Indien: Der explosive Nordosten

Im Land der Unruhe

26. Februar 2014 | Im indischen Bundesstaat Assam schwelen seit Jahrzehnten Konflikte, die immer wieder in Gewalt umschlagen – auch weil die Zentralregierung in Neu-Delhi auf falsche Lösungen setzt. Unterwegs in Bodoland bei Bodos und MuslimInnen.

Text: Joseph Keve, Kokrajhar; Übersetzung: Pit Wuhrer

«Wohin fahrt ihr?», wollen die beiden jungen Frauen aus Bhutan wissen, die im Zug von Kalkutta nach Guwahati, der grössten Stadt des indischen Bundesstaats Assam, sitzen. Zwei Jahre lang hatten sie einen Wirtschaftskurs im indischen Südosten besucht, und nun fahren sie zurück in ihre Heimat. «Nach Kokrajhar?» Schon der Gedanke lässt sie erschauern.

«Das würden wir nicht tun», sagt die 21-jährige Chimi Dema, «das ist ein viel zu gefährlicher Ort.» Als sie noch klein war, habe ihr Bruder Bier, Orangen und getrocknete Bergfrüchte aus Bhutan in die Dörfer rund um Kokrajhar getragen und dort gegen indische Stoffe und Elektrogeräte getauscht. «Doch dann wurde er von Militanten entführt und eine Woche festgehalten», sagt sie. «Fahren Sie bis Guwahati weiter, das ist eine grosse Stadt, und sicher ist es dort auch», empfiehlt ihre Freundin Yuden Tsering (19).

Und dann erzählen beide, wie über Jahrhunderte hinweg der Handel zwischen Bhutan und Indien gedieh, bis sich die Militanten von der United Liberation Front of Assam, der National Democratic Front of Bodoland und die Kamtapur Liberation Organization südlich der 267 Kilometer langen bewaldeten Grenze zwischen Bhutan und Assam festsetzten. Seither begleiten indische Truppen alle bhutanischen BürgerInnen und Fahrzeuge, die in der Region unterwegs sind.

Um vier Uhr früh kommt der Zug im Bahnhof von Kokrajhar an. Am Eingang ein grosses Transparent: «Willkommen in Kokrajhar, der Hauptstadt von Bodoland». Der kleine Ort mit seinen rund 31.000 EinwohnerInnen ist die grösste Stadt des autonomen Bezirks Bodoland Territorial Area Districts (BTAD) – und liegt verlassen da. Auch nach Sonnenaufgang ist niemand auf den Strassen zu sehen, keine HändlerInnen, keine PassantInnen, keine Fahrzeuge. Die Geschäfte und Restaurants sind geschlossen, nur vereinzelt starren Menschen aus den Fenstern. Seit Wochen schon seien die Läden zu, ruft ein älterer Mann auf Bengalisch, und erst ab zehn Uhr könne man vielleicht ein Transportmittel finden.

Nach einer Stunde nähert sich ein kleiner Dreiradwagen. «In die Dörfer wollt ihr, um etwas über die Unruhen der letzten Zeit zu hören?» Der Fahrer schüttelt den Kopf. «Da könnt ihr nicht hin. Die sind von der Polizei abgeriegelt, und sicher ist es dort auch nicht. Geht zum Bahnhof, und nehmt den Zug nach Guwahati.» Kurz danach kommt plötzlich ein Bus mit der Aufschrift «Don-Bosco-Schule» um die Ecke. Ob der Chauffeur uns mitnehmen könne? Als er uns an der Schule im Zentrum von Kokrajhar absetzt, wirft er uns einen mitleidigen Blick zu. Und Mitleid haben dann auch die Pater der Schule, wir dürfen ein paar Tage bleiben.

Die Opfer der einen Seite …

«Wir leben hier seit drei Generationen», sagt Shobhak Lal. «Meine Söhne wuchsen hier auf, haben geheiratet und sind ins nächste Dorf gezogen. Zwei Kilometer entfernt liegt ein grosses muslimisches Dorf, und es gab nie Probleme. Bis sich dann am 24. Juli 2012 unsere Welt über Nacht auf den Kopf stellte.» Nach Tagen in Kokrajhar Town hatten wir endlich jemanden gefunden, der uns vierzig Kilometer über Feldwege zum Bododorf Divavadi fuhr, wo über ein Dutzend Häuser niedergebrannt worden war, angeblich von Muslimen. Dort stellte uns der Fahrer den Fünfzigjährigen vor.

In jener Nacht, erzählt also Shobhak Lal, habe seine Familie erst Rufe gehört, dann eine Meute mit Sicheln, Eisenstangen und Schlagstöcken gesehen, die alle aufforderten, um ihr Leben zu rennen. Auch die BewohnerInnen anderer Dörfer seien geflohen. «Dann wurden unsere Häuser geplündert und in Brand gesteckt.» Tage später seien er, seine Familie und viele andere von Ordnungskräften in ein Lager geführt worden, wo sie die folgenden acht Monate verbrachten – bis die Regierung das Lager schloss. «Jetzt sind wir wieder hier und haben ein paar Behelfsunterkünfte aufgebaut», sagt Lal und wischt sich Tränen weg. «Aber wir wissen nicht, wie es weitergeht.»

«Hoffentlich bekomme ich keine Schwierigkeiten, wenn ich mit euch rede», sagt seine Nachbarin, während sie sich um ihre Seidenraupen kümmert. «Heutzutage ist ja alles denkbar.» In Massen seien sie gekommen und hätten ihr Haus angezündet, nie zuvor habe sie so etwas erlebt. Im Lager hätten rund 16.000 andere Flüchtlinge ausharren müssen, es gab nie genug zu essen und keine Waschmöglichkeiten. Und das, fürchtet Veena Basumataray (58), könne sich jederzeit wiederholen.

Auf dem Rückweg würden wir gerne ein benachbartes muslimische Dorf besuchen, doch Ramai Nurzary, der Fahrer, weigert sich. «Sorry, ich bin ein Bodo, und für mich sind muslimische Dörfer nicht mehr sicher.» Dann erzählt er die Geschichte von seiner bettlägerigen Mutter, die dreizehn Jahre lang so aufopfernd von einer Muslimin gepflegt worden sei, als wäre sie ihre eigene Mutter – bis sie sich nach den Unruhen strikt weigerte zurückzukehren. «Die Beziehung ist für immer vorbei», habe die Pflegerin gesagt. So seien die Dinge halt.

… und die der anderen

Zwei muslimische Dörfer können wir dann doch noch besuchen, dank der Unterstützung von Freunden in Guwahati, die uns Adressen und Handynummern gaben. Im menschenleeren Hakai Para nahe Kokrajhar Town starben bei den Unruhen elf Menschen, alle Häuser wurden zerstört. Zwei Begleiter, die ihre Namen nicht öffentlich genannt haben wollen, erzählen: Am zweiten Tag der Auseinandersetzungen hätten zahlreiche Angreifer, angeblich Bodos, die EinwohnerInnen vertrieben, ihre Häuser geplündert und dann in Brand gesteckt. Einer von den beiden, das erfahren wir später, war der Dorfvorsitzende. «Weil unser Dorf am Fluss liegt, waren wir während des Monsuns vier Monate im Jahr von der Aussenwelt abgeschnitten», sagt er. Es habe viel Mühe gekostet, hier Häuser und mit Landwirtschaft, Viehzucht und Fischfang einen Lebensunterhalt aufzubauen. «Und jetzt ist alles weg, niemand will hierher zurückkehren.»

Nach Dhura Mari, dem zweiten muslimischen Dorf, begleitet uns Azizur Rehman, Dozent am Mädchencollege in Kokrajhar. Er hat nach den Auseinandersetzungen im Sommer 2012 einen Teil der Hilfsgüter koordiniert und vielen Familien geholfen, sich die Entschädigung von 52.700 Rupien (umgerechnet 620 Euro) plus drei Bündel Nahrungsmittel zu sichern. «Viele Familien warten aber heute noch darauf, dass sie entschädigt werden», sagt Rehman. Von der Zentralregierung in Neu-Delhi sei zwar Geld eingegangen, doch die lokale Verwaltung des halb autonomen Bodo Territorial Council (BTC) habe die Betroffenen in zwei Kategorien aufgeteilt. Die LandbesitzerInnen – zumeist Bodos – bekamen die versprochene Summe, die Landlosen – vorwiegend muslimisch – nur einen Teil davon. In Dhura Mari starben vier Menschen, der Rest der Bevölkerung floh.

Zahn um Zahn

Was war da los? Warum begreifen sich heute noch, knapp anderthalb Jahre später, so viele Menschen im Westen des Bundesstaats Assam nur als Opfer? Ging es im Juli 2012 allein um eine Auseinandersetzung zwischen der ortsansässigen Bevölkerung und muslimischen ImmigrantInnen? Oder gar um einen Religionskonflikt, wie vielfach behauptet?

Sicher ist, dass damals zwei führende Mitglieder einer muslimischen Organisation von Unbekannten erschossen wurden, dass am folgenden Tag vier AktivistInnen einer militanten Bodogruppe in einem muslimischen Dorf gelyncht wurden, dass in derselben Nacht ein muslimischer Bub gesteinigt wurde, worauf Bododörfer angegriffen wurden. Zahn um Zahn? So einfach ist das nicht.

Es ging um Land und Überlebenschancen, um Bodenrechte und kulturelle Identität, um unausgegorene Befriedungsstrategien, den ewigen Konflikt zwischen Alteingesessenen und Zugewanderten – und darum, wer politisch daraus Kapital schlagen kann. Als beispielsweise vier Jahre zuvor, im Sommer 2008, während eines früheren Konflikts zwischen Bodos und MuslimInnen Bomben explodierten, die fünfzig Menschenleben forderten, hatten etwa der Welthindurat VHP und die hindunationalistische Partei BJP schnell Schuldzuweisungen parat: Die muslimischen MigrantInnen seien dafür verantwortlich. In der Tat hatten Muslime den Konflikt (durch einen Streikaufruf) ausgelöst, gleichzeitig fielen aber vor allem MuslimInnen den Auseinandersetzungen zum Opfer. Auch vier Jahre später, im Sommer 2012, standen für die BJP die Verantwortlichen schnell fest: Schuld seien allein «Immigranten aus Bangladesch». Aber lassen sich die Ursachen wirklich auf unterschiedliche Ethnien reduzieren?

Ein Blick zurück mag hilfreich sein. Im Bundesstaat Assam leben laut offiziellen Angaben 72 Gemeinschaften, die sich aus weit über hundert Stämmen zusammensetzen. Sie sprechen, auch wenn sie im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte kulturell hinduisiert wurden, zumeist ihre eigene Sprache. 21 Ethnien verfügen über autonome Gebiete, manche so klein wie eine durchschnittliche Ranch im US-amerikanischen Mittleren Westen, andere so gross wie kleine europäische Staaten. Die Gruppierungen grenzen sich voneinander ab und haben sich aufgrund der traditionell hohen Zuwanderung ins Brahmaputra-Tal eine Art Anti-Auswärtige-Syndrom angeeignet; dabei waren deren Vorahnen einst selbst zugewandert – aus Burma, das ebenfalls zum britischen Empire gehörte, aus Westchina, sogar aus der Mongolei (vgl. den Kasten unten).

Die britischen Kolonialherren verstärkten mit ihrer Arbeitsmarktpolitik die Gegensätze. Sie holten besser ausgebildete Hindu-Bengalis aus dem heutigen Bangladesch und machten sie zu Verwaltern der Teeplantagen, sie schafften bengalische Muslime zur Landarbeit herbei und setzten Indigene aus Zentralindien als TeeplückerInnen ein. Zuerst dachte die ortsansässige Stammesbevölkerung, dass sie am zunehmenden Wohlstand teilhaben könne, doch die bengalische Mittelschicht behandelte sie zunehmend von oben herab. Als die Briten 1837 Bengalisch in dieser Region zur offiziellen Sprache erhoben, fühlten sich die Alteingesessenen übergangen. Zur Gegenwehr aber fehlte ihnen die Kraft.

Und so erzählen sie noch immer die gleichen Geschichten, die alle denselben Kern haben: Man reicht aus reiner Gastfreundschaft einem Neuankömmling den kleinen Finger, und schon am nächsten Tag will der den ganzen Arm.

Grosse und kleine Nationalbewegungen

Viele glauben an solche Erzählungen, sie nehmen die Zuwanderung als demografische Eroberung wahr, begangen von zumeist muslimischen Bengalis, die die lokalen AssamesInnen – oft AnimistInnen, die teilweise zum Hinduismus konvertiert waren – überwältigt hätten.

Dieses Grundgefühl brach sich Ende der siebziger Jahre auch auf politischer Ebene Bahn. 1979 entstand mit der All Assam Students' Union eine assamesisch-nationalistische Bewegung, die einen Einwanderungsstopp und die Ausschaffung der seit der indischen Unabhängigkeit 1947 immigrierten BengalInnen forderte. Vor allem der von Indien unterstützte Unabhängigkeitskrieg von Bangladesch (zuvor Ostpakistan) hatte nach 1971 zu einer massiven Zuwanderungswelle geführt. Der Konflikt spitzte sich 1983 in der Region Nellie zu, als rund 2000 MuslimInnen ums Leben kamen. Das Assam-Abkommen beendete 1985 vorübergehend die Auseinandersetzungen. Im selben Jahr gewannen die Assam-NationalistInnen mit einem Erdrutschsieg die Wahl. Ihre Regierung wurde zwar am Ende der Legislaturperiode wieder abgewählt, stellte aber nach der folgenden Abstimmung 1996 noch einmal das Kabinett. Die NationalistInnen hätten also durchaus etwas ändern können, doch getan hat sich nicht viel.

Im Gegenteil. Denn im Westen des Bundesstaats kopierten militante Bodos das Vorgehen. Sie gründeten 1987 mit der All Bodo Students' Union (ABSU) eine eigene Bewegung, die einen separaten Staat verlangte, der aus fünfzig Prozent des Assam-Territoriums bestehen sollte. Bewaffnete Gruppierungen entstanden, die MuslimInnen und PlantagenarbeiterInnen aus Zentralindien angriffen. 1993 vereinbarten schliesslich die Zentralregierung in Neu-Delhi und die Regionalregierung von Assam die Gründung des halb autonomen Bodolanddistrikts BTAD, dann folgte die Bildung des Bodolandrats BTC und einer Bodolandvolksfront, die seit der letzten Wahl 2011 als Juniorpartnerin neben der indischen Kongresspartei in der Regionalregierung sitzt.

Keines der grundlegenden Probleme haben diese nationalistischen und separatistischen Bewegungen lösen können. Weil sie nie die Landfrage thematisierten, die Verteilung der Ressourcen und wer auf welcher Ebene wie mitentscheiden darf. Diese Fragen wirft auch die Gegenseite nicht auf, jedenfalls nicht deren Hauptpartei, die vorwiegend muslimische All India United Democratic Front. Sie ist die wichtigste Oppositionspartei im Regionalparlament von Assam, begnügt sich aber zumeist mit Forderungen wie der nach einer Auflösung des BTC.

Die Kritik des Bischofs

Ist aber die Migration tatsächlich so stark? In der während des Monsuns regelmässig überschwemmten Brahmaputra-Ebene ist Nutzland zwar knapp, aber die Zuwanderungszahlen halten sich in Grenzen. «Von 1951 bis 2001 sind rund zwei Millionen Menschen nach Assam eingewandert», sagt Walter Fernandes, Direktor des North Eastern Social Research Centre in Guwahati, «wenn man ihre Nachkömmlinge dazurechnet, sind es vielleicht vier Millionen.» Trotz dieser Migration habe Assam mit seinen rund 31 Millionen EinwohnerInnen kein höheres Bevölkerungswachstum erlebt als die anderen indischen Bundesstaaten.

Aber sag das mal einem Bodolandaktivisten wie Jayanto Narzary. «Wir sind unabhängig, wir sind stolz, wir kämpfen für unsere Freiheit und werden uns stets verteidigen», sagt der 24-jährige ABSU-Präsident im Regionalbüro Kajalgoan seiner Organisation. «Wir kämpfen nur für unsere angestammten Rechte, erzähle das der Welt.» Viel mehr ist nicht aus ihm herauszukriegen.

Etwas ausführlicher argumentiert Rashmi Brahma, eine Sozialarbeiterin, die wir in Rowmari treffen. Auch sie klagt über «Massenzuwanderung» und den potenziellen Verlust der Bodoidentität, aber immerhin unternimmt die 35-Jährige etwas dagegen: «Wir bilden junge Frauen aus, verbessern ihre Webfertigkeiten und informieren sie über die Vorteile biologischer Anbaumethoden.» Ein sinnvoller Ansatz. Denn während sich die alteingesessenen Bevölkerungsgruppen über lange Zeit hinweg von einem Gebiet zum nächsten bewegten, eine Art «shifting cultivation» pflegten, Besitzurkunden keinen Wert beimassen (was die Zuordnung ihrer regionalen Wurzeln ungemein schwer macht) und nie in Eile waren, müssen MigrantInnen zupacken. Sich durchsetzen, sich Rechte sichern, ihre Kinder ausbilden.

Das ist überall so. Und deswegen sollten die Regierenden «kulturell sensibel agieren, die Belange aller Bevölkerungsteile berücksichtigen», sagt Thomas Menamparampil, den wir in Guwahati besuchen. Er war hier bis 2012 Erzbischof. «Aber alles, was der Zentralregierung bisher zur Lösung der Konflikte einfiel, war Geld.» Mit finanziellen Ausgaben allein aber seien Identitätsprobleme nicht zu lösen, erläutert der 77-Jährige, der im Jahr 2011 wegen seines jahrzehntelangen Engagements für eine Lösung der vielschichtigen Konflikte im indischen Nordosten für den Friedensnobelpreis nominiert wurde.

Noch immer Ausnahmerecht

Menamparampil ist ein freundlicher Mensch. Andere finden drastischere Worte. «Den Nordosten interessiert die Regierung in Neu-Delhi und die grossen Parteien nicht wirklich», sagt beispielsweise Sanjay Barbora vom Tata Institute of Social Science in Guwahati. «Die Politiker kommen nach jedem grösseren Zwischenfall angereist, geben ihre üblichen Statements ab und fahren nach Delhi zurück.» Das wüssten die aktiven Gruppen hier, und so würden sie immer wieder dafür sorgen, dass die nationale Führung aufmerksam wird. «Viele sind mittlerweile überzeugt, dass nur Gewalt und Aufruhr etwas bewirken», sagt der Sozialwissenschaftler.

Barboras Kritik ist nicht von der Hand zu weisen. Geben die Regierenden nicht in der Regel den Mächtigen nach – oder zumindest jenen, die grössten Schaden anrichten können?

Dazu kommt, dass die indische Zentralregierung stets einfache Wege sucht und ausgetrampelten Pfaden folgt, weil alles andere zu komplex erscheint. Seit dem ersten Guerillakrieg der Bergvölker von Naga, die ab 1954 für ihre Unabhängigkeit kämpften (die ihnen mit der Gründung von Nagaland 1963 gewährt wurde), antwortet Neu-Delhi auf solche Herausforderungen mit militärischen Mitteln: 1958 wurde für die Bekämpfung der Aufständischen in den Hügeln von Naga ein Sondergesetz erlassen, das der Armee weitgehende Vollmachten gibt. 1972 weitete die Zentralregierung den Geltungsbereich dieses Ausnahmegesetzes auf den ganzen Nordosten aus. Es ist noch immer in Kraft.

Die Repression entfachte erst recht den Widerstand. Als «willkürliche Verhaftungen» und das «grausame, unmenschliche, entwürdigende Vorgehen» (so ein Report von Human Rights Watch 2008) nicht funktionierten, versuchte die Zentralregierung die nächsteinfachste Lösung. Sie gewährte den militantesten Bevölkerungsteilen eine begrenzte Autonomie. «Doch das ging schief», sagt Barbora, «weil das Konzept oben erdacht und von oben umgesetzt wurde.» Das Bodoland sei ein gutes Beispiel dafür, dass eine «falsche Intervention schlimmer sein kann als gar keine».

Denn der in aller Eile aus vier Bezirken geschaffene Bodolanddistrikt BTAD umfasst ein Gebiet, in dem die Bodos nur ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Im Regierungsrat aber sind 30 der 46 Sitze für ihre Ethnie reserviert. «Da hat man gleich mehrere Fehler auf einmal begangen», erläutert Syed Shahabuddin, früher Mitglied im indischen Parlament. «Zum einen wurden viele Nichtbododörfer einfach dem BTAD zugeschlagen mit der Folge, dass die Mehrheit ausgegrenzt ist. Dann gab man den Bodos das Gefühl, nur in eigenem Interesse und ohne Rücksicht auf die anderen Bevölkerungsgruppen handeln zu können.» Dadurch, das sagt auch der Sozialwissenschaftler Sanjib Buruah, sei ein exklusives Homeland-Bewusstsein (vgl. den Beitrag «Das britische Erbe» unten) entstanden, das eine Verständigung zwischen den Bevölkerungsgruppen schwierig mache. Und dann hätte die intensive Medienberichterstattung auch noch die vermeintlichen oder tatsächlich begründeten Sorgen verstärkt.

Eine Lösung, die allen hilft, ist nicht einfach. «Die indische Regierung und die Regierung von Assam müssen endlich Round-Table-Gespräche aller Bevölkerungsgruppen organisieren und die wirklichen Probleme angehen», sagt Shahabuddin. Voraussetzungen dafür sei eine Bestandsaufnahme des kultivierbaren Lands («die Hauptursache des Konflikts») und eine Gewährleistung der Rechte aller. Das jedoch ist nicht einfach in einer Region, in der – wie im übrigen Indien – alle grossen Parteien vom System fester Wahlallianzen («vote banks») profitieren, in dem nicht politische Inhalte entscheiden, sondern die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste oder Ethnie. Zudem kostet die Ausarbeitung einer Politik, «die allen Gemeinschaften gerecht wird und eine faire Interessenvertretung sichert» (so der Politologe Nani Gopal Mahanta von der Gauhati-Universität in Guwahati), selbst dann Zeit, wenn alle Beteiligten guten Willens sind.

Doch viel Zeit bleibt nicht. Die nächste Auseinandersetzung könnte möglicherweise noch heftiger ausfallen als die letzte im Sommer 2012, bei der fast 400 Menschen getötet, Tausende verletzt und knapp eine halbe Million obdachlos wurden. Nicht zuletzt aufgrund des Klimawandels hält der Zuwanderungsdruck an: In Bangladesch sinkt die Produktivität in der Landwirtschaft, die Bevölkerungsdichte nimmt zu, der Meeresspiegel steigt, die Zyklone werden heftiger. Für die Verzweifelten wird damit sogar das Bodoland zur Alternative.



Die Bodos

Die Ethnie der Bodos (ausgesprochen: Boros) lebt vorwiegend im Westen des indischen Bundesstaats Assam, nördlich des Brahmaputras. Die rund zwei Millionen Stammesangehörigen sprechen vor allem Bodo, eine tibetobirmanische Sprache.

Vor Jahrtausenden aus Westchina und dem heutigen Myanmar eingewandert, hängen die meisten Bodos einer animistischen Religion an. Ihr Universum besteht aus den fünf Elementen Luft, Sonne, Erde, Feuer und Himmel.

Die Bodos, seit dem 19. Jahrhundert offiziell als eigenständige Volksgruppe anerkannt, gelten als ExpertInnen im Gemüse- und Obstanbau; die Frauen sind oft erfahrene Weberinnen, die Männer verarbeiten Bambus.

Lange kämpften die Bodos um ihre Souveränität und für ein eigenes «Homeland». Heute kämpfen sie vor allem gegen Zugewanderte.


Das britische Erbe

Der indische Nordosten, knapp sechsmal so gross wie die Schweiz, bestand vor der britischen Kolonisierung in den dreissiger Jahren des vorletzten Jahrhunderts aus vielen kleinen Königreichen, die auf ihre Unabhängigkeit bedacht waren und sich oftmals bekämpften. Entsprechend schwer fiel es dem Britischen Weltreich, sie zu unterwerfen. Direkt beherrschen und verwalten aber konnte London die Region nie. Und so gestanden die Kolonialherren aus Übersee jedem Stamm eine gewisse Autonomie zu – sofern er Steuern zahlte. Ausserdem führten sie das Prinzip der Exklusion ein: Die vielen Ethnien – vor allem in Assam – durften sich selbst verwalten und wurden zu «excluded areas» erklärt. Das unterband die traditionelle und vielfältige Interaktion zwischen den Gemeinschaften.

1936, elf Jahre vor der indischen Unabhängigkeit 1947, argumentierte die indische Kongresspartei in einem Statement vehement gegen diese Politik des «Teile und herrsche». Sie habe nur das Ziel, «die Menschen in Indien in verschiedene Gruppen aufzuspalten», führe zu «einer nicht zu rechtfertigenden Diskriminierung» und blockiere «die Entwicklung einheitlicher demokratischer Institutionen im Land».

Die «Homeland»-Idee, die allen Ethnien eine Art Heimat verspricht, ist so gesehen ein imperialistisches Konstrukt. Allerdings unternahm die Kongresspartei nach 1947 keine grossen Anstrengungen, daran etwas zu ändern. Und so blieb der indische Nordosten – bestehend aus den «Sieben Schwesterstaaten» Assam, Arunachal Pradesh, Manipur, Meghalaya, Mizoram, Nagaland und Tripura – das neben Kaschmir turbulenteste Krisengebiet Indiens: reich an Rohstoffen zwar, aber ohne Investitionen.

Unterentwicklung, mangelhafte Infrastruktur, Grenzkonflikte, Zuwanderungsdruck aus Bangladesch und Nepal, Aufruhr, Kampf um Land und Überlebenschancen, Menschenrechtsverletzungen und andauernde Gewalt, korrupte Behörden, Ausnahmegesetze, eine Jugend ohne Hoffnung, mangelndes Interesse seitens der Zentralregierung und der internationalen Medien – all das schuf und schafft eine explosive Mischung. (jk)