Nordirland: Britische Spitzel in der IRA

Phönix und Vampir

6. November 2003 | Wenn die Protestanten wüssten, was er wisse, gäbe es keine Probleme mehr. Das sagte vor zwei Wochen Britanniens Premier Tony Blair. Hat London im langen nordirischen Krieg an allen Fronten mitgemischt?

Text: Bernadette McAliskey; Übersetzung: Pit Wuhrer

«Aus der Asche erhoben sich die Provisionals.» In den späten sechziger, frühen siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts gab es kaum eine Mauer in den katholischen Ghettos von Nordirland, auf der dieser Spruch nicht zu lesen war. Er bezog sich auf die Pogrome von 1969. Damals hatten ProtestantInnen, angeführt von ihrer Polizei, die katholischen Quartiere von Derry und Belfast überfallen und ganze Häuserzeilen in Brand gesteckt. Die dort wohnenden Arbeiterfamilien packten so viel, wie sie tragen konnten, und flohen – viele bis in die Republik Irland, manche kehrten nie wieder zurück. Angesichts der heutigen Weltlage fällt es schwer, zu glauben, dass diese Flüchtlingsbewegung eine der grössten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewesen war.

Laut republikanischer* Mythologie war es nur einigen wenigen Mitgliedern der alten Irisch-Republikanischen Armee IRA, die Waffen ausgruben, zu verdanken, dass der marodierende protestantisch-loyalistische Mob gestoppt werden konnte. Kurz danach patrouillierten britische Truppen durch die Strassen, und die Provisional IRA, die «Verteidigerin des Volkes», entstand – aus der Asche katholischer Angst und Erniedrigung.

Der Mythos von der Wiederauferstehung spielt keine geringe Rolle in der Psyche der RepublikanerInnen. Der Phönix des Widerstands, der sich da aus einer langen Geschichte fehlgeschlagener Rebellionen erhob, hat damals alle inspiriert, die sich an das acht Jahrhunderte lang währende Elend erinnern konnten, das Britannien uns zugefügt hat. Die Briten sahen das natürlich anders. Denn all ihre Versuche, die irische Bevölkerung und insbesondere die RepublikanerInnen zu kolonisieren, zu zivilisieren und zu zähmen, stiessen über die Jahrhunderte hinweg auf Aufstände und Rebellionen.

Alles haben die Briten an ihren Nachbarn ausprobiert. Sie griffen zu jeder denkbaren Form der Unterdrückung, und manchmal hatten sie auch Erfolg damit. Dennoch gaben die IrInnen nicht klein bei. Jede Niederlage, die sie zuvor erlitten hatten, stärkte den Glauben an den kommenden Sieg. Dieser Schatten der Rebellion verschwand nie; er bestimmte über Jahrzehnte, über Jahrhunderte hinweg die Entscheidungen Londons. Unsere Helden waren und sind ihre Schurken, unser Phönix war und ist ihr Vampir.

Um einen Vampir zu zerstören, muss man ihm bekanntlich einen Pfahl durch das Herz treiben; nur dann kann er, wenn die Dämmerung einsetzt, nicht mehr aus dem Reich der Toten zurückkehren. Eine solche Operation erfordert sorgfältige Vorbereitung. Der Pfahl muss gut gespitzt sein, und dafür braucht es ein scharfes Pfahlmesser («stake knife»), wie wir das Jagdmesser mit feststehender Klinge nennen.

Wer ist Stakeknife?

Über ein solches Messer verfügen die britischen Regierungen offenbar seit über dreissig Jahren; schon 1969 hatten die britischen Geheimdienste einen oder mehrere Agenten ziemlich nah am Herzen der damals gerade neu entstehenden IRA platziert. Als die Medien im Mai 2003 über den oder die Agenten berichteten, sassen diese immer noch an zentralen Stellen in der Organisation, mit der sie gross geworden waren. Der Codename für den beziehungsweise die Agenten lautete «stake knife».

Nach dieser Enthüllung jagten sich die Beschuldigungen und Dementi. Die IRA verurteilte die Story als Teil eines «Propagandakriegs» zur Destabilisierung der IRA und des Friedensprozesses. Die britische Regierung bewahrte offiziell zwar Stillschweigen, liess aber weiter Informationen durchsickern. Für eine kurze Zeit geriet die Welt der Spionage zur Farce. Agenten, Spitzel und InformantInnen drohen ihrer Arbeitgeberin – der britischen Regierung – mit Klagen, weil sie sich in dem einsetzenden Frieden nicht genügend geschützt fühlten; und mit jedem Tag schwand die Aussicht, dass jemals eine Wahrheitskommission oder eine öffentliche Untersuchung ans Licht fördern würde, was in den letzten Jahrzehnten wirklich gespielt wurde.

Doch die Farce hatte schon vorher begonnen. Im März 2002 fiel die bis dahin undurchdringbare Festung von Castlereagh, das Verhörzentrum der nordirischen Polizei, in dem Tausende schikaniert und gefoltert worden waren, einem Raubzug zum Opfer. Eine kleine Gruppe bewaffneter und maskierter Männer spazierte praktisch am helllichten Tag in das bestbewachte Gebäude von Belfast und klaute geheime Unterlagen.

Natürlich verdächtigten alle zuerst die IRA, die auch kurz in dem Ruhm badete, den solch kühne Taten erzeugen, dann aber die Tat bestritt und britische Geheimdienste beschuldigte. Die öffentliche Meinung hielt das IRA-Statement für glaubwürdiger als die Beschuldigung der IRA durch die Regierung; viele gehen davon aus, dass der britische Inland-Geheimdienst MI5 die Finger im Spiel hatte. Auf alle Fälle verschwanden bei dem Raub auch vertrauliche Unterlagen über Polizei- und Armeespitzel.

Im Oktober 2002 untersuchten dann Polizeikräfte in einer vorher breit angekündigten Razzia die Büros der Sinn-Féin-MinisterInnen in der Regionalregierung, die vorher in Kenntnis gesetzten Medien waren hautnah dabei. Die IRA-nahe Partei Sinn Féin habe die protestantische Unionist Party UUP, die mit ihr in der Regionalregierung sitzt, und die britische Nordirland-Behörde ausspioniert, lautete die Beschuldigung.

Alle JournalistInnen im Umkreis von fünfzig Meilen wussten von der Durchsuchung, und alle spielten brav die ihnen zugedachte Rolle in dem vom Fernsehen übertragenen Drama: Die Polizei schleppte die Sinn-Féin-Regierungsmitglieder und kistenweise Unterlagen ab, danach kollabierte die Regionalregierung, London übernahm wieder die Verwaltung Nordirlands. Der vereinbarte Prozess zur Lösung des Konflikts brach zusammen, jeder beschuldigte den anderen, nur der schmutzige Krieg ging weiter.

Mit dabei an allen Fronten

Wenn die Stakeknife-Geschichte stimmt, und daran gibt es keinen Zweifel, dann hatte die britische Regierung seit Kriegsbeginn vorab Kenntnis von allen Diskussionen innerhalb der IRA, von allen IRA-Plänen und -Strategien. So gesehen bekommt die IRA-Anschuldigung, derzufolge die britische Regierung vor allem aufgrund ihrer Repressionspolitik für den Krieg verantwortlich gewesen sei, eine ironische Note.

Denn alles deutet darauf hin, dass Britannien seit Beginn des Krieges die Entscheidungen und Handlungen sämtlicher Krieg führenden Parteien beeinflusste. Dass britische Geheimdienste die loyalistisch-protestantischen Paramilitärs anleiteten und kontrollierten, ist hinlänglich bekannt. Kam es also zu diesem Krieg, unter dem so viele zu leiden hatten, und dauerte er so lange, weil die britischen Geheimdienste an allen drei Fronten mitmischten und sich gegenseitig bekämpften? Viel Stoff für einen surrealistischen Film.

Das Leiden, der Tod und die Zerstörung, die dieser Krieg verursachte, sind weniger surreal. Zumindest ein Stakeknife war direkt oder indirekt an der Ermordung von rund vierzig Mitgliedern der katholisch-nationalistischen Bevölkerung beteiligt, denen vorgeworfen wurde, als InformantInnen die IRA-Aktivität gefährdet zu haben. Stakeknife, der Spitzel der Briten, war in der IRA für die Abwehr von anderen Spitzeln zuständig.

Um ihren wertvollen Mann zu schützen, zögerten die britischen Dienste auch nicht, völlig Unbeteiligte über die Klinge springen zu lassen. Ziemlich gesichert ist die Geschichte von einem britischen Agenten, der ein loyalistisches Killerkommando (in das er eingeschleust worden war) auf eine falsche Spur führte. Die Todesschwadron hatte es auf Stakeknife abgesehen – ermordete aber aufgrund der Information, die ihnen der Agent zuspielte, den Rentner Francesco Notorantonio. Sein Pech war, dass er von italienischen ImmigrantInnen abstammte – wie Freddie Scappaticci, Chef der IRA-Abwehr und ein guter Freund von Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams. Dass Scappaticci Stakeknife war, steht für die Medien fest, auch in der republikanischen Bevölkerung zweifelt kaum jemand daran.

War Scappaticci, der die Anschuldigung weit von sich wies und weiterhin in Westbelfast lebt, Mitglied des berüchtigten IRA-Greifkommandos? Warum haben ihn dann die Behörden, die sonst jeden Verdächtigen sofort festnageln, bis heute nicht verhört? Warum hat niemand wissen wollen, was er über die vierzig Toten sagen kann, die sich die IRA «gegriffen» hat? Niemand interessiert sich für Stakeknife und Scappaticci – schon gar nicht Sinn Féin und die IRA. Die glauben seinem Dementi schon aus praktischen Erwägungen: Ihn anzuklagen, käme ja dem Eingeständnis gleich, dass es mindestens ein Stakeknife an ihrer Führungsspitze gab. Ausserdem ist es derzeit nicht opportun, einen britischen Agenten, wie das früher Brauch war, einfach umzubringen. Scappaticci und Stakeknife sind Geschichten von gestern.

Drehbuch mit Fehler

Dass in diesem Fall niemand Genaues wissen will, hat den ohnehin schon komplexen Friedensprozess weiter kompliziert. Wer kann wem noch glauben? Die UUP-Spitze um David Trimble hatte im letzten Herbst wegen angeblicher Spitzeleien die ohnehin ungeliebte Allparteienregierung mit Sinn Féin platzen lassen. Wenn es innerhalb der IRA Spione geben konnte, dann gibt es sie überall. Ein gefundenes Fressen für die protestantischen UnionistInnen. Ein halbes Jahr danach verschob die britische Regierung die Wahl zur nordirischen Versammlung, die im Juni hätte stattfinden sollen, auf unbestimmte Zeit. Und setzte den «demokratischen Prozess», der mit dem Karfreitagsabkommen 1998 mit grossem Tamtam angekündigt worden war, kurzerhand aus.

Es folgten Monate intensiver Verhandlungen. Die Republikaner und Nationalistinnen forderten eine Neuwahl der Versammlung und eine Zusicherung der UnionistInnen, das Regionalparlament nicht jedes Mal auflösen zu lassen, wenn ihnen etwas nicht passt. Diese befürworteten ebenfalls Wahlen, verlangten aber, dass Sinn Féin erst dann in die vom Karfreitagsabkommen festgelegte Allparteienregierung eintreten dürfe, wenn sich die IRA völlig entwaffnet habe. Um dem britischen Wunsch nach einer Wahl noch in diesem Jahr nachzukommen, trafen sich UUP und Sinn Féin sogar zu bilateralen Gesprächen.

Und so kam es am 21. Oktober zu einer filmreifen Abfolge an Ereignissen: Zuerst verkündete Tony Blair den neuen Wahltermin (26. November), dann sprach Gerry Adams von einer neuen Abrüstungsinitiative der IRA (Applaus von allen Seiten), worauf die IRA die Bühne betrat und Adams' Statement wiederholte (Umarmungen, Küsse, Händeschütteln) und alle nur noch auf den ebenfalls abgesprochenen Part von zwei Akteuren warteten – auf eine Bestätigung des Abrüstungsbeauftragten John de Chastelain und auf ein Lob des UUP-Chefs David Trimble. Doch de Chastelains Auftritt war merkwürdig flau, und Trimble fiel völlig aus dem Skript: Ein weiterer Abrüstungsschritt genüge nicht, sagte er, die IRA müsse sich ganz entwaffnen.

Blair hatte den Wahltermin verkündet, bevor Sinn Féin und UUP ihre Zugeständnisse gemacht hatten, und so zogen die UnionistInnen ihr Angebot im Laufe des Tages wieder zurück. Die Medien berichteten später über Geheimdienstmeldungen, laut denen die IRA General de Chastelain so lange festgehalten haben soll, bis der Wahltermin verkündet war. Sie teilten jedoch nicht mit, ob die Geheimdienstquelle innerhalb der IRA den Codenamen Stakeknife trägt.

Der Pfahl sitzt tief. Die Organisation, die heute noch den Namen IRA trägt, wird es kaum mehr ins Reich der Lebenden schaffen, egal, wie gross die Widersprüche und die sozialen Ungerechtigkeiten sind. Dieser Vampir ist endgültig tot. Phönix hingegen – jener imaginäre Vogel unserer Hoffnung – ist nicht so leicht umzubringen.


* «Republikanisch» nennt sich jener Teil der katholischen Bevölkerung, der bislang eine Abtrennung Nordirlands vom Vereinigten Königreich auch mit Gewalt befürwortete, während die gemässigten NationalistInnen eine einheitliche irische Nation wünschen. Die protestantischen UnionistInnen pochen auf die Union mit Britannien, die militanteren Loyalisten (loyal zur Krone) kämpfen dafür auch mit der Waffe.


Stolperpfad zur britischen Lösung

●1998: Im Karfreitagsabkommen vereinbaren London, Dublin und die grossen nordirischen Parteien die Bildung einer Regionalversammlung und einer von allen Parteien gestellten Regierung. Damit soll der Konflikt gelöst werden. IRA und Sinn Féin verzichten auf ihre bisherigen Ziele (Vertreibung der Briten, Zusammenschluss mit der Republik Irland); die UnionistInnen akzeptieren dafür Sinn Féin als Koalitionspartnerin.

● 1999-2002: Die Regionalregierung wird von London immer wieder suspendiert, weil die UnionistInnen ständig neue Bedingungen stellen. Grund dafür: Die protestantische Bevölkerungsmehrheit sieht sich durch das Karfreitagsabkommen benachteiligt, obwohl es die Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich stärkt. Daran ändern auch die Massnahmen der IRA nichts, die zweimal grössere Mengen ihres Waffenarsenals «ausser Gebrauch» setzt. Die loyalistischen Paramilitärs lehnen bis heute ihre Entwaffnung kategorisch ab.

● Oktober 2002: London suspendiert erneut die nordirische Versammlung.

● Sommer 2003: Im Mai verschiebt Tony Blair die für Juni vorgesehene Neuwahl der Versammlung, weil ein Sieg der Partei von Ian Paisley droht, die den Friedensprozess grundsätzlich ablehnt. Im Juni kommt es fast zur Spaltung der UUP, protestantische Hardliner wollen keine Regierungsbeteiligung der IRA-nahen Partei Sinn Féin, solange es die IRA gibt.

● Herbst 2003: Im September beginnen neue Verhandlungen unter Beteiligung des früheren CIA-Vizechefs Richard Kerr. Am 21. Oktober verkündet Tony Blair (etwas zu früh) das Wahldatum 26. November. (pw)