Nordirland: 25 Jahre nach dem Hungerstreik
Im Krankenzimmer lachte keiner mehr
17. August 2006 | Am letzten Sonntag versammelten sich in Dublin 20.000 Menschen im Gedenken an den Hungerstreik von 1981. Wie wird der Tod der zehn Männer heute gesehen?
Tommy McKearney weiss noch genau, wie das damals war, als er dem Tod entgegendämmerte. «Ich lag auf dem Bett hier, verlor immer wieder das Bewusstsein und konnte kaum noch sehen», erzählt er den jungen Menschen um ihn herum. «Doch dann kam Brendan vom Krankenzimmer gegenüber und sagte: «Es ist vorbei, wir haben gewonnen.»
McKearney, der 52 Jahre alte Gewerkschafter und ehemalige IRA-Häftling, sitzt auf dem Bettenrost im Zimmer Nummer 5 der Krankenstation von Long Kesh, dem ehemals zentralen britischen Gefängnislager in Nordirland. Der Raum misst vier mal vier Meter, der Verputz bröckelt von den Wänden, rechts vom Bett ist die Tür, gegenüber ein kleines Waschbecken, links das halb zugemauerte Fenster. Um ihn herum stehen die Kinder und Angehörigen von Marcus Murray, James Tierney und George Murdoch und hören gebannt zu. Die drei waren ebenfalls IRA-Mitglieder gewesen, haben zwischen zwölf und sechzehn Jahre ihres Lebens in Long Kesh verbracht und sind zum ersten Mal seit ihrer Haft wieder hier. All das Elend der damaligen Zeit ist an ihren Gesichtern abzulesen, die Schikane der Wärter, die Hoffnungslosigkeit, die vielen vergeblichen Proteste. Und vor allem die dramatischen Monate der Jahre 1980 und 1981 – jene Monate, die den nordirischen Konflikt weltweit ins öffentliche Bewusstsein rückten, weil in ihrem Verlauf zehn republikanische Gefangene in der Krankenstation von Long Kesh ihr Leben verloren.
Begonnen hatte ihr Besuch der alten Leidensstätte, die seit dem Jahr 2000 nicht mehr benutzt wird, anderthalb Stunden zuvor. Sie waren durch die alten, halb zerfallenen Baracken mit den runden Wellblechdächern gegangen, in denen die britischen Behörden ab 1971 wahllos Verdächtige über Jahre hinweg interniert hatten. Sie hatten den vom britischen Nordirlandministerium beauftragten Führer korrigiert (Besuche von Long Kesh, das die BritInnen seit Mitte der siebziger Jahre «Maze-Gefängnis» nennen, müssen angemeldet werden), wenn sich dieser irrte: «Nein, der Verhörraum lag da drüben!» Sie betraten vorsichtig den betonierten, kleinen Sportplatz: «Auf dem habe ich mir meine Knie kaputtgemacht», sagte Tierney, «weil ich mich fit halten wollte und die Runden so eng waren.» Sie staunten über den zentralen Kontrollraum mit seinen vielen Monitoren: «Wenn wir den damals in den Griff bekommen hätten, wären nicht nur 38 von uns abgehauen, sondern alle», sagte Murray, der beim grossen Gefängnisausbruch von 1983 mit dabei war, aber kurz danach wieder erwischt wurde.
Sie nickten, als der Mann vom Ministerium die «englische Gefängnisarchitektur» der acht H-förmigen Blocks erläuterte, in die ab 1976 alle eingesperrt wurden – ebenerdig angelegt, sodass niemand wusste, wo die Aussenmauer ist, mit Überwachungsposten in der Mitte der H-Blocks, von der aus alle Gänge überblickt werden konnten, und immer eine Wand oder ein Gitterzaun vor Augen, sodass viele mit der Zeit jedes Gefühl für räumliche Distanz verloren. Sie sprachen von der harten Zeit des Deckenprotests (vgl. nebenstehenden Text) und lachten auch, wenn ihnen Geschichten einfielen über die Solidarität der Gefangenen untereinander und dazu, wie sie die Screws, die Wärter, austricksten. Hatten sie nicht alle Gälisch gelernt, damit die ihren Gesprächen nicht folgen konnten? Und gab es da nicht jenen Priester, der jede Menge Tabak ins Gefängnis schmuggeln konnte, weil die Behörden nicht unter seine Soutane schauten?
Sieg? Niederlage?
Am Ende des Rundgangs – in der Krankenstation – aber erstarrten alle. Kein Gelächter mehr, keine Erzählungen, nur gedämpftes Murmeln oder Schweigen. Denn in jedem der acht Krankenzimmer war mindestens einer der zehn Hungerstreikenden von 1981 jämmerlich verreckt: Bobby Sands in Zimmer Nr. 8, Joe McDonnell in Zimmer Nr. 4, Raymond McCreesh in Zimmer Nr. 5. Hier also taten die Helden der republikanischen Bewegung ihren letzten Atemzug. Und so hören sie nur noch Tommy McKearney zu, der am ersten Hungerstreik von 1980 teilgenommen hatte, also dabei gewesen war bei der grossen Auseinandersetzung, beim Kampf der zu allem entschlossenen, aber ohnmächtigen Gefangenen mit der ebenso hartnäckigen Regierung von Margaret Thatcher.
McKearney hatte den ersten Hungerstreik nur knapp überlebt, Jackie McMullan war am zweiten Hungerstreik beteiligt. 48 Tage lang hatte der heute 50-Jährige aus Westbelfast die Nahrung verweigert – bis der Streik ergebnislos abgebrochen wurde (vgl. unten). Hat er dieses Resultat als Niederlage empfunden? «Nein», sagt McMullan, «im Nachhinein gesehen haben wir gewonnen. Wir haben den Willen der britischen Regierung gebrochen.» Wie das? «Kaum war der Hungerstreik vorbei, haben die uns alles zugestanden: Wir konnten unsere eigene Kleidung tragen, uns in den H-Blocks frei bewegen und waren nicht zur Arbeit verpflichtet. Wir hatten de facto einen politischen Status durchgesetzt.» Überhaupt sieht McMullan, der der Führung der IRA-nahen Partei Sinn Féin nahesteht, die Dinge recht optimistisch: Der Kampf habe sich gelohnt, die irische Wiedervereinigung sei nur eine Frage der Zeit. Nur als Held versteht er sich nicht. Er hat ja überlebt. Ausserdem werden Helden meist besser behandelt: McMullan ist, wie rund achtzig Prozent der etwa 8000 ehemaligen politischen Gefangenen von Westbelfast, arbeitslos.
«Der Hungerstreik endete in einer Niederlage», sagt hingegen Bernadette McAliskey. Sie war in den sechziger Jahren Sprecherin der nordirischen Bürgerrechtsbewegung gewesen und hatte sich wieder engagiert, als die Gefangenen ihre Proteste begannen. Sie trat bei zahllosen Veranstaltungen und Kundgebungen auf, war im Januar 1981 als führendes Mitglied des Nationalen H-Block-Komitees Ziel eines britischen Anschlags (den sie mit neun Kugeln im Oberleib nur knapp überlebte) und hatte sich auch danach in viele Verhandlungen eingemischt. Für sie sind die Monate bis zum Oktober 1981, als der Hungerstreik endete, immer noch «eine Zeit des Schreckens», eine «schier endlose Abfolge von Trauerfeiern und Beerdigungen».
Alle seien gelähmt gewesen, niemand habe den Todesreigen stoppen können, keinem sei ein Ausweg aus dem Loch eingefallen, in das sich die Hungerstreikenden durch ihre Stafette begeben hätten – denn wer würde schon einen Kampf für ein Ziel beenden wollen, für das Genossen gestorben waren? «Es gab kein Heldentum, es gab nur schiere Verzweiflung», sagt McAliskey. Und es kam nur wenig Solidarität von aussen. «Die Protestanten haben uns gehasst, die britische Bevölkerung interessierte es nicht, und so blieben nur Leute, die ebenfalls in Schwierigkeiten steckten: die Palästinenser, die Iraner, die Menschenrechtler und ein paar Gewerkschafter.» Das irische BürgerInnentum und der katholische Klerus jedoch, mit denen Sinn Féin heute gemeinsame Sache mache, «und die sich jetzt mit ihrem Engagement brüsten», hätten eine eher dubiose Rolle gespielt.
Die politische Öffnung
Dass sich zwanzig bis dreissig Jahre alte Gefangene zu Tode hungerten, obwohl ihnen jeden Tag bestes Essen vorgesetzt wurde, dass sie «den Briten» bis zum Letzten die Stirn boten, dass sie alles in die Waagschale warfen – das hat die irisch-katholische Bevölkerung von Nordirland nicht ungerührt gelassen. Sie war zwar nicht bereit, das Gefängnis zu stürmen, aber sie wusste, wo sie ihr Kreuz zu machen hatte. Als im April 1981 eine Nachwahl im Unterhaus-Wahlkreis Fermanagh/South Tyrone anstand, drängte McAliskey die Sinn-Féin-Führung, Bobby Sands als Kandidaten aufzustellen – andernfalls werde sie als Kandidatin des H-Block-Komitees selber antreten. Der Trick funktionierte. Sinn Féin, die bis dahin jede Beteiligung an Wahlen abgelehnt hatte, nominierte Sands, der die Wahl auch glatt gewann. Dass der Anführer des Hungerstreiks damit demokratisch gewählter Abgeordneter war, beeindruckte die Weltöffentlichkeit jedoch mehr als die britische Regierung.
Mit ihrer Initiative hatte McAliskey – ohne es zu wollen – Sinn Féin den Weg zu einer politisch-parlamentarisch agierenden Partei geebnet, die «inzwischen ihren Frieden mit den Briten gemacht hat». Nach dem Hungerstreik begannen Gerry Adams und Martin McGuinness von Sinn Féin ihre Geheimverhandlungen mit der britischen Regierung.
Sind die zehn Hungerstreikenden also umsonst gestorben, weil sie ihr Ziel (die offizielle Anerkennung als politische Gefangene) nicht durchsetzen konnten? «Nein», sagt Bernadette McAliskey, «jeder ist für seine Entscheidung selbst verantwortlich. Sie kämpften für das, was ihnen wichtig war: ihre persönliche Integrität, ihre Würde.»
Für Tommy McKearney war der Hungerstreik eine verpasste Chance. Die IRA hätte schon damals ihren bewaffneten Kampf aufgeben und stattdessen die Empörung der Bevölkerung für politische Initiativen von unten nützen müssen, sagt er. Immerhin hatte die Beerdigung von Bobby Sands in Belfast hunderttausend Menschen auf die Beine gebracht. «Doch die IRA-Führung von damals hat lieber mit den Militärs der Gegenseite verhandelt – und feiert heute den Hungerstreik als grosse heroische Tat.»
Long Kesh wird nächstes Jahr abgerissen. Die britische Nordirlandverwaltung plant an Stelle des Riesengefängnisses ein neues Fussballstadion. Nur die Krankenstation und ein H-Block sollen als eine Art Museum erhalten bleiben: Damit die Fussballfans, so sie wollen, kurz vor Anpfiff noch schnell den Ort besuchen können, an dem zehn Hungerstreikende starben. Sinn Féin hat dem Projekt bereits zugestimmt. (pw)
Zwei Hungerstreiks, zehn Tote
Kieran Nugent war der erste, der sich widersetzte. Im März 1976 hatte die Labour-Regierung beschlossen, den Sonderstatus für die irisch-republikanischen Gefangenen aufzuheben, der 1972 vom (konservativen) Nordirlandminister William Whitelaw nach Protesten eingeführt worden war.
Diesem Status zufolge mussten Häftlinge, die in Zusammenhang mit dem Nordirlandkonflikt verurteilt worden waren, weder Gefängniskleider tragen noch Arbeit leisten. Zudem konnten sie sich in den Wellblechhütten von Long Kesh frei bewegen, Besuch empfangen, Essenspakete entgegennehmen. Sie genossen de facto den Status als politische Gefangene.
Nugent war der erste «Terrorist», der nach dem 1. März 1976 rechtskräftig verurteilt wurde und dem der bis geltende Sonderstatus nicht mehr zustand. Er wurde Mitte September 1976 in die neu errichteten H-Blocks von Long Kesh / Maze transferiert – und lehnte die ihm angebotene Gefängniskluft ab. Daraufhin wurden ihm alle Kleider abgenommen und zwei Decken ausgehändigt. Seinem Beispiel folgten hunderte von Verurteilten, die ebenfalls sommers wie winters nackt in ihren Zellen ausharrten, jede Art von Arbeit ablehnten und (von der Öffentlichkeit weitgehend alleingelassen) vor allem ein Ziel verfolgten: Die Anerkennung als politische Gefangene.
Am 27. Oktober 1980, nach vier Jahren «on the blanket», griffen inhaftierte Mitglieder von IRA und INLA (Irish National Liberation Army) zum letzten Mittel, um eine Haftreform durchzusetzen: Sieben von ihnen begannen gemeinsam einen Hungerstreik. Als ihnen die britischen Behörden weitgehende Zugeständnisse signalisierten, brachen sie ihren Protest nach 53 Tagen ab; zwei der Hungerstreikenden – darunter Tommy McKearney – waren zu diesem Zeitpunkt immer wieder ins Koma gefallen und standen kurz vor dem Tod.
Doch die Regierung unter Margaret Thatcher hatte die Gefangenen getäuscht: Es gab keine Konzessionen. Als dies klar wurde, trat der kommandierende Offizier der IRA-Gefangenen von Long Kesh, Bobby Sands, Anfang März 1981 in einen neuen Hungerstreik mit neuer Taktik: Nach ihm verweigerten im Wochenrhythmus weitere Gefangene die Nahrungsaufnahme. Auf diese Weise, hoffte man, würde der Druck auf die britische Regierung stetig zunehmen – bis Thatcher einlenkt.
Die Rechnung ging nicht auf: Am 5. Mai 1981 starb Sands nach 66 Tagen Hungerstreik, obwohl der nordirische Wahlkreis Fermanagh/South Tyrone den 26 Jahre alten Republikaner im April als seinen Vertreter ins Londoner Unterhaus gewählt hatte. Sands Tod sorgte weltweit für Proteste: Das indische und das portugiesische Parlament hielten Schweigeminuten ab, weltweit kam es zu Demonstrationen (auch in der Schweiz), die US-Hafenarbeiter blockierten britische Schiffe, der italienische Senatspräsident schickte ein Beileidstelegramm an Sands' Familie, im Iran und in Frankreich wurden Strassen nach ihm benannt.
Doch die Regierung in London blieb hart: Nur sieben Tage später starb Francis Hughes, 25, nach 59 Tagen Hungerstreik. Am 21. Mai folgte der 24 Jahre alte Raymond McCreesh (61 Tage). Am selben Tag starb auch Patsy O'Hara, 23 Jahre alt, ebenfalls nach 61 Tagen. Und so ging es weiter – bis zum 20. August, als auch die inneren Organe von Micky Devine, 23, nach 66 Tagen versagten.
Anfang Oktober 1981 beendeten die Gefangenen, die nach dem Tod von Sands, Hughes, McCreesh, O'Hara, Joe McDonnell und den anderen mit dem Hungerstreik begonnen hatten, ihren Protest. Der Priester Denis Faul, der sich schon früher für die Belange der Inhaftierten eingesetzt hatte, gleichzeitig aber auch gute Beziehungen zu den Behörden pflegte, hatte die Angehörigen der Hungerstreikenden mobilisiert – und immer mehr Mütter widersetzten sich einer Protestform, die nur das Leben ihrer Söhne forderte, aber wenig Aussicht auf Erfolg hatte. (pw)