Indien: Neues Urteil des Obersten Gerichts
Vom Kanonenfutter zur regulären Polizei
18. August 2011 | Im Kampf gegen die maoistischen NaxalitInnen ist im Bundesstaat Chhattisgarh ab sofort der Einsatz von paramilitärischen Sondereinheiten untersagt.
Text: Joseph Keve, Bombay, Übersetzung: pw
Der Entscheid hat auf sich warten lassen, doch dann war er unmissverständlich: Anfang Juli verurteilte das Oberste Gericht Indiens den Einsatz der sogenannten Sonderpolizisten, einer staatlich unterstützten, paramilitärischen Gruppe namens Salwa Judum, im ostindischen Bundesstaat Chhattisgarh als illegal und verfassungswidrig. Direkt an die Regierung von Chhattisgarh gewandt, hiess es im Urteilsspruch: «Hören Sie damit auf, nicht ausgebildete, untrainierte junge Stammesangehörige als Kanonenfutter zu benutzen.» Diesen Jugendlichen die regulären Polizeiaufgaben zu übertragen, sie so der Gewalt auszusetzen und ihren möglichen Tod in Kauf zu nehmen, verletze zum einen die Rechtsgleichheit aller vor dem Gesetz und zum andern die Menschenwürde.
Das Gericht zeigte sich «bestürzt» darüber, wie sich die Regierung des Bundesstaats Chhattisgarh über die Verfassung hinwegsetzte, indem sie «jede Person, die die unmenschlichen Zustände in weiten Teilen des Bundesstaates hinterfragt, als Maoisten oder als deren Sympathisanten brandmarkt und verfolgt», jedoch gleichzeitig verfassungsrechtliche Unterstützung für ihre Politik der skrupellosen Gewalt fordere. Offenbar seien «Steuererleichterungen für die Reichen und Waffen für die jungen Armen, damit sie sich weiterhin gegenseitig bekämpfen», das «neue Motto» der Mächtigen im Staat.
Im Prozess zuvor ging es um die Ereignisse dieses Frühlings, die als Chintalnar-Vorfall bekannt wurden: Zwischen dem 11. und dem 16. März griffen im Dantewada-Distrikt 300 Paramilitärs und Mitglieder der Salwa Judum drei Dörfer an. Sie schlugen auf die DorfbewohnerInnen ein, vergewaltigten Frauen, töteten 36 Menschen, brannten Häuser nieder und raubten, was ihnen in die Finger geriet. Die Regierung von Chhattisgarh behauptete, es habe sich dabei um einen «Zusammenstoss» mit den Naxaliten gehandelt, wie in Indien maoistische Parteien und Bewegungen genannt werden. Eine externe Untersuchungskommission fand jedoch heraus, dass es sich beim Vorfall um einen «fein abgestimmten Angriff der Sicherheitskräfte» gehandelt hatte, mit dem den DorfbewohnerInnen «eine Lektion erteilt werden sollte, da diese angeblich Naxaliten-Kadern Lebensmittel und Unterkunft geboten hätten».
Statusgewinn mit Uniform und Waffe
Seit 2008 die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) in Chhattisgarh an die Macht kam, wurden dort – trotz vielfältiger Proteste anderer Parteien und nichtstaatlicher Organisationen (NGOs) – Hunderte Sozial-, Umwelt- und MenschenrechtsaktivistInnen festgenommen, gefoltert und oft ohne Prozess inhaftiert.
Bereits 2005 gründete die heutige Regierungspartei BJP die Salwa Judum. Jugendliche aus den verarmten Stämmen – manche nicht älter als sechzehn – wurden rekrutiert, kurz ausgebildet, bewaffnet und dann in den Kampf gegen die gut gerüsteten MaoistInnen geschickt. Sie wurden als Sonderpolizisten (SPOs) für einen Hungerlohn von umgerechnet etwa sechzig Franken im Monat von der regulären Polizei und anderen Sicherheitskräften für allerlei Hilfsarbeiten eingesetzt. Die neue Uniform und die Waffe verschaffte diesen Jugendlichen kurzzeitig einen besseren Status – die wenigsten waren sich aber der Folgen bewusst. Denn sehr schnell wurden die SPOs von den MaoistInnen als Feinde identifiziert und gezielt eliminiert. Ohne ausreichende Bildung und Training wurden die SPOs so nicht nur zu Kanonenfutter, sondern zudem gezwungen, gegen ihre eigenen Stämme zu kämpfen.
Nun sei es wichtig, dass die Regierung von Chhattisgarh die Vorgaben des Obersten Gerichts erfülle und die «antimaoistischen, staatlich unterstützten Zivilmilizen» auflöse und entwaffne, sagte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) kurz nach dem Urteil. «In den letzten sechs Jahren wurden bei diesem Konflikt in Chhattisgarh mehr als 3000 Personen getötet, darunter sehr viele Zivilisten», sagt Sam Sarifi, AI-Direktor für Asien und den Pazifik. «Dieses Urteil ist ein Meilenstein für den Schutz der indigenen Stämme und anderer lokaler Gemeinschaften vor Menschenrechtsverletzungen.» Das Urteil ist aber auch ein wichtiges Signal für andere indische Bundesstaaten wie Maharashtra, Andhra Pradesh und Jammu sowie Kashmir, in denen die lokalen Regierungen Milizen zur Aufstandsbekämpfung einsetzen.
Wie die Rebellion bekämpfen?
So haben bis anhin staatliche Stellen stets die Haltung vertreten, die naxalitische RebellInnenbewegung sei ein reines Problem von Recht und Ordnung, dem man mit mehr Ressourcen für die Sicherheitskräfte Herr werden könne. Appelle von NGOs und ExpertInnen stiessen auf taube Ohren, gemäss denen der wahre Grund für die Bewegung eine Kombination aus schlechter Regierungsführung, vernachlässigter Entwicklung, Diebstahl von Ressourcen sowie der weitreichenden Ausbeutung der lokalen Bevölkerung in sämtlichen wirtschaftlichen und politischen Bereichen ist. Mit dem Urteil des Obersten Gerichts hat nun zum ersten Mal überhaupt eine verfassunggebende Instanz die Art und Weise kritisiert, in der die indische Regierung und ihre Bundesstaaten mit den NaxalitInnen umgehen, und zum Thema gemacht, in welchem Zusammenhang die Bewegung mit Unterentwicklung und Vernachlässigung durch den Staat steht.
Inzwischen gab die Regierung von Chhattisgarh bekannt, dass die Entwaffnung der rund 4000 Salwa-Judum-Mitglieder in vollem Gange sei. Der regionale Regierungschef Raman Singh hofft, dass rund achtzig Prozent der SPOs in die reguläre Polizei rekrutiert werden können, deren Personalbestand derzeit aufgestockt wird.