Indien: Inflation bei den Nahrungsmitteln
Linsen müssen genügen
26. Juni 2008 | Wer hat Schuld an den steigenden Lebensmittelpreisen? Sicher ist, wer profitiert – die transnationalen Konzerne.
Text: Joseph Keve, Übersetzung: Pit Wuhrer
«Ich komme gerade vom Gemüsemarkt, aber meine Einkaufstasche ist leer», sagt Anita Pawar, eine Hausfrau aus Kandivli in Bombay. «Die Preise für Gemüse und Früchte sind inzwischen fünfzig Prozent höher als noch vor zwei Monaten. Meine Kinder können nicht verstehen, weshalb wir uns nichts mehr leisten können, und mein Mann fragt mich ständig, wieso das Haushaltsgeld nicht mehr reicht.»
Ramesh Pawar arbeitet als Sicherheitsmann in einer kleinen Fabrik und verdient im Monat 3800 Rupien, umgerechnet rund neunzig Franken, wovon 1500 Rupien für die Miete ihres hundert Quadratmeter grossen Hauses wegfallen. Das monatliche Budget der Familie für Lebensmittel beträgt 1000 Rupien, doch seit einigen Monaten ist das Geld bereits nach zwanzig Tagen aufgebraucht. «Ich bin gezwungen, bei Freunden kleine Kredite aufzunehmen», sagt der Ehemann. «Aber ich weiss nicht, wie lange das noch möglich sein wird.»
Anfang Juni hatte die indische Regierung eine Preiserhöhung von beinahe zehn Prozent für Benzin, Diesel und Propangas angekündigt. Im ganzen Land demonstrierten daraufhin Tausende und stellten damit auch den Fortbestand der Zentralregierung infrage. Derzeit beträgt die Inflation für Konsumgüter über elf Prozent und ist damit so hoch wie seit dreizehn Jahren nicht mehr. Die von der Kongresspartei dominierte Koalitionsregierung UPA war vor vier Jahren vor allem wegen ihrer Versprechungen gegenüber den ärmeren BürgerInnen gewählt worden. Doch genau diese fühlen sich heute übergangen und betrogen.
Korruption und Hunger
Im Laufe des vergangen Jahres waren die Preise für Reis, Weizen und andere Getreidesorten um zwanzig Prozent gestiegen. Für Gemüse, Früchte und Linsen bezahlt man heute dreissig Prozent mehr, für Fisch, Fleisch und Speiseöl sogar vierzig Prozent. Auch die Kosten für Milch sind um fünfzehn Prozent gestiegen. Diese Entwicklung erweist sich gerade für die Ärmsten als besonders fatal. Viele können sich inzwischen nur noch von Reis, Weizen oder Linsen ernähren. Beinahe jedeR vierte InderIn muss mit nur einem Franken pro Tag auskommen, und rund drei Viertel der Bevölkerung verdienen weniger als zwei Franken pro Tag. Tausende BäuerInnen nehmen sich jedes Jahr das Leben.
Daten der Regierung zeigen, dass im Jahr 1991 noch 510 Gramm Getreide pro Tag und pro Kopf zur Verfügung standen. Diese Menge ist bis 2005 auf 422 Gramm pro Tag gefallen. Hält diese Situation noch länger an, so wird es auch in Indien zu Aufständen kommen. Bereits im Oktober 2007 hat die Bevölkerung der Bundesstaaten Westbengalen und Bihar gegen die mangelhafte Getreideversorgung des viel gepriesenen Public Distribution System (PDS) protestiert. Dabei handelt es sich um ein landesweites Netz aus 489 000 subventionierten Läden, die die arme Bevölkerung mit günstigen Lebensmitteln versorgen sollen.
Das System des PDS stellte ursprünglich eines der wichtigsten Elemente für die Ernährungspolitik und -sicherheit des Landes dar. Doch es liegt heute am Boden. Ein Parlamentsausschuss hat in einem Bericht vom April 2007 festgehalten, dass «vierzig Prozent der Reislieferungen und über die Hälfte des Weizens, den die Bundesstaaten verteilen sollten, nie zu den eigentlich Bedürftigen gelangt sind». Der Bericht nennt auch Beispiele. So haben 2003 und 2004 von den benötigten 14,1 Millionen Tonnen Getreide, die vom staatlichen Institut für die Lagerung von Nahrungsmitteln (FCI) geliefert wurden, schlussendlich nur 6,1 Millionen Tonnen die Bedürftigen erreicht. In den Bundesstaaten Bihar und Punjab wurden gar über 75 Prozent dieser Lieferungen abgezweigt und auf dem normalen Markt verkauft. Und die bereits einmal Betrogenen mussten neue Kredite aufnehmen, um Lebensmittel kaufen zu können.
Keine Reserven fürs Volk
Im Januar 2004 verfügte Indien über Getreidereserven von 24,4 Millionen Tonnen. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen hatte damals ausgerechnet, dass alle Weizen- und Reissäcke des FCI aufeinandergestapelt einmal zum Mond und wieder zurück reichen würden.
Doch als das ehemalige Direktionsmitglied des Internationalen Währungsfonds und der Protegé der Weltbank Manmohan Singh im selben Jahr zum Premierminister gewählt wurde, standen die ExpertInnen der Finanzorganisation bereits in den Startlöchern. Die Vorschläge der Weltbank verlangten nach grundlegenden Veränderungen in der Getreideproduktion und der Verteilung. So konstatierten die ExpertInnen, dass die bisherige Politik, die die Selbstversorgung Indiens mit Getreide zum Ziel hatte, «in einem veränderten Umfeld nicht länger tragbar, noch nachhaltig fortsetzbar» sei. Bislang hatte Indien den BäuerInnen einen festgelegten Abnahmepreis garantiert, der allerdings fast um die Hälfte niedriger ist als der Weltmarktpreis. Zudem erhielten sie weitreichende Subventionen etwa für Düngemittel, die Bewässerungssysteme oder die Energieversorgung.
Stattdessen bestimmte nun die Weltbank die Richtlinien für die neue Politik: Zum einen sollte die indische Regierung die Subventionen für die BäuerInnen aufgeben und das PDS einschränken; zum anderen «in den Aufbau eines hochproduktiven, breit gefächerten und auf dem Weltmarkt konkurrenzfähigen Landwirtschaftssektors investieren». Der indische Staat sollte zudem eine Ausweitung des Sortiments der landwirtschaftlichen Exportprodukte fördern und dem Privatsektor – grossen Farmen und der Agroindustrie – mehr Raum zugestehen. Tausende Hektaren Land wurde seither von den BäuerInnen verkauft, von der Regierung in subventionierte Sonderwirtschaftszonen (SEZ) umgewandelt und multinationalen Konzernen unter anderem für riesige Landwirtschaftsprojekte überlassen. Basierend auf diesen Empfehlungen, kamen die WirtschaftsberaterInnen des Premierministers wiederum wenig überraschend zum Schluss, dass «ein robustes Investitionswachstum und eine hohe Unternehmensprofitabilität Indien grossen Wohlstand bescheren wird».
Die Konsequenzen folgten auf dem Fusse. Im Erntejahr 2003/04 hatte die indische Regierung noch 16,8 Millionen Tonnen Weizen angeschafft. Nach dem neuen Plan der Weltbank verringerte sie diese Menge ein Jahr darauf dann auf 14,8 Millionen Tonnen, auf 11,1 Millionen für 2005/06 und vergangenes Jahr schliesslich auf 9,2 Millionen Tonnen. Die dadurch entstandene und absichtlich geschaffene Unsicherheit bei der Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln führte wiederum zu einem Lamento der Regierung über Nahrungsmittelknappheit und einem Aufruf an die multinationalen Agrokonzerne, aktiv zu werden.
Bereits 2006 hatten verschiedene Multis wie Cargill India, die australische AWB sowie ITC and Adani Export, zwei weitere Konzerne mit Sitz in Indien, drei Millionen Tonnen indischen Weizens aufgekauft. Dies hatte umgehend zu einer weiteren Verknappung und wilden Gerüchten über eine bevorstehende nationale Lebensmittelkrise geführt.
Subventionen für die Grossen
Viele WirtschaftsanalystInnen glauben, dass die Verringerung der staatlichen Ankäufe und der Lebensmittelreserven ein riesiges Netz aus nationalen und internationalen HändlerInnen entstehen liess, die sich ausschliesslich auf den Terminhandel mit Rohstoffen konzentrieren. Inzwischen hat die indische Regierung allerdings den Terminhandel für bestimmte Agrarrohstoffe verboten. «Auf dem Rohstoffmarkt wird täglich mit drei Milliarden US-Dollar spekuliert», sagt Sitaram Yechury von der ehemals maoistischen Kommunistischen Partei Indiens / Marxisten (CPIM). Bei einer Parlamentsdebatte präsentierte Yechury Zahlen, die zeigen, dass das Budget dieser HändlerInnen für Spekulationen von 5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2000 auf 175 Milliarden US-Dollar im vergangenen Jahr angestiegen ist. Auch der Konzern Cargill hatte im April bekannt gegeben, dass sein Gewinn aus dem Rohstoffhandel im ersten Quartal 2008 bereit um 86 Prozent höher sei als in derselben Periode des Vorjahres.
Viele BäuerInnen haben seither von der Nahrungsmittelproduktion auf industriell weiterzuverarbeitende Pflanzen umgestellt. Inzwischen steigt die jährliche Nahrungsmittelproduktion nur noch um 1,2 Prozent, das ist weniger als das jährliche Bevölkerungswachstum von 1,9 Prozent. Demgegenüber ist der Anteil von landlosen Familien von 35 Prozent im Jahr 1987 auf 55 Prozent im Jahr 2005 angestiegen.
Auch andere Zahlen zeigen, in welche Richtung die aktuelle Entwicklung geht: 1951 fanden 72 Prozent der Bevölkerung im landwirtschaftlichen Sektor Arbeit, der 59 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachte. Im Berechnungsjahr 2006/07 waren noch 54 Prozent der Bevölkerung im Agrarsektor beschäftigt, und sie trugen dabei nur noch 18,5 Prozent zum BIP bei. Die Mischung aus geringen Investitionen, fehlender Forschung und Innovation, ein verzerrtes Anreizsystem, wenig Ernteertrag und ein mangelndes Interesse der Behörden an den Bedürfnissen der BäuerInnen haben im Laufe der Jahre zu einer Vernachlässigung des landwirtschaftlichen Sektors geführt.
In der Tageszeitung «The Indian Express» vom November 2005 hatte Indiens Landwirtschaftsminister Sharad Pawar dann auch zugegeben, dass die «bäuerlichen Gemeinschaften in diesem Land in den vergangenen zehn Jahren vollkommen ignoriert wurden» und die Gesamtinvestitionen im landwirtschaftlichen Bereich stetig verringert würden.
Schlecht für die Wahlen
Trotzdem weigert sich die Regierung, dafür die Verantwortung zu übernehmen, auch wenn sie sich um die Folgeschäden sorgt – immerhin stehen 2008 und 2009 Wahlen an. Die Kombination aus galoppierenden Preisen für Grundnahrungsmittel, schwindenden Reserven, rückläufiger Produktivität sowie fortschreitender Verzweiflung von drei Vierteln der Bevölkerung kann jeder Regierung gefährlich werden. Und zu weitreichenden sozialen Unruhen führen. Da verhallt auch der Aufruf der MinisterInnen an den Premierminister zu mehr Sparsamkeit und an die Bevölkerung zu mehr Solidarität ungehört.
Zwar gibt es erste Anzeichen von Einsicht: Erst kürzlich stellte der indische Uno-Botschafter Nirupam Sen bei einem Treffen der Unesco zur weltweiten Nahrungsmittelkrise die Rolle der BeraterInnen, etwa jene der Weltbank, öffentlich infrage. So sagt Sen, dass «die Ratschläge dieser Institutionen zumindest teilweise mitverantwortlich für die heutige Krise» seien. Und sogar Premierminister Singh gab beim Forum der globalen Agroindustrie Anfang April zu bedenken, dass die Industrialisierung nicht auf dem Rücken des «verarmenden landwirtschaftlichen Sektors ausgetragen werden dürfe». Es sei «sozial nicht wünschenswert», dass KleinbäuerInnen ihr Land verkaufen.
Doch das sei «zu wenig und zu spät», meint Doraiswamy Raja von der Communist Party of India (CPI) zu den nachträglichen Anstrengungen der Regierung, die Gemüter der einfachen BürgerInnen zu besänftigen, und zu ihrem plötzlichen Interesse für Nahrungsmittelsicherheit und die Belange der Armen. Die indischen PolitikerInnen haben die Angewohnheit, erst dann hinzuschauen, wenn ein Notstand bereits eingetreten ist.
Weltweite Fehlentwicklung
Die Situation von Indien ist typisch. Viele Entwicklungsländer haben in den letzten zwanzig Jahren die Unterstützung für ihre Landwirtschaft abgebaut, wie die Uno-Organisation für Handel und Entwicklung (Unctad) in einer kürzlich veröffentlichten Studie schreibt. Auch von der Entwicklungshilfe ist immer weniger in die Landwirtschaft geflossen. Folglich ist die Produktivität kaum gestiegen oder, in den ärmsten Ländern, gar gesunken. So müssen heute viele Entwicklungsländer Nahrungsmittel importieren. Laut der Unctad sind auch sogenannte Strukturanpassungsprogramme schuld an dieser Tendenz. Gemeint sind die Programme von Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds, die Kredite an Entwicklungsländer mit der Auflage verknüpfen, dass die staatliche Hilfe an die Landwirtschaft abgebaut werden muss. Letztlich macht man diese Länder so abhängiger von den Wirrungen und Spekulationen der internationalen Rohwarenbörsen. Die dortigen Preise werden in den nächsten Jahren unverändert hoch bleiben, wie eine Studie der Uno-Welternährungsorganisation Fao zeigt. Dazu kommen kurzfristige Schwankungen. So bedroht derzeit eine Hochwasserkatastrophe im Mittleren Westen der USA die Maisernte, was den Weltmarktpreis innerhalb von zwei Wochen um zwanzig Prozent klettern liess.