Indien: Die Bhopal-Katastrophe
Die verpestete Stadt
4. Dezember 2008 | 24 Jahre ist es her, seit der Tod nach Bhopal kam. Noch viele Generationen werden an den Folgen der Chemiekatastrophe leiden. Die Verantwortlichen haben sich längst aus dem Staub gemacht.
Text: Joseph Keve, Bhopal, Übersetzung: Pit Wuhrer
Es war kurz vor Mitternacht. Auf dem Werkgelände der Chemiefabrik Union Carbide Corporation (UCC) in Bhopal, der Hauptstadt der zentralindischen Provinz Madhya Pradesh, fanden Wartungsarbeiten statt. Dabei gelangte eine grosse Menge Wasser in einen Tank für Methylisocyanat (MIC) und löste eine chemische Reaktion aus, durch die Druck und Temperatur im Tankinnern enorm erhöht wurden. Während die Menschen in dieser kühlen Winternacht noch in tiefem Schlaf lagen, entwich aus der Anlage explosionsartig ein tödlicher Cocktail aus MIC, Wasserstoff, Cyaniden, Methylamin und anderen Chemikalien. Wie ein Bettlaken legte sich die Gaswolke über weite Teile der Millionenstadt und bedeckte ein Gebiet von nahezu vierzig Quadratkilometern. Das war am frühen Sonntagmorgen, 2. Dezember 1984, vor 24 Jahren.
Trockener Husten und Atemnot rissen die BewohnerInnen aus dem Schlaf. Augen und Kehlen waren gereizt. Eine heillose Panik entstand, die Leute schrien. Bald rannten Menschen und Tiere nach Luft schnappend durch die Strassen, versuchten, vor der Giftwolke zu fliehen. Augen und Lungen brannten. Das Gas liess ihr Nervensystem kollabieren. Je mehr sie rannten, desto mehr Gift atmeten sie ein. Die Menschen verloren die Körperkontrolle. Erbrachen sich. Urin und Fäkalien flossen unkontrolliert die Beine hinunter. Sie verloren das Bewusstsein und sanken zu Boden. Bei Tagesanbruch zählte man über 1600 Leichen. In den folgenden Tagen, Monaten und Jahren ging es weiter mit dem Sterben: Verschiedene Dienststellen beziffern die Todesopfer der Gaskatastrophe von Bhopal bis zum heutigen Tage auf 16.000 bis 23.000.
Doch die Folgen sind noch längst nicht ausgestanden: Medizinische Studien belegen, dass in dieser Nacht eine halbe Million Menschen den toxischen Gasen aus der UCC-Fabrik ausgesetzt waren. Dabei ist Gift in den Blutkreislauf der BewohnerInnen von Bhopal gelangt. Augen, Lungen, Nieren, Leber, Gedärme, das Gehirn, die Haut und das Reproduktionssystem sind am meisten betroffen. Das Immunsystem hat sehr schweren Schaden genommen. Die durch die physischen Beschwerden hervorgerufenen Angstzustände, Depressionen, Schlaflosigkeit und Reizbarkeit – so machen medizinische ExpertInnen geltend – würden ihrerseits den Weg zu weiteren gravierenden körperlichen und geistigen Krankheiten bahnen.
Auf Generationen verseucht
Betroffen sind auch jene, die 1984 noch gar nicht auf der Welt waren: «Wir kennen keinen vergleichbaren Fall für eine solche Vielzahl von physischen und psychischen Erkrankungen bei Neugeborenen», sagt die Ärztin Roopa Baddi von der Sambhavna Trust Clinic (STC), einer lokalen Hilfsorganisation. «Wir befürchten, dass die Menschen hier noch über Generationen hinweg von vererbten Missbildungen betroffen sein werden.» Zudem sind Nichtregierungsorganisationen (NGO) und das freiwillige medizinische Hilfspersonal vor Ort davon überzeugt, dass eine unbekannte Menge an toxischen Abfällen, die immer noch auf dem verlassenen Fabrikgelände lagern, bis zum heutigen Tag den Boden und das Trinkwasser in der Umgebung verseuchen. An den Toren der verlassenen Chemieanlage merkt man wenig von der andauernden Verseuchung: Ein Schild warnt, Zutritt sei nur mit Erlaubnis der Bezirksbehörde gestattet. An zwei Stellen ist die Fabrikmauer eingebrochen. Auf dem Gelände spielen Kinder. Ziegen weiden frisches Gras. Es sieht aus wie jedes andere verlassene Fabrikgelände.
Die grösste Chemiekatastrophe aller Zeiten hinterliess auch eine riesige Menge an ungeklärten und unbequemen Fragen. Was genau hat zum Unglück geführt? Wer war verantwortlich? Was ging schief? Wer wird das Gelände säubern? War der Schadenersatz angemessen? Wird den Betroffenen endlich Gerechtigkeit zuteil? Weshalb kamen die Schuldigen ungestraft davon? Was haben die Opfer und ihr Umfeld, was haben die UnternehmerInnen, was die Regierung gelernt?
«Nichts ist mehr normal»
Es ist 8 Uhr früh. Für die meisten Menschen in Bhopal ist es ein ganz normaler Tag und Zeit zur Arbeit zu gehen. Nicht aber für die zierliche, 28-jährige Sameena Nafeez. Tränen fliessen ihr über das Gesicht, während sie Hunderte von Gleichaltrigen auf ihrem Arbeitsweg beobachtet: «Für mich ist nichts mehr normal», platzt es aus ihr heraus. Sie atmet heftig: «Und es wird wohl auch nie wieder normal sein.» Sameena steht in der Schlange vor dem Spital der STC.
«Ich war ein normales vierjähriges Mädchen, als sich die Chemiekatastrophe von Bhopal ereignete», erzählt Sameena. Einige Jahre später starben ihre Grosseltern an den Spätfolgen der Gaswolke. Auch Sameenas Eltern leiden unter schweren Schmerzen und sind nicht mehr zu harter körperlicher Arbeit fähig. Sie hofften, dass sich diese Probleme nicht auf ihre Kinder übertragen würden, sagt Sameena: «Ich wägte mich in Sicherheit. Doch eines Tages, als ich in der achten Klasse war, wurde es mir trüb vor den Augen, sie begannen stark zu tränen. Seither leide ich unter ständigen Kopfschmerzen. Ich merkte, dass ich unter Gedächtnisschwäche litt und konnte nicht mehr in die Schule gehen.»
Das Schlimmste stand Sameena Nafeez noch bevor: Diesen März wurde sie mit Schmerzen und Schwellungen am ganzen Körper ins Spital eingeliefert. Nach einigen Tests sagten die ÄrztInnen, dass ihre Nieren schrumpfen. Ihrem Bruder sagten sie, Sameena müsse bis an ihr Lebensende jede Woche zur Dialyse, falls man keine Spenderniere finde. «Meine Familie wendet fast ihr ganzes mageres Einkommen auf, um mich am Leben zu erhalten. Täglich bete ich zu Gott, dass keinem Menschen zustösst, was mir passiert ist.»
Sameenas Bruder Mohammad hat den Tag frei genommen, um sie zur Klinik zu bringen. Vergeblich habe sich die Familie an die Provinzregierung und an Dutzende einflussreiche Personen gewandt, um zumindest die Hälfte der umgerechnet gut 10.000 Euro aufzubringen, die Sameena für eine Nierentransplantation bräuchte. «Alles, was wir wollen, ist, dass Sameena wieder ein normales Leben führen kann», sagt Mohammad Nafeez.
Gasopfer unerwünscht
Sameena ist eines von 395 Opfern der Gastragödie von Bhopal, bei denen bis Mai 2008 Nierenversagen diagnostiziert worden ist. Die staatlichen Krankenhäuser, welche für die medizinische Versorgung der Opfer der Gaskatastrophe zuständig wären, weigern sich jedoch, Sameena und ihre LeidensgenossInnen zu behandeln. Auch die zuständige Behörde, die von der Regierung des Bundesstaates eigens für die Hilfe und Rehabilitation der Gasopfer eingesetzt worden ist, will von einer Unterstützung der Nierenkranken nichts wissen.
«Unsere Regierung und die Spitäler behandeln uns wie Unberührbare. Sie sagen, es gebe keine neuen Krankheitsfälle in Bhopal», sagt die vierzigjährige Leelabhai Eherabad. «Dabei gibt es in unserem Viertel kein einziges Haus, in dem nicht Menschen leiden.» Eine sechs Meter breite Strasse nur trennt Leelabhais Haus vom Werkgelände der UCC, wo 1984 das tödliche Gas austrat.
Leelabhais achtzigjährige Mutter, Sampatbhai, liegt auf dem Fussboden des kleinen Wohnzimmers. Sie hat für die Regierung nur Verachtung übrig: «Wenn wir zu den Behörden gehen, dann gibt es ein Geschrei, die Beamten schimpfen und sagen: Ihr seid Gasopfer, raus hier.» Die Opfer hätten nicht einmal zehn Prozent der versprochenen Abfindung von Union Carbide erhalten. Sampatbhais Ehemann, der zuvor nie krank gewesen sei, habe nach der Gastragödie unter Atemlosigkeit, anhaltendem Fieber und starken Schmerzen am ganzen Körper gelitten. Er verstarb wenige Monate später. Nach seinem Tod habe man Sampatbhai sogar die Rationierungsmarken weggenommen: «Das sind keine Beamten, sondern Verbrecher, die sich am Geld bereichern, das uns zusteht», schluchzt die alte Frau.
Balram, Leelabhais Ehemann, hatte vor dem Gasunfall ebenfalls keine gesundheitlichen Probleme. Nun zwingen ihn andauerndes Fieber und Schmerzen zu Hause zu bleiben, auch wenn ihm sein Chef in der Getreidemühle, in der er arbeitet, mit dem Rauswurf droht. Leelabhais 25-jährige verheiratete Tochter Reena hat chronische Schmerzen und Schwellungen am Körper. Schon nach wenigen Schritten ausser Haus bekommt sie Atemprobleme. Leelabhais zwanzigjähriger Sohn Jagdish ist verkrüppelt und sieht aus wie ein Zehnjähriger. Ihr drittes Kind, die sechzehnjährige Pratibha, kämpft vergebens gegen schwindendes Augenlicht, Gedächtnisverlust und chronische Fieberanfälle.
2006 und 2008 ist Leelabhai Eherabad über 800 Kilomter zu Fuss nach Neu-Delhi gelaufen, um zu demonstrieren. Der Premierminister hat zwar vielen Forderungen der Opfer zugestimmt, doch der Regierungschef des Bundesstaats Madhya Pradesh beharrt darauf, dass die Akte inzwischen geschlossen sei und man nichts mehr tun könne. «Ich werde nicht ruhen, bis für die letzten Opfer gesorgt wird und der Boden und das Wasser von Bhopal gesäubert wurde», sagt die Aktivistin Leelabhai mit fester Stimme.
Für eine Handvoll Rupien
Sollte dereinst die Geschichte des Bhopalunglücks von 1984 geschrieben werden, dann wird eine Geschichte herauskommen, die von einem geheimen Abkommen zwischen einem aggressiven multinationalen Unternehmen und einer Regierung erzählt, die bereit war, für ein paar US-Dollar Schmiergeld jedem Wunsch zu entsprechen. Das begann bereits in den späten sechziger Jahren: Als Union Carbide am Stadtrand von Bhopal eine kleine Fabrik aufbaute und «ausländische Direktinvestitionen und neuestes technologisches Know-how aus dem Westen» versprach, verdankte das die indische Regierung dem Konzern mit zahlreichen Steuergeschenken.
Sie erlaubte dem Unternehmen, gegen gängige Gesetze und Vorschriften zu verstossen und mitten in einem Siedlungsgebiet eine Chemiefabrik zu bauen. Sie verschloss ihre Augen vor der minderwertigen Bauart, den fehlenden Schutzvorrichtungen, den schlechten Unterhaltsbestimmungen und dem inexistenten Notfallplan. Die Gewerkschaft hatte übrigens kurz vor der Tragödie noch für bessere Sicherheitsbedingungen am Arbeitsplatz agitiert.
Seit dem Unfall beschuldigen die Opfer und ihre HelferInnen die Regierungen in Bhopal und Neu-Delhi, in den letzten 24 Jahren mit den VerursacherInnen der Tragödie konspiriert zu haben. So weigert sich etwa die DOW Chemical Company, die UCC 2001 übernommen hat, für die Reinigung des Bodens und des Wassers aufzukommen. Nicht einmal das bringt die Regierung dazu, für die Rechte ihrer BürgerInnen einzustehen. DOW ging sogar so weit, der Regierung mit einem Investitionsstopp zu drohen, falls sie nicht von jeder Haftung ausgeschlossen würde.
Die Geschichte der Entschädigungszahlungen offenbart weitere Abgründe. Am 14. Februar 1989 hatte der Oberste Gerichtshof Indiens eine Schadenersatzsumme von umgerechnet knapp 365 Millionen Euro angeordnet. Bis März 2002 waren über eine Million Klagen von Opfern eingegangen. Gut der Hälfte der Menschen wurde eine Abfindung zugesprochen, die anderen Klagen wurden abgelehnt. Ein Restbetrag von 264 Millionen Euro hielt die Regierung des Bundesstaats als Reserve für Folgekosten zurück.
NGOs werfen den Behörden von Madhya Pradesh vor, sie hätten diese Finanzmittel für den Ausbau der Verwaltungsinfrastruktur und zur Deckung ihrer administrativen Ausgaben, für Löhne und Spesen, aufgebraucht – für die Gasopfer seien keine Mittel mehr vorhanden. Mittlerweile haben Tausende von Opfern Klage eingereicht und geltend gemacht, sie hätten keine oder kaum Finanzmittel erhalten; die Fonds seien von Regierungsbeamten geplündert worden.
Unmittelbar nach der Tragödie hatte UCC die Fabrik geschlossen und war aus Bhopal verschwunden. An ihrer Statt verzeichnete die Stadt einen rasanten Zulauf von AnwältInnen, VersicherInnen, Sachverständigen, ÄrztInnen und NGO-ArbeiterInnen, die nur teilweise wirklich helfen wollten. Viele versuchten aus der Notlage der Betroffenen das schnelle Geld zu machen.
Als das Ausmass der Katastrophe zutage trat und es klar wurde, dass ein langfristiges Engagement gefordert war, verschwanden auch viele der Advokatinnen und Experten wieder und liessen die Menschen in Bhopal allein mit ihrer Bürde. Derweil nimmt die Chemiekatastrophe auch 24 Jahre nach ihrem Beginn fast ungehindert ihren Lauf. (jk)
Sambhavna Trust Clinic
Die basisorientierte Hilfsorganisation STC nahm 1996 ihre Arbeit in Bhopal auf und behandelt seither die Opfer der Gaskatastrophe. Sie bietet ihren PatientInnen eine Kombination aus kostenlosen alternativ- und schulmedizinischen Behandlungsmethoden.
«Die Gründung von STC war eine Reaktion auf die lieblose, oberflächliche und teilweise unwissenschaftliche Behandlung, die den Überlebenden der Chemiekatastrophe in den staatlichen Krankenhäusern zuteil wurde», sagt Satinath Saranghi, Direktor von STC. Ihre hohen Pflege- und Behandlungsstandards, die Loyalität gegenüber den PatientInnen sowie die blosse Existenz von STC würde die anhaltende Behauptung der Regierung, die Krise sei überstanden, in Frage stellen.
16.000 Menschen hat die Klinik mittlerweile auf ihren Listen, zumeist LangzeitpatientInnen. «Ich kam kurz nach der Tragödie nach Bhopal und wollte ursprünglich nur ein paar Tage lang helfen», sagt Saranghi. «Doch dann bin ich geblieben und bin froh über meine Entscheidung. Ich finde hier mehr Genugtuung und Erfüllung als all meine ehemaligen Studienkollegen, die zwar viel Geld verdienen, sich aber über ihre mangelnde Lebensqualität beschweren.»
Die roten Bachsteingebäude der STC mit ihren luftigen Räumen und Grünflächen sind für die PatientInnen, Angestellten und freiwilligen HelferInnen zum einem zweiten Zuhause geworden. «Von allen meinen Jobs ist dieser hier der befriedigendste. Ich bin glücklich, wenn Patienten sagen, es ginge ihnen besser», sagt Roopa Baddi, eine der ayurvedischen Ärztinnen der Klinik.
Neben der Behandlung und Pflege wird in der STC auch Forschung betrieben. Es gibt eine Dokumentationsstelle und ein Ausbildungszentrum für Freiwillige sowie einen Heilkräutergarten. Inmitten von Tod und Apathie stellt die STC für PatientInnen und AktivistInnen ein Bollwerk der Hoffnung dar.
Die freiwilligen HelferInnen stammen aus Indien und dem Ausland. Der 24-jährige Florian Zimmerman aus Genf verbrachte zwei Monate hier: «Als ich in Bhopal ankam, war ich schockiert darüber, dass selbst nach 24 Jahren die Opfer so wenig Hilfe bekamen. Wie können multinationale Unternehmen wie UCC und DOW gegenüber einfachen, schutzlosen Menschen so grausam und verantwortungslos sein. Die Welt muss erfahren, was hier passiert ist», sagt Zimmermann. Sein Einsatz habe ihm gezeigt, dass globale Herausforderungen gemeinsam angegangen werden müssen.
«Die Menschen hier haben so viel verloren», sagt Rachana Dhingra, die seit über acht Jahren in der STC arbeitet: «Ihre Gesundheit, ihr Vermögen, den Job, Zukunft, Familie. Kaum jemand kann sich auf irgendetwas freuen. Und doch lächeln sie und gehen hoffnungsvoll ihren Weg durchs Leben. Sie sind für mich eine Quelle der Inspiration.»
www.bhopal.org