Nordirland: Von der Sprengkraft des Geldes
Lockende Fessel
30. November 2000 | Mit viel Geld versuchen London und Brüssel die Wunden zu heilen, die der Krieg geschlagen hat. Ein paar Hintergedanken sind auch dabei.
Anfangs, sagt Ray Mullan, anfangs hätten sie das Geld recht grosszügig verteilt. Da sei es auch mal vorgekommen, «dass wir Weihnachtsfeiern von Rentnern finanziert haben, vorausgesetzt, es waren Mitglieder von beiden Gemeinschaften vertreten». Irgendwann seien er und der Community Relations Council (CRC), für den Mullan arbeitet, jedoch darauf gekommen, dass die Festgemeinden die Feiern zwar genossen, und zum Teil ProtestantInnen tatsächlich erstmals mit einem Katholiken (und umgekehrt) sprachen, aber stets alle kritischen Themen vermieden: Zu einer Auseinandersetzung über die Gegensätze und über die Kluft, die Nordirland durchzieht, sei es auf dieser Basis leider nie gekommen. Also habe der 1990 entstandene interkonfessionelle CRC neue Kriterien für die Vergabe von Fördermitteln entwickelt, und das laufe mittlerweile auch sehr gut.
Kein Wunder: Seit die Europäische Union (EU) tief in die Tasche greift, gedeihen überall so genannte Community-Projekte. Nach dem Waffenstillstand der IRA und der pro-britischen Paramilitärs 1994 hatte die EU zur Stärkung des nordirischen Friedensprozesses einen «Fonds für Frieden und Versöhnung» gebildet und regierungsferne Institutionen wie den CRC mit der Mittelvergabe betraut. In einer ersten Tranche für den Zeitraum 1995 bis 1999 stellte der EU-Fonds rund 926 Millionen Franken bereit, für die zweite Runde (2000 bis 2004) sind rund 790 Millionen veranschlagt. Während es zuerst mehr Geld als AntragstellerInnen gab und jede Kneipenrunde mit gemischter Besetzung als förderungswürdig erachtet wurde, konnte der CRC bald auswählen. Heute unterstützt er rund zweihundert katholische und protestantische Projekte, die auf vielerlei Art der Konfliktbewältigung dienen oder die Kompetenz zur Konfliktlösung stärken: Frauengruppen, Mietervereinigungen, Weiterbildungsinitiativen, freiwillige Sozialberatungsstellen, Gemeinschaftszentren.
Die Unschuldsengel vom Mittelstand
Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass neben den zweihundert Millionen Franken (die London alljährlich für friedensbegleitende Massnahmen ausgibt) auch die EU Geld zur Verfügung stellt, hätte man in den Arbeitervierteln (wo der Krieg vor allem stattfand) nicht lange nach förderungswürdigen Projekten suchen müssen, erinnert sich CRC-Sprecher Ray Mullan: «Dort gab es bereits eine Vielzahl von Gruppen, die sich darüber Gedanken gemacht haben, wie man den Hass und die Intoleranz abbauen kann.» Ganz anders sehe es hingegen in den besseren Wohngegenden aus. «In den Arbeitervierteln wissen die Menschen, dass sich etwas ändern muss. In den mittelständischen Quartieren mit den schönen Autos, den hübschen Gärten und den hohen Mauern glauben sich alle gegen Bigotterie und Rassismus gefeit - die Troubles sind ein Problem der unteren Klassen, heisst es da.»
Dabei hätten die Bessergestellten genauso viele Vorurteile, sie könnten sie nur besser kaschieren. «Die Mittelschichten gehen diesen Themen aus dem Weg», sagt Mullan, «weil sie glauben, Schweigen diene der Konfliktbewältigung. Doch das Gegenteil ist richtig: Man muss die Unterschiede ansprechen.» Betriebe und Behörden wollten ebenfalls lange nicht einsehen, dass sich Respekt und Toleranz nicht dekretieren lassen; inzwischen haben zumindest öffentliche Ämter begonnen, ihre Belegschaften unter fachkundiger, EU-finanzierter Anleitung zu schulen.
In den Arbeiterquartieren wollten sich viele Projekte mit Weiterbildung beschäftigen, andere planten die Vernetzung über den politischen Graben hinweg. Einige Initiativen beantragten den Bau von Gemeindezentren, manche wünschten den Einsatz von GemeinwesenarbeiterInnen, einzelne waren schon zufrieden, wenn sie das Büro ihrer Initiative mal wieder renovieren konnten.
Rat mit Rache
Manchen Leuten verhalf der unverhoffte Geldsegen sogar zu einer neuen Perspektive; Jim McCabe ist einer von ihnen. Der heute Fünfzigjährige engagierte sich erstmals, nachdem die nordirische Polizei seine Frau Nora erschossen hatte. Das war im Jahre 1981 während des grossen Hungerstreiks gewesen. Nora McCabe wollte sich am Morgen des 8. Juli 1981 in der nahe gelegenen Falls Road Zigaretten holen, als sie ein Hartplastikgeschoss mitten ins Gesicht traf. Am nächsten Tag starb die 33-jährige Mutter dreier Kinder.
Der Tathergang wurde offiziell nie aufgeklärt. Das Geschoss war aus einem Fahrzeug der nordirischen Polizei RUC abgefeuert worden, doch die Polizei erklärte, sie habe lediglich auf randalierende Jugendliche geschossen. Auf den Videobildern eines kanadischen Fernsehteams, das die Szene zufällig gefilmt hatte, waren jedoch weit und breit keine Jugendlichen zu sehen - nur der Schuss und die fallende Frau. Jim McCabe gab seinen Job bei einem Buchmacher auf, irgendwer musste sich ja um die Kinder kümmern. Die britische Nordirlandverwaltung zahlte ihm eine Entschädigung - mit der Auflage, die Summe nie zu nennen und auf weitere juristische Schritte zu verzichten. Dass er damals übers Ohr gehauen wurde, weiss Jim McCabe heute.
Später rief er die Kampagne gegen Plastikgeschosse ins Leben. Er malte Plakate, organisierte Pressekonferenzen und reiste nach Britannien, Italien und Kanada, um über die lebensgefährlichen Geschosse zu informieren, die in den siebziger und achtziger Jahren massenhaft eingesetzt wurden. Während Armee- und RUC-Sprecher von der Effizienz dieses «an sich harmlosen» Aufstandsbekämpfungsmittels schwärmten, berichteten er und seine MitstreiterInnen von den siebzehn Toten (fast die Hälfte davon waren Kinder), von den Verletzungen (die elffache Mutter Emma Groves erblindete, weil sie ein Geschoss im Gesicht traf) und davon, dass manche Soldaten und Polizisten die Geschosse mit Rasierklingen spickten. Anfang der neunziger Jahre erlahmte die Initiative (die Geschosse wurden nur noch selten eingesetzt), Jim McCabe – inzwischen völlig verarmt – verfiel in Lethargie. Seine Kinder waren inzwischen gross geworden. McCabe kam erst wieder auf die Beine, als sich die Organisation «Relatives for Justice» (RFJ) dank EU-Geldern ein Büro einrichten konnte.
Diese Gruppe, die Interessen von Opfern staatlicher Gewalt und deren Angehörigen vertritt, hat seit 1999 eine Anlaufstelle. Ihre Mitglieder arbeiten nun nicht mehr an Wohnzimmertischen, sondern in einem mit Telefon, Computern und Sitzecke ordentlich ausgestatteten Büro an der Falls Road. Dorthin geht Jim McCabe jetzt jeden Vormittag. Er arbeitet freiwillig, die Aufgabe macht ihm Spass, und es ist wohl auch ein kleines bisschen Rache im Spiel, wenn er die Ratsuchenden besonders eindringlich darauf hinweist, dass sie Anspruch auf Entschädigungsleistungen haben. Auf dem normalen Arbeitsmarkt findet Jim McCabe keine Stelle mehr; er ist zu alt, zu krank und (dank einiger TV-Interviews) wohl auch zu bekannt. Aber wenn die jetzt beantragten Zuschüsse bewilligt werden, könnte er im Rahmen des RFJ-Projekts eine bezahlte Stelle bekommen.
Keine Entschuldigung, keine Wahrheit
Das RFJ-Büro nutzen noch weitere Gruppen: der Bloody-Sunday-Trust (eine Stiftung zur Aufklärung des Blutsonntags von Derry), die Monaghan-und-Dublin-Gruppe (die die Hintergründe der protestantischen Bombenanschläge in Monaghan und Dublin 1974 aufdecken will), die Pat-Finucane-Initiative (die für eine öffentliche Untersuchung des Auftragsmords an dem renommierten Anwalt kämpft), die Rosemary-Nelson-Organisation (die eine Aufklärung des Anschlags auf die Anwältin fordert).
Auch McCabes alte Kampagne gegen Plastikgeschosse hat unter dem neuen Dach wieder zusammengefunden. Über dreihundert Menschen wurden während der letzten dreissig Jahre von Staatsorganen getötet, die staatlich inspirierten protestantisch-loyalistischen Anschläge nicht mitgerechnet. «Das alles muss endlich aufgeklärt werden», sagt Jim McCabe, und es freut ihn, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der britischen Regierung demnächst wegen der gezielten Erschiessung von IRA-Verdächtigen den Prozess machen will.
In Nordirland melden sich seit dem Karfreitagsabkommen immer mehr Opfer oder deren Angehörige zu Wort, nicht nur die der staatlichen Gewalt, sondern auch die Opfer der republikanischen und der loyalistischen Organisationen. Sie fordern Aufklärung, Bekenntnisse, Entschuldigungen und Wiedergutmachung; die Verantwortlichen sollen endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Doch eine Wahrheitskommission wie in Südafrika wird es in Nordirland nicht geben, denn keine der Konfliktparteien hat auch nur das geringste Interesse, sich nachträglich in die Karten schauen zu lassen. In Nordirland gibt es keine Unschuldigen: britische Staatssekretäre, nordirische Polizeichefs, unionistische Politiker, republikanische Parteivorstände – sie alle haben Blut an den Händen. Und so blüht derzeit in Nordirland das Geschäft der Steinmetze: Als Ersatz für die Anerkennung erlittenen Unrechts werden ständig neue Denkmäler für gefallene RepublikanerInnen und Erinnerungstafeln für die Opfer des IRA-Terrors enthüllt, jeweils zur grossen Empörung der Gegenseite.
Erst das Geld, dann die Lähmung
Der Geldsegen aus dem EU-Fonds hat vielen Initiativen neues Leben eingehaucht und anderen ermöglicht, ihre Bedürfnisse überhaupt erst einmal zu formulieren. Auch aus anderen Quellen sprudelt weiter Geld. Die Zuschüsse haben in den Arbeitervierteln auch eine Vielzahl von Community-Gruppen entstehen lassen, in denen ehemalige Paramilitärs mittlerweile ein gutes Auskommen finden. Der Einkommenssprung ist manchen der neuen «community workers» schon von weitem anzusehen.
Clifford Forbes zum Beispiel stand dem Verhandlungsprozess vor zwei, drei Jahren noch ausserordentlich skeptisch gegenüber. Damals bezeichnete er sich als freiwilliger Sozialarbeiter, und so sah er mit seinen Jeans und dem geflickten Pullover auch aus. Forbes, der in Portadown ein kleines Gemeinschaftszentrum betrieb, galt lange Zeit als rechte Hand des protestantischen Killers Billy Wright. Heute nennt sich Forbes immer noch Sozialarbeiter, fährt aber einen neuen Rover, trägt teure Lederjacken, schmückt sich mit goldenen Hals- und Armkettchen und geht zum Interview ins beste Hotel am Platz. Wem er seinen schnellen Aufstieg verdankt, ist nicht schwer zu erraten – auch die britischen Geheimdienste verfügen über ein Budget. «Der MI5 kauft sich die Leute, damit sie stillhalten», sagen Leute, die es wissen können. So ist vor allem in den republikanischen und loyalistischen Quartieren ein Netz von Community-Gruppen entstanden, deren bezahlte MitarbeiterInnen nunmehr ein grosses Interesse am Fortgang des politisches Prozesses haben.
Langjährige AktivistInnen beobachten diese Entwicklung mit Misstrauen. Zwar sind auch sie froh über jede Unterstützung und die neuen Arbeitsplätze, doch die damit verknüpften Bedingungen (wie jährliche Rechenschaft und politisches Wohlverhalten) wurden ebenso als Zumutung empfunden wie die Tatsache, dass sich der britische Staat von der EU nun die Arbeit in Bereichen bezahlen lässt, für die eigentlich er aufkommen müsste. Und was geschieht, wenn die Regierung (oder die EU) plötzlich den Geldhahn zudreht, weil ihr irgendetwas nicht passt? Viele kleine Sozialeinrichtungen würden die Rückkehr zur früheren Selbstgenügsamkeit kaum verkraften. Und so können sie nun zwar professioneller arbeiten, sind dafür aber abhängig von einem Staat, dem sie nicht über den Weg trauen.
Dieses Dilemma kennen Freiwilligenprojekte auf der ganzen Welt, aber nicht überall sind so viele Basisinitiativen in unmittelbarer Gegnerschaft zum Staat entstanden wie in Nordirland. Wäre es da erstaunlich, wenn der Staat diese Opposition in den Griff zu bekommen versuchte? Im März 2000 wurde bekannt, dass das britische Nordirlandministerium und Mitglieder der nordirischen Regionalregierung die Gelder des EU-Fonds anders verteilt sehen möchten. Das nordirische Finanzdepartement will, dass ein Teil der Mittel der «ökonomischen Erneuerung» zugute kommt; sechzig Prozent des bis 2004 veranschlagten EU-Beitrags sollen künftig in die «Entwicklung der Informationsgesellschaft» fliessen. Wenn sich die nordirische Regierung damit durchsetzt, müssten nach Schätzung der «Financial Times» rund die Hälfte aller lokalen Gemeinschaftsprojekte, Selbsthilfegruppen und Nachbarschaftsinitiativen ihre Tore schliessen. Und zwar für immer. (pw)
Nachtrag: Dieser Text ist ein Auszug aus meinem Buch «Die Trommeln von Drumcree» (Rotpunktverlag, Zürich 2000), das Ende dieser Woche erscheint.