Nordirland: Frauen im Verhandlungsprozess
Der geteilte Feminismus
16. November 2000 | Erst als die wesentlichen Entscheidungen gefallen waren, baten die britischen Befriedungsstrategen auch ein paar Frauen an den Verhandlungstisch. Sozialaktivistinnen gehörten nicht dazu.
Text: Bernadette Devlin-McAliskey, Übersetzung: Pit Wuhrer
Der Nordirland-Konflikt ist ausserordentlich komplex und kreist um viele Fragen. Es geht um Klassen, um nationale Identität, um Selbstbestimmung, um Menschenrechte, um Gleichheit, um sozialen Status, um politische Ideologie, Hoffnungen und Verantwortlichkeiten – und alle darin liegenden Spannungen sollen nun im politischen Konsens des 1998 beschlossenen Karfreitagsabkommens gelöst werden. Dieses garantiert uns Chancengleichheit, Teilnahme an politischen Prozessen und Respekt, denn nun sind wir alle BürgerInnen eines neuen Nordirland.
Der Kampf um BürgerInnenrechte stand am Anfang des Konflikts; dieser Kampf war notwendig gewesen, weil ein grosser Teil der nordirischen Bevölkerung am politischen Leben nicht teilnehmen konnte [das Kommunalwahlrecht war Grundstückbesitzern vorbehalten, und der nordirische Staat diskriminierte bei der Job- und Wohnungsvergabe, pw]. Nicht nur in Nordirland kursierte die Idee, dass sich alle an den politischen Entscheidungsprozessen beteiligen sollten: Die Vorstellung von einer aktiven Ausübung der BürgerInnenrechte, die auf der Einmischung und Teilnahme in allen öffentlichen Bereichen beruht, war in den sechziger Jahren weit verbreitet. Viele Massenbewegungen hatten das partizipatorische BürgerInnenrecht zum Ziel; in den feministischen Organisationen der westlichen Welt war nur die Forderung nach dem Recht auf den eigenen Körper wichtiger als die aktive Ausübung der BürgerInnenrechte – auch in Nordirland verband dieses Konzept die verschiedenen Teile der Frauenbewegung. Die Absicht, sich in alle öffentlichen Belange einzumischen, war ihre Stärke.
In Nordirland (wie fast überall auf der Welt) wird ein beträchtlicher Teil der unabhängigen, basisnahen Gemeinschafts- und Community-Arbeit von Frauen erledigt. Ihr Engagement spielte während des bewaffneten Konflikts der letzten dreissig Jahre eine entscheidende Rolle – die Aktivitäten der Frauen trugen in entscheidendem Masse dazu bei, dass Gruppen, Initiativen und basisnahe Einrichtungen während der kriegerischen Auseinandersetzungen erhalten blieben, dass die verschiedenen Organisationen auf lokaler Ebene in Kontakt miteinander treten konnten, dass die einzelnen Communities miteinander verhandelten und dem Staat in alltäglichen Fragen wie Sozialhilfe, Kinderkrippen oder Erhalt von Gemeindezentren Zugeständnisse abringen konnten.
Vor allem die Frauen organisierten das Überleben der Gemeinschaften. Sie kümmerten sich um die oftmals notleidenden Familien der politischen Gefangenen; sie arbeiteten in Beratungszentren, in denen alle Hilfe und Unterstützung fanden; sie schlichteten Streits in Vierteln, wo keine andere Instanz eingreifen konnte, weil der nordirischen Polizei misstraut wurde. Während sich vor allem Frauen sozial engagierten, führten vor allem Männer den Krieg.
Männer diktieren den Frieden
Doch an den Friedensverhandlungen, die im etablierten Parteiensystem stattfanden, waren die Frauen nicht beteiligt – obwohl sie dank ihrer Erfahrung im Kampf für BürgerInnenrechte und aufgrund ihrer praktischen Kenntnisse im Bereich der Konfliktlösung geradezu prädestiniert gewesen wären für die Suche nach Lösungen. Die Männer in den Führungsgremien der verschiedenen Parteien hatten keinerlei Verhandlungserfahrung: Aufgrund der Polarisierung der nordirischen Gesellschaft und des langen Kriegs gibt es hier beispielsweise die anderswo übliche Lokalpolitik nicht, wo man normalerweise politisches Verhandeln lernt. Wenn überhaupt Politik betrieben wird, dann nur innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft. Das Karfreitagsabkommen wurde aber von den Parteiführern debattiert, ausformuliert und unterzeichnet.
Als nach langen und geheimen Verhandlungen die Grundzüge des Abkommens und der Fahrplan der weiteren Verhandlungen feststanden und nachdem sich die britische Regierung mit ihrem Modell durchgesetzt hatte [ein reformierter nordirischer Staat mit einer Allparteien-Regierung innerhalb des Vereinigten Königreichs, pw), veröffentlichte der britische Nordirlandminister eine Liste jener politischen Parteien, die er zu den Verhandlungen über die endgültige Ausformulierung des Abkommens einlud. Nur Organisationen, die mindestens zwei Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten, sollten an den Gesprächen teilnehmen dürfen. Sozialistische und feministische Organisationen standen nicht auf der britischen Liste. Das war Anfang 1996.
Die «andere» Frauenbewegung
Zu diesem Zeitpunkt meldete sich eine Frauengruppe, die an der Universität von Ulster gerade die nicht vorhandene Präsenz von Frauen in den öffentlichen und politischen Institutionen Nordirlands untersuchte. Mit der Studie waren vor allem Lehrende und Studentinnen beschäftigt. Auch etliche sozial aktive Frauen nahmen daran teil, aber sie kamen zumeist aus Frauengruppen, die die auch unter Frauen strittigen Fragen (namentlich die nationale) mieden und sich lieber auf Bereiche konzentrierten, die alle Frauen betreffen: Gewalt in der Ehe, sexuelle Gewalt, Lohngleichheit, Benachteiligung am Arbeitsplatz aufgrund des Geschlechts.
Diese Themen sind fraglos wichtig, aber beschäftigen vornehmlich eine besondere Gruppe von feministischen Aktivistinnen; die in ihren Quartieren und Dörfern (mit bis zu siebzig Prozent Arbeitslosigkeit) engagierten Frauen hatten mit ganz anderen Problemen zu kämpfen: Wie überlebt eine Frau, wenn der Partner im Gefängnis sitzt? Wo gibt es Arbeitsplätze, die eine Kinderbetreuung ermöglichen? Wie sollen Frauen einer oftmals feindlich eingestellten Sozialstaatsbürokratie begegnen?
Der Charakter des Konflikts brachte es aber mit sich, dass die vor Ort aktiven Frauen zwar der gleichen Klasse angehörten (am unteren Ende der sozialen Hierarchie) und mit denselben Alltagsproblemen zu kämpfen hatten, aber in zwei einander gegenüberstehenden Lagern verwurzelt waren – der irisch-nationalistischen und der britisch- unionistischen Gemeinschaft, wobei die letztere den Staat auf ihrer Seite hatte. Mit einer solchen Spaltung musste sich die «andere» Frauenbewegung nicht herumschlagen – ihr gehörten Intellektuelle, Akademikerinnen und einige Vertreterinnen aus der Arbeiterklasse an, den «ökonomisch benachteiligten Schichten», wie das heute heisst. Sie hatte eine andere wirtschaftliche und politische Basis als die mit den Alltagsfragen beschäftigten Frauen.
Die Erfindung einer Frauenpartei
Die akademischen Aktivistinnen der universitären Frauenforschungsgruppe schrieben also dem Nordirlandminister und kritisierten, dass Frauen im Friedensprozess keine Rolle spielten. Das Ergebnis war eine Einladung: Die Frauengruppe solle sich doch an den Wahlen zum Nordirland-Forum im Mai 1996 beteiligen. So entstand die Nordirische Frauenkoalition. Die Vorsitzende des Fachbereichs für Frauenforschung, Monica McWilliams, wurde nominiert, und bei der Wahl erzielte die Frauenkoalition zwei Prozent der Stimmen.
Diesen Stimmenanteil konnte McWilliams auch bei der Wahl zur Nordirischen Versammlung 1998 (die aufgrund des Karfreitagsabkommens eingerichtet wurde) halten – damit durfte das hektisch zusammengeschusterte und politisch kaum definierte Bündnis von eher mittelständisch orientierten Frauenorganisationen und der Frauenforschungsgruppe im Verhandlungsprozess die nordirischen Frauen repräsentieren (die sozialistischen Parteien hatten mit ihrer Kritik weniger Glück und blieben weiterhin ausgeschlossen).
Damit soll nicht gesagt werden, dass der Einfluss der Frauenkoalition negativ war. Aufschlussreich ist jedoch, dass unser ursprüngliches Konzept einer umfassenden Beteiligung aller Frauen – immerhin ein Eckpfeiler der alten Frauenbewegung – nicht mehr gegeben war. Denn die Interessen, die von der Frauenkoalition vertreten werden, sind nicht deckungsgleich mit den Interessen der an der Basis aktiven Frauen, die in den beiden Gemeinschaften [der katholischen wie der protestantischen, pw] arbeiten. Die Tatsache, dass Frauen am Verhandlungsprozess teilnahmen, bedeutete nämlich noch lange nicht, dass in den Gesprächen zentrale Fragen wie Gleichheit, Demokratie oder frauenspezifische Interessen berücksichtigt wurden.
Drang zur politischen Mitte
Manche sagen (nicht ganz zu Unrecht), dass den vielfältigen Interessen der Frauen in der neuen nordirischen Gesellschaft besser gedient gewesen wäre, wenn sich die Frauenkoalition nicht auf Parteipolitik eingelassen hätte. Sie hätte sich stattdessen darauf konzentrieren können, alle Frauen mit den Kenntnissen und dem Selbstvertrauen auszustatten, die nötig sind, um im politischen Prozess die eigene Meinung und Identität zu vertreten. Gleichzeitig hätte sie für Bedingungen kämpfen können, die eine eigenständige Frauenpolitik erst ermöglichen.
Stattdessen begab sich die Frauenkoalition in die parteipolitische Arena, obwohl sie weder eine Allianz einzelner Frauen mit unterschiedlichen Vorstellungen noch ein Bündnis von Frauengruppen mit einer gemeinsamen politischen Auffassung darstellt. Mit anderen Worten: Inzwischen sind mehr Frauen in anderen Parteien aktiv, die mit der Frauenkoalition (die inzwischen als «Frauenpartei» gilt) konkurrieren – mit der Folge, dass viele in Richtung einer unpolitischen Mitte tendieren, in der nicht einmal mehr jene Themen zählen, über die einst Einigkeit herrschte.
Dies wurde im Juni 2000 deutlich, als das nordirische Regionalparlament auf Antrag der reaktionären Fundamentalisten von Ian Paisleys Democratic Unionist Party über das Recht auf Abtreibung debattierte. Die Frauenkoalition vermied bei dieser Diskussion eine klare Stellungnahme und plädierte dafür, dass doch erst einmal die neue nordirische Regionalregierung darüber befinden sollte.
Es gibt jedoch noch einen Friedensprozess ausserhalb des parteipolitischen Karfreitagsabkommens. Das Europäische Programm für Frieden und Versöhnung versucht mit erheblichen finanziellen Zuschüssen, die sozialen Probleme direkt anzugehen und eine sozio-ökonomische Entwicklung zu fördern, die den Friedensprozess stärkt. Die Ziele dieses Programms sind zwar fragwürdig (Was wird unter Frieden verstanden? Wer profitiert von dieser Strategie?), aber immerhin hat der Europäische Fonds eine Grundlage für Befriedung geschaffen. Ein Teil des EU-Programms fördert ausdrücklich Frauen. Er fördert Ausbildungsprogramme für Frauen, schafft Jobs im formellen wie informellen Bildungssektor und bietet Frauengruppen einen finanziellen Spielraum, der ihnen eine Organisierung in den Quartieren erlaubt.
Guter Ruf, schlechter Ruf
Wie viele anderen Aktivistinnen, die vom politischen Verhandlungsprozess ausgeschlossen waren und dem Karfreitagsabkommen kritisch gegenüberstehen, habe ich mich trotz aller Bedenken entschlossen, an diesem Prozess mitzuarbeiten. Nun bin ich bei einem Projekt beschäftigt, das der Ausbildung und dem Kompetenzerwerb benachteiligter Frauen in den ländlichen Regionen dient. Kürzlich habe ich im Rahmen dieser Tätigkeit ein Seminar zur Weiterqualifizierung von Tutorinnen des Frauenprogramms besucht.
Dabei wurde auch darüber diskutiert, welcher feministische Ansatz der Frauenbewegung ein gutes beziehungsweise schlechtes Image beschert. Alle waren eingeladen, ihre Meinung vorzutragen, und alle waren sich einig. Frauen, die marxistisch orientiert sind, als Lesben auftreten, sich für Abtreibung aussprechen, die Existenz von Gott (beziehungsweise Göttin) in Abrede stellen und dezidierte politische Ansichten vertreten, würden – so die Auffassung – dem Feminismus ein schlechtes Image verleihen. Ein positives Bild hingegen vermittelten Frauen, die sich kümmern, zuhören, sensibel reagieren, für eine Beteiligung von Frauen am politischen Prozess und mehr Chancengleichheit plädieren und die Frauenkoalition befürworten.
In nicht allzuferner Zukunft wird die nordirische Frauenbewegung auch über Politik, Status, Gerechtigkeit und Identität diskutieren müssen; erst durch die Auseinandersetzung wird sie ihre Spaltung überwinden können. Je früher diese Diskussion beginnt, desto besser.
PS: Die frühere Bürgerrechtsaktivistin Bernadette Devlin-McAliskey ist seit kurzem Direktorin des South Tyrone Empowerment Programmes (STEP).