Irland: Linkes Nein zu Nizza

Nur der Souverän sichert die Souveränität

14. Juni 2001 | Der Vertrag von Nizza, der die Grundlagen für eine Ausweitung der EU schaffen soll, kam in Irland gar nicht gut an. Warum aber lehnte ihn die Mehrheit der Abstimmenden ab?

Text: Bernadette Devlin-McAliskey; Übersetzung: Pit Wuhrer

«Nieder mit dir, du fenischer Hund, und beiss nicht die Hand, die dich füttert!», hiess es in einer politischen Satire, die karikierte, wie arg enttäuscht der britische Imperialismus über die Undankbarkeit der unberechenbaren IrInnen gewesen war. Diese hatten die Wohltaten von Mutter England nach der grossen Hungersnot gar nicht so recht zu würdigen gewusst.

Und nun also ist die Europäische Union (EU) an der Reihe. Auch sie beschwert sich jetzt über die geizigen und undankbaren Kinder des Keltischen Tigers. Hatten sie nicht jahrzehntelang Zuschüsse eingestrichen und ihre Wirtschaft genährt, die allen Wohlstand brachte? Na also.

Es gibt viele Erklärungen für das irische Nein zum EU-Vertrag von Nizza. Die niedrige Wahlbeteiligung habe den Ausschlag gegeben, sagen manche und lassen durchblicken, dass den IrInnen (zwei Drittel blieben der Abstimmung fern) die armen Nachbarn der EU offenbar nicht einmal einen Gang ins Wahllokal wert waren. Doch es gab auch zwei andere Fragen zu entscheiden (die Abschaffung der Todesstrafe, die immer noch im Gesetzbuch stand, und die Zustimmung zur Einrichtung des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs gingen glatt durch).

Ein wenig Trost dürften die Regierung und die anderen BefürworterInnen des Nizza-Vertrags jetzt aus einer Umfrage ziehen, die eine Sonntagszeitung veröffentlichte. Danach haben neunzig Prozent ihr Fernbleiben mit ungenügendem Wissensstand und einem Mangel an Informationen begründet. Ihre Abstinenz war mithin ein sehr vernünftiger und verantwortungsvoller Akt – und nicht Ausdruck einer selbstsüchtigen Haltung. Sie zeigten damit der Regierung, dass diese nicht einfach mit einer Zustimmung der Bevölkerung rechnen kann. Tröstlich für die Regierenden ist das Umfrageergebnis insofern, als es sie hoffen lässt: Vor dem nächsten Referendum, das noch vor Ende 2002 erwartet wird, werden die EU-BefürworterInnen wohl stärker agieren und besser informieren.

Schlecht vorbereitet

Dies setzt allerdings voraus, dass die Regierung selber versteht, worum es überhaupt geht. Das war diesmal nicht der Fall – die zuständigen Minister verhedderten sich allesamt im Dickicht der Details. Der eloquenten und sachkundigen grünen Europa-Abgeordneten Patricia McKenna waren sie jedenfalls nicht gewachsen. Die Grünen haben zwei gewichtige Argumente vorgelegt. Dem ersten zufolge braucht es gar keinen Vertrag zur Erweiterung der EU. Bis zu fünf Staaten können der EU beitreten, ohne dass dies allgemeinvertraglich geregelt wird. Warum, so die Grünen, liess man also nicht fünf Staaten zu? Diese hätten dann über die nächste Ausweitung mitverhandeln und vielleicht sogar bessere Bedingungen für die Beitrittswilligen erkämpfen können. Dass ein solches Vorgehen nicht in Betracht gezogen wurde, zeige nur, dass es den mächtigen Staaten nicht um eine Vergrösserung der EU gehe, sondern um Expansion.

Die KritikerInnen befürchteten doch nur einen möglichen Machtverlust Irlands in einer grösseren EU, konterte die Regierung. Damit zeigte sie jedoch, wie wenig sie die Argumente verstand. Denn die Grünen und auch Sinn Féin lehnen vor allem die ungleichen (und schlechten) Bedingungen ab, die den BeitrittskandidatInnen gestellt werden. Das kam gut an: Wer mit dem «Recht der kleinen Nationen» argumentiert, findet in Irland viele offene Ohren.

Die Beitrittsländer hätten sich mit den Bedingungen doch einverstanden erklärt, erwiderten die VertragsbefürworterInnen; ausserdem würde ganz Europa ein irisches Nein als Ausdruck schäbiger Undankbarkeit begreifen angesichts der vielen Subventionen, mit denen Brüssel den irischen Wohlstand ermöglicht habe. Damit liefen sie allerdings in ein offenes Messer: Genau dies, so die Grünen, werde den neuen Beitrittsländern doch vorenthalten – die neuen Beitrittsbedingungen seien mit jenen, die damals für Irland galten, nicht zu vergleichen. Und zudem, so Sinn Féin, hätten auch in Irland längst nicht alle vom EU-Beitritt profitiert: Die Zahl der Kleinbauern ist nach Irlands EU-Beitritt rapide gesunken, die Landbevölkerung fand kein Auskommen mehr und zog in die Grossstadt, die Kluft zwischen Arm und Reich wurde tiefer.

Dass sie selbstsüchtige Nachbarn seien, lassen sich die IrInnen auch von der eigenen Regierung nicht vorhalten. Im Durchschnitt spendet die irische Bevölkerung weitaus mehr Geld für Entwicklungsprojekte als die Menschen anderer westeuropäischer Staaten – ihre freiwillige Hilfe ist auch viel grosszügiger als die der Dubliner Regierung.

Neutrales Irland

Der zweite gewichtige Einwand gegen den Vertrag berührt einen komplexen Aspekt der irischen Selbstwahrnehmung – die Neutralität. Laut Verfassung hat die Regierung der Republik Irland nicht das Recht, in einen Krieg zu ziehen, der nicht auf irischem Territorium stattfindet. Der lange, gewaltsame Kampf um Selbstbestimmung und die Tatsache, dass Iren von Britannien so oft in Kriege geschickt wurden, die nichts mit ihnen zu tun hatten (von Kolonialfeldzügen bis zum Ersten Weltkrieg), hat zur Formulierung dieser Verfassungsvorschrift geführt. Gewiss, das Neutralitätsgebot wurde von der Regierung bisher immer arg grosszügig ausgelegt. Dennoch darf nicht sie, sondern nur die Bevölkerung über so wichtige Fragen wie die von Krieg und Frieden entscheiden.

Genau darum ging es den GegnerInnen der EU-Reform. Der Vertrag von Nizza überträgt den Regierungen, nicht aber der Bevölkerung, alle Entscheidungsmacht. Die Grünen und die Linke sahen also nicht nur Neutralität und nationale Souveränität gefährdet; sie widersetzten sich vor allem der Entmachtung des Souveräns. Nur dieser Souverän (das Volk), sagten sie im Einklang mit der Verfassung, dürfe über zentrale Angelegenheiten wie Militäreinsätze befinden. Sie gingen damit weit über die konservative Neinfront hinaus, die nur die nationale Souveränität in den Mittelpunkt gestellt hatte. Das linke Nein überzeugte auf dieser Insel, deren BewohnerInnen so lange für ihre Souveränität hatten streiten müssen. Die Regierung wird das nächste Mal viel arbeiten müssen.


PS: Das hat sie ja dann auch getan. Bei der zweiten Abstimmung über den Nizza-Vertrag am 19. Oktober 2002 stimmten rund sechzig Prozent der irischen Bevölkerung dafür.

Dasselbe Spiel (so lange abstimmen lassen, bis das Ergebnis passt) wiederholte sich dann beim EU-Vertrag von Lissabon. Auch hier widersetzten sich die IrInnen zuerst – im Juni 2008 votierten 53 Prozent gegen das Vorhaben; erst im Oktober 2009 sprach sich eine Mehrheit dafür aus.