Nordirland: Bemerkenswertes Ergebnis
Dämpfer für die UnionistInnen
5. März 2017 | Bei der nordirischen Regionalwahl am vergangenen Donnerstag haben die pro-britischen UnionistInnen erstmals ihre Mehrheit eingebüsst. Es gab noch andere Überraschungen.
Wie man sich doch irren kann. Es seien keine grossen Änderungen zu erwarten, jedenfalls nicht bei der Zusammensetzung der nordirischen Assembly, dem regionalen Parlament. Davon waren alle überzeugt. Zu eingefahren sind die politischen Verhältnisse zwischen den beiden Gemeinschaften, den probritisch-protestantischen UnionistInnen auf der einen und den irisch-katholischen NationalistInnen auf der anderen Seite.
Die Blöcke sind immer noch da. Kaum ein Protestant, dem es einfallen würde, für die ehemalige IRA-Partei Sinn Féin oder die gemässigt-katholische Social Democratic and Labour Party (SDLP) zu stimmen. Und umgekehrt kommt es ebenfalls selten vor, dass jene, die für eine Wiedervereinigung Irlands sind, für die konservative Democratic Unionist Party (DUP) oder die liberalere Ulster Unionist Party vorieren. Und dennoch ist der Ausgang der Regionalwahl in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert:
●︎ Erstmals seit Nordirland eine politische Untereinheit im Vereinigten Königreich darstellt, also seit bald hundert Jahren, haben die UnionistInnen keine politische Mehrheit mehr. Das hat zum Teil mit dem Rückgang des protestantischen Anteils an der Bevölkerung zu tun: In den 1920er Jahren lag er bei 66 Prozent, heute sind es 48 Prozent.
●︎ Sinn Féin, die einst radikale Verfechterin einer irischen Einheit, verfehlte nur ganz knapp das Ziel, stärkste politische Kraft zu werden.
●︎ Obwohl gar nicht so viel auf dem Spiel stand – die nordirische Assembly hat relativ wenig zu sagen – lag die Wahlbeteiligung mit 65 Prozent so hoch wie nie.
Woran liegt das?
Mobilisierungsschwächen
Zuerst das Ergebnis: Die DUP, die bislang die Regionalchefs stellte, verlor an Stimmen und an Sitzen. Sie liegt mit 28 Sitzen (2016: 38) nur knapp vor Sinn Féin (27 Sitze). Bei der Wahl 2016 betrug der Unterschied noch zehn Sitze – allerdings, und das macht einen Vergleich etwas schwierig, waren dieses Mal nur 90 statt bisher 108 Mandate vergeben. Die SDLP behielt ihre 12 Sitze, die UUP jedoch (vorher 16, jetzt 10 Mandate) stürzte ab. Die "neutrale" Alliance kam auf axcht Abgeordnete, die übrigen fünf Sitze teilen sich fünf Parteien (Grüne), Bündnisse (die trotzkistische People Before Profit Alliance) und Unabhängige.
Dass die unionistischen Parteien verloren haben, ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen:
● Sie konnten ihr Klientel weniger mobilisieren als die nationalistisch-republikanischen Parteien und die Alliance Party. Das hat unter anderem mit dem Brexit-Entscheid zu tun. Zur Erinnerung: Beim Referendum im Juni 2016 hatten knapp sechzig Prozent der nordirischen Stimmbevölkerung für ein Verbleib des Vereinigten Königreichs (UK) in der EU votiert. Sinn Féin, die SDLP und grossteils auch die UUP machten sich damals für "Remain" stark; die DUP hingegen mobilisierte – wie viele britische Konservative – für den Brexit. Und bekam nun die Quittung.
● Seit dem Referendumsentscheid hängt über Nordirland die Frage, ob der "harte Ausstieg" aus der EU, den die britische Premierministerin Theresa May in Aussicht stellt, auch zu einer "harten", befestigten Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem UK-Bestandteil Nordirland führen könnte. Dieses Thema treibt viele um. Eine Mauer, ein durchgehender Zaun und/oder Grenz- und Zollposten bei jedem Übergang – das funktioniert zwar nicht, wie alle wissen. Das betont auch bei jeder Gelegenheit die nordirische Polizei. Aber was dann? Also gibt man die Stimme lieber einer Partei, die gute Beziehungen zur Republik unterhält.
● Der Skandal um ein Energieprogramm (das eigentlich erneuerbare Energien hätte stärken sollen, handwerklich aber so miserabel gestrickt war, dass es einen millionenteuren Subventionsbetrug ermöglichte) hat offenbar Spuren hinterlassen. Die dafür verantwortliche Politikerin Arlene Foster (DUP), zwischenzeitlich zur Ersten Ministerin aufgestiegen, lehnte nicht nur einen Rücktritt ab. Sie wollte für die Dauer eines Untersuchungsausschusses auch nicht ihr Amt ruhen lassen. Der Skandal führte zum Rücktritt des langjährigen Vize-Premiers Martin McGuinness (Sinn Féin) und zur Neuwahl. Dass Parteichefin Foster sich so hatte erwischen lassen – das hat die DUP-Basis wohl demotiviert.
Immer noch zweitklassig?
Ausschlaggebend war allerdings etwas anderes. Das Karfreitagsabkommen von 1998 sieht eine Machtteilung auf politischer Ebene vor. Das heisst: Die Regionalregierung muss zwingend von den stärksten Parteien der einen wie der anderen Seite gestellt werden. Seit es sowas wie eine nordirische Regionalexekutive gibt (seit 2007), waren immer DUP und Sinn Féin in der Koalition vertreten gewesen, zeitweise auch SDLP und UUP. Und während der gesamten zehn Jahre hatten die UnionistInnen stets demonstriert, wer den Ton angibt: nämlich sie.
Mit anderen Worten: Das unionistische Veto, also die radikale Ablehnung aller irisch-nationalistischer Initiativen und Vorschläge – es blieb auch nach dem Friedensschluss erhalten. Ein Beispiel: Seit Jahren fordert Sinn Féin, dass das irische Gälisch in Nordirland als zweite Sprache anerkannt (und gefördert) wird wie in der Republik. Die DUP hat das stets abgelehnt. Nicht dass es eine Frage von grosser Bedeutung wäre; Gälisch ist in Nordirland nicht sonderlich relevant.
Dennoch ist es ein Politikum, weil in Nordirland alles Neue danach beurteilt wird, wem es nützt. Und weil alle Änderungen so gewertet werden, dass «Erfolge» der einen Seite automatisch als «Niederlagen» der anderen gewertet werden. Das war bei den Flaggenprotesten zu beobachten: Dass aufgrund eines Beschlusses des Belfaster Gemeinderats die britische Fahne nicht mehr jeden Tag über den Rathaus wehen sollte, begriff die unionistische Community als Sieg der irischen NationalistInnen – und als Verlust, der ihren Niedergang symbolisierte. In den protestantischen Arbeitervierteln kam es daraufhin jahrelang zu Revolten. Damit spielte Foster im Wahlkampf – und malte den Teufel an die Wand. Mit ihr würde es nie eine amtliche Gleichberechtigung der irischen Sprache geben, sagte sie auf ihrer ersten Wahlkundgebung Anfang Januar. Denn: «Wenn man ein Krokodil füttert, kommt es wieder und will noch mehr.» Ihr Vorvorgänger Ian Paisley, Gründer der DUP, hatte es noch einfacher formuliert: «Keine Kapitulation, keine Zugeständisse!»
Ist Nordirland also nicht reformierbar? Zu diesem Schluss war die Bürgerrechtsbewegung gekommen, die in Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre niedergeschlagen worden war. Und das hatte die irisch-republikanische IRA stets behauptet und damit ihren Guerillakampf zum Sturz des Staats begründet. Solange Britannien den Nordosten der irischen Insel kontrolliere (und besetzt halte), bleibe die irisch-katholische Minderheit zweitrangig. Diese Grundüberzeugung wich erst mit dem Friedensprozess, der vor neunzehn Jahren zum Karfreitagsabkommen führte.
Immer die Benachteiligten? Statistisch lässt sich dieses Gefühl nicht erhärten. Andererseits ist auch die Friedensdividende ausgeblieben: Dem nationalistischen Mittelstand geht es zwar besser, individueller Aufstieg darf dank der Antidiskriminierungsgesetze nicht mehr blockiert werden. Doch die protestantisch-loyalistische Arbeiterklasse hat aufgrund der industriellen Umstrukturierung verloren, und die republikanischen Unterschichten leben noch immer am Rande der Gesellschaft.
Auch politisch blieb der Fortschritt marginal. Die unionistisch-konservative DUP-Elite um Paisleys Free Presbytarian Church gab weiterhin den Ton an, blockierte mit ihrem Veto jede Änderung – und hat jetzt offenbar überzogen.
Neue Regierung?
Bleibt die Frage, ob innerhalb der nächsten Wochen eine neue Regionalregierung gebildet werden kann. Das Karfreitagsabkommen ist da unzweideutig: Die Regierung muss von den grössten Parteien beider Seiten gebildet werden, das heisst erneut von DUP und Sinn Féin. Und: Die stärkste Fraktion stellt den Ersten Minister (respektive Ministerin), die zweitstärkste darf dafür den oder die StellvertreterIn nominieren.
Die DUP hat bereits abgekündigt, dass Arlene Foster wieder antreten wird (auch wenn der innerparteilich Widerstand gegen sie wächst). Sinn Féin wiederum lehnt Foster ab. Die neue Nordirland-Vorsitzende der Partei, Michelle O'Neill, hat das klar verlauten lassen. Die neue Regierung muss jedoch innerhalb von drei Wochen ab Wahltag gebildet sein; das ist kaum zu schaffen. Danach muss entweder eine Neuwahl angesetzt werden. Oder Nordirland wird von London aus verwaltet – wie früher. (pw)