In Vor-TTIP-Zeiten können Gemeinden wie Hamburg diesen Unterbietungswettbewerb noch untersagen. Danach nicht mehr.
Und so geht es munter weiter: Sollten Kommunen Mietpreisregeln verfügen, um exorbitante Mietsteigerungen einzudämmen, wird dies künftig ebenso als «indirekte Enteignung» gewertet wie möglicherweise restriktive Betriebsgenehmigungen für Mülldeponien, in die Konzerne investiert hatten. Und selbst wenn Gemeinden soziale Einrichtungen wie Pflegeheime oder den gemeinnützigen Wohnungsbau bezuschussen, können sie – wegen Wettbewerbsverzerrung – haftbar gemacht werden.
Über allen der Markt und alles nur Ware – das bringt selbst konservative LokalpolitikerInnen auf die Palme. So fassten im Juni beispielsweise alle sechzehn Bürgermeister [keine Innen!] des bayerischen Landkreises Roth (darunter auch CSU-Mitglieder) einstimmig einen Beschluss gegen TTIP und Ceta, weil die «‹Freihandelsabkommen› eine Machtverschiebung zum Ziel haben, weg von demokratisch gewählten Politkern, hin zu multinationalen Konzernen.» Ähnliche lautende Resolutionen haben inzwischen viele lokale und regionale Gremien verabschiedet.
Und so dringt allmählich nach ganz oben durch, was die Leute unten bewegt. Zumindest beim Investitionsschutz hat der künftige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in den letzten Tagen – gegen den heftigen Widerstand des scheidenden EU-Handelskommissars Karel De Gucht – die Möglichkeit eines Einlenkens signalisiert. Der Beginn eines Kurswechsels? Jedenfalls reagierte die britische Initiative 38 Degrees am Dienstag sofort auf diese Nachricht. Sie rief zu Massenmails an Juncker auf: Er möge doch bitte weiter nachdenken – und sich nicht von der britischen Regierung beeinflussen lassen. Die ist bekanntlich ganz entschieden für Machtverschiebungen nach oben. (pw)
Die Abkommen
Seit dem Sommer 2013 verhandelt die EU-Kommission mit der US-Regierung über ein Freihandelsabkommen mit dem sperrigen Namen Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP). Den Auftrag dazu hatte der Europäische Rat der Staats- und RegierungschefInnen im Frühjahr 2013 erteilt.
Das Mandat sieht vor, Dienst-leistungen «auf dem höchsten Liberalisierungsniveau» festzu-schreiben, das die USA und die EU in ihren bisherigen Abkommen eingegangen waren. Da es kaum noch Handelszölle zwischen den beiden Wirtschaftsräumen gibt, geht es vor allem um die Beseitigung sogenannt nicht-tarifärer Handelshemmnisse – wie beispielsweise Umweltschutzregeln, Vorschriften zur Lebensmittel-sicherheit, Sozial- und Arbeitsstandards, Marktzugänge und staatliche Subventionen. Die Verhandlungen – sie werden geheim geführt – sollen im Sommer 2015 abgeschlossen sein.
Bereits beendet sind die Gespräche über das Comprehensive Economic and Trade Agreement (Ceta) zwischen der EU und Kanada. Es gilt als Blaupause für TTIP und hätte eigentlich schon längst parafiert werden sollen. Doch der Prozess schleppt sich hin – auch aufgrund des anhaltenden Widerstands.
Ceta enthält unter anderem Investitionsschutzklauseln, die es Konzernen erlauben, Staaten vor privaten Schiedstribulen zu verklagen, wenn sie ihre «legitimen Erwartungen» auf Profit geschmä-lert sehen. Solche Klauseln – die nationales Recht aushebeln – gibt es zwar in vielen bilateralen Investitionsschutzabkommen, bisher aber nicht zwischen westeuropäischen Staaten und Kanada respektive den USA.
Während TTIP und Ceta eine schleichende Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen vorsehen, will das derzeit in Genf von fünfzig Staaten verhandelte Trade in Services Agreement (TISA) die Liberalisierung des Service public festschreiben – und unumkehrbar machen. An den geheimen Gesprächen, deren Inhalte auch fünf Jahre nach einem Abschluss (oder einem Scheitern) nicht bekannt werden dürfen, ist neben der EU, den USA, Kanada auch die Schweiz beteiligt.