Kapital & Arbeit: Konkrete Alternativen
Das Potenzial der Genossenschaften
7. März 2013 | Allmählich wächst das Bewusstsein dafür, dass Kooperativen zukunftsträchtiger wirtschaften können als renditeorientierte Unternehmen.
Im vergangenen Uno-Jahr der Genossenschaften 2012 ist viel über gemeinwirtschaftliche und kooperative Ansätze veröffentlicht worden. Man konnte erfahren, dass sich weltweit 800 Millionen Menschen einer Genossenschaft angeschlossen haben, dass Kooperativen für rund hundert Millionen Arbeitsplätze sorgen, dass Genossenschaften in manchen Regionen der Welt nicht mehr wegzudenken sind. Hin und wieder war auch zu lesen, dass die ersten modernen Genossenschaften – angeregt durch die Ideen frühsozialistischer Visionäre wie Charles Fourier oder Robert Owen – Mitte des vorletzten Jahrhunderts entstanden sind. Und da und dort wurde auch erwähnt, welche Grundprinzipien im Jahre 1844 die Weber im nordenglischen Rochdale formulierten, als sie ihre Genossenschaft gründeten: offene und freiwillige Mitgliedschaft, Beteiligung der Genossenschaftsmitglieder auf allen Ebenen und in jeder Hinsicht, basisdemokratische Kontrolle, Autonomie und Unabhängigkeit, Kooperation mit anderen Genossenschaften und Pflege der Gemeinschaft.
Diese Prinzipien gelten vielfach noch heute. Allerdings nicht für alle: Die Zahl 800 Millionen, die der weltweite Dachverband International Cooperative Alliance verbreitet, enthält auch unzählig viele Mitglieder von pro-forma-Genossenschaften, die den KonsumentInnen gehören, nicht aber den Beschäftigten. In der vergleichsweise kleinen Schweiz mit ihren acht Millionen EinwohnerInnen ist rund die Hälfte der Bevölkerung Mitglied in einer der beiden grossen Konsumgenossenschaften Coop und Migros an, die aber nur ein beschränktes Mitspracherecht einräumen, ihren Beschäftigten niedrige Löhne zahlen und – im Falle Migros – nicht einmal die Gewerkschaften anerkennen. Ähnliches gilt für andere Kooperativen in anderen Ländern, vor allem im Finanz- und Versicherungsbereich und für Wohnungsbau- und Agrargenossenschaften. Auch da ist die Zähmung des Kapitals, freundlich ausgedrückt, bescheiden. Von diesen Formen des gemeinsamen Wirtschaftens soll hier jedoch nicht die Rede sein.
Der plötzliche Aufschwung
Überall beobachten wir derzeit eine rasante Zunahme an Kooperativengründungen und neuen Ansätzen des solidarischen Miteinanders. In Deutschland etwa treibt die wachsende Zahl an Energiegenossenschaften die Energiewende voran. Aber nicht nur dort. Auch anderswo erleben wir eine sprunghafte Entwicklung. Das hat vor allem damit zu tun, dass das kapitalistische System von einer Krise in die nächste stolpert. Die Finanzmärkte plündern weiterhin Staaten aus, die zuvor die Banken gerettet haben. Volkswirtschaften stehen gleich reihenweise am Rande des Zusammenbruchs. Und ein Ende ist nicht in Sicht.
Trotzdem, und das ist meine erste These, könnte es sein, dass in ein paar Jahren die momentane Krisenepoche auch als etwas anderes gesehen wird: als Beginn einer Periode, in der die Menschen und ihre Bedürfnisse wieder im Mittelpunkt stehen und nicht die Profitmaximierung.
Hierzu ein paar Beispiele:
In Argentinien etwa – das schon 2001 in eine Krise taumelte– gibt es aktuell über 200 Unternehmen, die aus Betriebsbesetzungen hervorgegangen sind, deren Ziel war, die Arbeitsplätze zu sichern. Sie alle waren vorher privatwirtschaftlich geführt worden und werden nun von den Belegschaften kontrolliert und verwaltet. In den meisten dieser Betriebe, die vor allem im verarbeitenden Sektor operieren, entscheiden die ArbeiterInnen auf wöchentlichen oder monatlichen Versammlungen über grundsätzliche Fragen; ausserdem zahlen sich viele einen Einheitslohn. Natürlich haben sie Probleme, vor allem bei der Kapitalbeschaffung, natürlich ist da nicht alles gut. Aber immerhin: Die meisten haben bisher überlebt.
Dann ist da etwa Griechenland. Nach Jahren der wütenden Proteste – die zwar richtig und wichtig sind, aber nicht allzu viel brachten, weil der Druck von aussen zu gross ist – wächst dort die Zahl jener, die neue und möglicherweise dauerhafte Auswege suchen. In den Städten entstehen kleine, solidarische Netze, auf dem Land wächst die Zahl von Kooperativen, die momentan noch auf Selbstversorgung setzen, langfristig aber eine andere Bewirtschaft der Böden und kollektive Verteilstrukturen planen. Ausserdem hat dort nach langen Auseinandersetzungen die Belegschaft der Baustoff-Fabrik Viomichaniki Metaleftiki die Produktion unter ihrer Kontrolle wieder aufgenommen.
Auch in Spanien beschränkt sich die breite Bewegung der Indignados nicht mehr nur auf Proteste und die Besetzung öffentlichen Raums. In Andalusien etwa haben «Empörte» erstmals seit langem wieder Ländereien besetzt. Übrigens mit Unterstützung einer seit Jahren bestehenden Landwirtschaftskooperative. Und in Sevilla gibt es mittlerweile acht Grossgebäude, die jeweils von mehreren Dutzend obdachlosen Familien besetzt wurden sind: Sie waren zuvor aus ihren Wohnungen vertrieben worden, weil sie die Hypothekarkredite nicht mehr bedienen konnten. Diese BesetzerInnen lernen nun, was es heisst, zusammenzustehen und kollektiv zu handeln.
Während man sich in Andalusien – einst eine Hochburg des Anarchismus – wieder an dessen Prinzipien erinnert, ist in Serbien das alte jugoslawische Konzept der Arbeiterselbstverwaltung nicht ganz in Vergessenheit geraten. In nordserbischen Zrenjanin zum Beispiel widersetzte sich die Belegschaft des Pharmaunternehmens Jugoremedija zusammen mit der lokalen Bevölkerung so lange gegen die staatlich verordnete Privatisierung, bis sie die Firma in die eigene Hand nehmen konnten. Und selbst im konservativen Britannien wächst die Bedeutung der kooperativ agierenden und demokratisch strukturierten Credit Unions: Diese Sparvereine dienen inzwischen nicht mehr nur den Menschen in den Armenvierteln, die sonst an keine zinsgünstigen Kredite kämen, sondern erhalten auch Zulauf aus wohlhabenderen Schichten.
Überall, so scheint es, entwickelt sich allmählich ein Bewusstsein dafür, dass von unten organisierte Selbsthilfe einen Ausweg aus der Umklammerung durch ein rein renditeorientiertes System bieten könnte. Die Betonung liegt dabei auf «von unten». Denn «von oben» klappt das nicht, wie Venezuela gezeigt hat. Dort hatte der frühere Präsident Hugo Chavez die Bildung von Agrarkooperativen zu einem wesentlichen Teil seines Reformprogramms gemacht – und ist gescheitert: Die städtischen Armen hatten entweder keine Lust auf Ackerbau und Viehzucht – oder keine Ahnung.
Im Widerspruch zur traditionellen Arbeiterbewegung
Ein Handeln aus der schieren Not heraus – und das ist meine zweite These – garantiert allerdings noch nicht, dass die neuen Modelle auch funktionieren. Das sah man beispielsweise Mitte der siebziger Jahre in Britannien. In der damaligen Wirtschaftskrise hatten die Belegschaften mehrerer grösserer Industriebetriebe im Kampf um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze die Produktionswerke besetzt und die Firmen übernommen. Sie scheiterten, trotz der Unterstützung des damaligen Industrieministers Tony Benn von der Labour Partei. Die Kooperativen waren von Anfang an hoffnungslos unterkapitalisiert und bekamen von den Banken keine Kredite – das ist derzeit auch das Hauptproblem der argentinischen Genossenschaften.
Sie scheiterten auch, weil sie bei den traditionellen Institutionen der britischen Arbeiterbewegung, den Gewerkschaften und der Labour Party, bestenfalls auf höfliches Desinteresse stiessen. Das lag zum einen daran, dass die britischen (und auch die westeuropäischen) Gewerkschaften seit ihrer Hierarchisierung basisdemokratischen Ansätzen – weil zu unabhängig, zu wenig kontrollierbar – skeptisch gegenüberstehen. Und weil die etatistisch orientierten sozialistischen Arbeiterparteien ab Ende des 19. Jahrhunderts einen ganz anderen Kurs verfolgten: Nicht Selbstbestimmung, sondern Revolution. Nicht Basisdemokratie, sondern Machtübernahme der Arbeiterklasse. Nicht Kooperation, sondern Verstaatlichung.
Die Belegschaften der besetzten Betriebe scheiterten aber auch an internen Gegensätzen. Viele Belegschaftsangehörige dachten nach der Betriebsübernahme: Jetzt gehört der Laden uns. Jetzt können wir mal kräftig die Löhne anheben. Jetzt schaffen wir entspannter, verlängern wir die Pausen, gehen früher heim – und machen ansonsten all das, was ihrer Meinung nach die Bosse vorher taten. Aus kampfstarken Lohnabhängigen werden nicht über Nacht engagierte und unternehmerisch denkende Kollektivmitglieder.
Dieses aus langer Erfahrung heraus geprägte Bewusstsein von «wir da unten» und «denen da oben» sitzt tief. Das zeigten übrigens vor ein paar Jahren ja auch die Belegschaften der Chemnitzer Werkzeugmaschinenfabrik Union und der Flugzeugwerke Pfalz, die ihre Betriebe in Form einer Mitarbeitergesellschaft übernommen hatten. Als die Firmen nach ein paar Jahren wieder profitabel waren, verkauften die Beschäftigten ihre Anteile.
Die Kultur des Miteinanders
Trotzdem kann aus der Not heraus geborenes Engagement gelingen. Ich will das anhand von drei Beispielen illustrieren. Da ist beispielsweise die norditalienische Genossenschaftsprovinz Reggio Emilia. Nirgendwo in Westeuropa tragen selbstverwaltete Unternehmen so viel zur Wertschöpfung bei; sie erwirtschaften derzeit rund dreissig Prozent des regionalen Bruttoinlandsprodukts.
Entstanden ist die dortige Koop-Bewegung in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Damals gab es einen Staat im heutigen Sinne nicht; also nahmen die Menschen die Dinge in die eigene Hand: Sie bauten Dämme gegen die Fluten des Po, planierten Strassen, gründeten ihre eigene Eisenbahn, vernetzten sich, bildeten Kooperativen, entwickelten eigene Finanzstrukturen. Das alles wuchs über lange Jahre hinweg, selbst der Faschismus und die katholische Kirche konnten dagegen wenig ausrichten.
Heute wird an den Schulen von Reggio Emilia gelehrt, wie man eine Kooperative gründet – was viele unternehmungslustige Jugendliche dann auch tun. Es gibt auch ein genossenschaftlich betriebenes Lokalfernsehen – und sogar eine genossenschaftseigene Einrichtung für internationale Zusammenarbeit, die einen Teil der Gewinne der Kooperativen in Entwicklungsprojekte steckt (siehe dazu auch den Text «Der Flug der Hornissen»).
Dass das Andere Wirtschaften gerade dort so gedeihen konnte, hat auch mit früheren Siedlungs- und Pachtstrukturen zu tun. Die den Pächtern vom Grossgrundbesitz überlassenen Höfe lagen in Gehdistanz zueinander. Also half man sich aus, bei der Ernte, bei der Bewältigung gemeinschaftlicher Aufgaben, in Notfällen.
Eine ähnliche Siedlungsstruktur und eine vergleichbar autonom-souveräne Bevölkerung gab beziehungsweise gibt es im Baskenland. Deshalb konnte dort im Ort Mondragón eine 1956 von einem katholischen Pater gegründete Kooperative zur Herstellung von Kochherden wachsen und gedeihen. Eine gemeinwirtschaftliche Kultur und Tradition – das ist meine dritte These – erleichtert enorm die Entwicklung einer kooperativen Bewegung. Aus Fagor, der ersten Industriekooperative, entstanden schnell weitere Genossenschaften, die nicht mehr nur einfache Haushaltsgeräte produzierten. Heute gehören der Mondragón Corporación Cooperativa, dem Dachverband, rund 100 Genossenschaften an, die die Autoindustrie beliefern, Robotersysteme entwickeln, hochkomplexe Apparate wie Werkzeugmaschinen fertigen, ganze Produktionsanlagen bauen und im Einzelhandel tätig sind. Die MCC hat eine eigene Bank, eine eigene Universität mit 9000 Studierenden und ist mit 83.000 Beschäftigten die weltweit wohl grösste Industriegenossenschaft (siehe dazu das Buch «Wirtschaft zum Glück»).
Mittlerweile operieren die Mondragón-Kooperativen in vielen anderen Teilen der Welt – allerdings ohne die Beschäftigten dort auch zu GenossenschafterInnen zu machen. Das hat ihnen – zu Recht – viel Kritik eingebracht. Andererseits sagt aber einer der im Buch zitierten Mitbegründer, dass «sich das Genossenschaftsmodell nicht einfach exportieren» lasse: «genossenschaftliches Bewusstsein muss in den Menschen wachsen, das kann nicht von heute auf morgen irgendwohin verpflanzt werden». Da ist etwas dran.
Von unten anfangen
Allerdings – und das zeigen Erfahrungen aus Indien – kann eine solche Kultur auch unter widrigen Bedingungen entstehen; vorausgesetzt, es gibt ein gesellschaftspolitisches Bewusstsein. In dem einen Fall, der Kooperativenregion Sherthala (im südindischen Bundesstaat Kerala) hatte die Bevölkerung so nachhaltig gegen die britische Kolonialmacht rebelliert, dass sich auch in der nachkolonialen Zeit kein Unternehmen fand, das dort investieren wollte.
Also halfen sich die Lohnabhängigen, die Garnspinnerinnen, die Kokosnusspflücker, die Fischer und Fischverarbeitenden selber. Sie schlossen sich zu Kooperativen zusammen, die gleichzeitig als eine Art Gewerkschaft funktionieren – also Lohnforderungen stellen und bessere Arbeitsbedingungen und mehr Schutz am Arbeitsplatz verlangen. Mittlerweile gibt es dort über 600 Fischergenossenschaften, darunter 130 Frauenkooperativen – und neue Kooperativen sind hinzugekommen, wie etwa die erfolgreiche Restaurantkette Indian Coffee House. Das zeigt, so These vier: Genossenschaften und gewerkschaftliches Engagement schliessen sich nicht aus.
Dies lässt sich gut auch an der Self Employed Women's Association (SEWA), der Vereinigung selbstständiger Frauen, illustrieren. 1971 im indischen Bundesstaat Gujarat als Verband von Karrenzieherinnen und Kopflastträgerinnen gegründet, hat SEWA mittlerweile rund 1,3 Millionen Mitglieder: Lumpensammlerinnen, Näherinnen, Räucherstäbchenproduzentinnen, Strassenverkäuferinnen, Landarbeiterinnen, Hausarbeiterinnen – alles Arbeitskräfte, die nirgendwo angestellt sind, also per se und nach unserem Verständnis nicht unbedingt klassische Gewerkschaftsmitglieder darstellen. Aber sie erreichen mit grossen Engagement und durch ihre Kooperation (siehe das Inhaltsverzeichis des Buchs «Wirtschaft zum Glück») das, was der Ursprungsgedanke auch der westlichen Gewerkschaften war: die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen zu beenden.
Jedenfalls zeigt SEWA mit ihren vielfältigen Ansätzen (gewerkschaftliche und politische Arbeit sowie Selbstermächtigung durch eigene Schulungszentren, Sozialvereine, Produktions- und Verkaufskooperativen, Krankenkassen oder einer Frauen-Coop-Bank), dass selbst mehrfach ausgebeutete Bevölkerungsschichten erfolgreich für ihre Rechte eintreten können. Und wer weiss: Wenn man die auch hierzulande feststellbare Tendenz hin zu immer mehr selbstständig erwerbstätigen Lohnabhängigen betrachtet – vielleicht wären solche Organisationsformen auch ein zukunftsfähiges Modell für uns. Vorausgesetzt, es läuft – wie bei SEWA – demokratisch ab. Dort treffen die Mitglieder alle wesentlichen Entscheidungen. Sie sind in Branchen organisiert und wählen den Branchenrat, der von gewählten Branchenkomitees kontrolliert wird.
Der Faktor Grösse
Entscheidend ist die dezentrale Struktur: Unter dem SEWA-Dach haben sich über hundert selbstständige Kooperativen versammelt, deren lokale oder regionalen Untergruppen weitgehend selbstständig agieren. Dieses Dezentralitätsprinzip gilt übrigens auch für andere erfolgreiche Grossgenossenschaften wie etwa Mondragón (mit seinen ebenfalls über Kooperativen). Denn ab einer bestimmten Grösse, die von der Branche abhängt – entwickelt sich eine Tendenz hin zur Verbürokratisierung, Hierarchisierung und Basisferne.
Um den Zusammenhalt, das Engagement und die Beteiligung aller zu gewährleisten, so die fünfte These, dürfen Kooperativen eine handhabbare Grösse nicht überschreiten. Und falls sie doch zu gross werden sollten, müssen sie sich neue Strukturen einfallen lassen. Diesen Grundsatz haben viele Genossenschaften oder gemeinwirtschaftliche Unternehmen nie begriffen oder begreifen wollen: Weil sie sich im Laufe ihres Wachstums eben doch betriebswirtschaftlichen Zielen untergeordnet haben oder von noch grössere Genossenschaften übernommen wurden.
Dass dies – siehe Migros in der Schweiz, siehe die traurige Geschichte der vom DGB-kontrollierten Neuen Heimat in Deutschland, siehe all die genossenschaftlich verfassenden Geldinstitute in vielen Ländern bis hin zur Credit Union der US-Army – so leicht gelingen konnte, hat mit einem zentralen Dilemma des Genossenschaftswesens zu tun. Die Kooperativen agieren notgedrungenermassen innerhalb des kapitalistischen Systems, haben dessen Gesetzmässigkeiten zu gehorchen, müssen Rücklagen erwirtschaften und auf dem Markt konkurrenzfähig bleiben – und all das sollen sie mit ihrem Ziel der Entwicklung einer auch ökologisch nachhaltigen Ökonomie jenseits der Profitmaximierung vereinbaren. Trotzdem bieten Kooperativen, sofern sie Belegschaftseigentum sind, enorme Chancen.
Denn ein Kollektiv ist – Gleichheit, Mitentscheidung, demokratische Strukturen und Ermächtigung aller Beteiligten vorausgesetzt – in der Regel klüger, als das ein Individuum je sein kann. Ein leider – und zu Unrecht – in Vergessenheit geratenes Beispiel dafür ist die Initiative der Shops Stewards des britischen Rüstungskonzerns Lucas Aerospace. Mitte der siebziger Jahre suchten die gewerkschaftlichen Vertrauensleute dieses Unternehmens eine Antwort auf angekündigte Massenentlassungen.
Sie beschränkten sich dabei nicht auf die üblichen gewerkschaftlichen Abwehrkämpfe, sondern entwarfen ein ganz anderes Konzept – auch deswegen, weil sie der Rüstungsproduktion sehr skeptisch gegenüberstanden. Nach dem Motto «gesellschaftlich nützliche Produkte statt Waffen» entwickelten Hunderte von Facharbeitern und Technikern vor rund 38 Jahren in anderthalbjähriger Arbeit 150 verschiedene Produkte, die zum Teil sofort in Produktion hätten gehen können – und legten einen Teil davon der Unternehmensleitung als Verhandlungsgrundlage vor: Auf diese Weise, so hofften sie, könnten nicht nur Arbeitsplätze gerettet, sondern auch sinnvolle Arbeitsplätze geschaffen werden.
Gesellschaftlich nützliche Produkte
Doch ihre Kampagne scheiterte; zum Teil aufgrund der mangelnden Unterstützung durch die Gewerkschaftsbewegung, die den Lucas-Beschäftigten vorwarfen, sich Gedanken über etwas zu machen, das eigentlich Aufgabe der Bosse wäre. Entscheidend aber war, dass die Konzernleitung keinerlei Interesse an der Idee einer Rüstungskonversion hatte – unter sich von den Arbeitern nicht dreinreden lassen wollte.
Der Witz an der Geschichte ist: Mit einer Verzögerung von zwei, drei Jahrzehnten kamen die meisten der vom Shop Steward Committee konzipierten Produkte auf den Markt: tragbare Dialysegeräte, Defibrillatoren, Wärmetauscher, Ultraschallapparate, Windkraftwerke, Hybridmotoren, energiesparende Multifunkionsgeneratoren und Strassen/Schienenfahrzeuge für die Dritte Welt, usw. Ohne die Firma aber konnte die Lucas-Aerospace-Belegschaft diese Projekte nicht umsetzen. Die Investitionskosten wären zu hoch gewesen.
Das Beispiel ist aber nicht nur ein Beleg dafür, was ein Kollektiv – im Unterschied zu einer einzelnen Person – leisten kann. Es zeigt auch, dass sich, das nötige Geld vorausgesetzt, selbstverwaltete Betriebe Optionen haben, die in normalen Unternehmen mit ihrem Ziel einer maximalen Kapitalverwertung kaum denkbar sind: Nämlich nicht nur über Arbeitsbedingungen zu entscheiden, sondern auch über den Inhalt der Arbeit. Das führt zur letzten These: Genossenschaften im Besitz der Belegschaften haben nicht nur betriebspolitische Vorteile. Sie verfügen auch über ein gesellschaftspolitisches und gesellschaftsveränderndes Potenzial – wenn sie sich mit Arbeitsinhalten und den Erzeugnissen ihrer Arbeit auseinandersetzen, also nicht nur die Nachhaltigkeit des Arbeitsverhältnisses im Blick haben, sondern auch die ökologisch-soziale Qualität ihrer Erzeugnisse und Dienstleistungen. Das machen manche Kollektive schon – indem sie Bioprodukte herstellen, gute Bücher verkaufen oder verlegen, solidarisch agieren, fair handeln, die Nutzung erneuerbarer Energie vorantreiben oder im Sozialbereich den Menschen dienen. Aber das tun noch längst nicht alle. (pw)
Der nebenstehende Text ist die Zusammenfassung eines Beitrags für die Zeitschrift «Analyse & Kritik», Nummer 580 vom 15. Februar 2013, und eines Referats auf dem Forum des GWS-Netzwerks für Systemische Organisations- und Personalentwicklung Ende Februar 2013.