Indien: Die traditionelle Linke erledigt sich selbst

Mit Marx gegen Landlose

11. Januar 2007 | Im Bundesstaat Westbengalen vertreibt eine kommunistische Regierung Landarbeiterinnen und Kleinbauern, um Industrie anzusiedeln. Was in Stalins Sowjetunion noch klappte, funktioniert im demokratischen Indien jedoch nicht ganz reibungslos.

Text: Joseph Keve, Übersetzung: Pit Wuhrer

Am Montag dieser Woche stand fast alles still im ostindischen Bundesstaat Westbengalen. Im ganzen Land befolgten ArbeiterInnen und Angestellte einen Streikaufruf der Oppositionsparteien: Behörden, Banken, Schulen, Universitäten blieben geschlossen; der öffentliche Verkehr in der Hauptstadt Kalkutta ruhte; auch in den anderen Teilen des von einer linken Allianz regierten Staates fuhr kaum ein Zug. Der Generalstreik war ein Protest gegen Polizeiübergriffe in Nandigram. In diesem rund achtzig Kilometer südwestlich von Kalkutta gelegenen Dorf wehrt sich die Bevölkerung seit Wochen gegen eine Entscheidung der Regierung von Buddhadev Bhattacharya von der CPM, der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten), die 5800 Hektar fruchtbares Land in eine Sonderwirtschaftszone umwandeln will. Als Tausende von DorfbewohnerInnen am Wochenende erneut gegen den Industrialisierungsplan demonstrierten, kam es zu Zusammenstössen zwischen BäuerInnen und LandarbeiterInnen auf der einen und Polizeikräften und CPM-Kaderleuten auf der anderen Seite; sechs Menschen starben dabei.

Die Auseinandersetzungen von Nandigram könnten mitsamt dem Echo, das sie in ganz Westbengalen ausgelöst haben, auch die bäuerliche Oppositionsbewegung von Singur wieder beflügeln, die nach sieben Monaten Kampf kurz vor dem Ende zu sein schien. Auch in Singur, einer kleinen Region nahe Kalkutta, plant die CPM-Regierung die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone (siehe den nebenstehenden Text) – und stand kurz vor einem Erfolg; zu gross schien der Druck auf die Bauern, Pächterinnen und LandarbeiterInnen und zu gross die Macht der Regierung und des Tata-Konzerns, der in Singur auf 400 Hektar eine Automobilfabrik bauen will.

Möglicherweise aber wendet der Konflikt von Nandigram das Blatt, denn nun steht die gesamte Industrialisierungspolitik der kommunistischen Regierung von Westbengalen auf dem Prüfstand. Kurz nach der Wiederwahl seiner Koalition, der linksdemokratischen Front LDF, im Mai 2006 hatte Westbengalens Chefminister Bhattacharya die Ansiedlung nationaler und internationaler Grosskonzerne zur obersten Priorität seiner Regierungspolitik erklärt. Aber bereits damals war absehbar, dass das Vorhaben, insgesamt 28.000 Hektar Land für Industrieansiedlungen zu requirieren, auf massiven Widerstand stossen würde.

Mittlerweile hat die Opposition sogar Teile der regierenden LDF überzeugt: Die Kommunistische Partei Indiens CPI (einst im Unterschied zur ehemals maoistischen CPM eher Moskau-nah) und der linke Vorwärtsblock distanzieren sich inzwischen von Bhattacharyas Industrialisierungskonzept.

Das Beispiel Singur

Es ist noch nicht lange her, dass CPM-Generalsekretär Prakash Karat in Hyderabad, der Hauptstadt des indischen Bundesstaats Andhra Pradesh, eine flammende Rede hielt. Seine Partei, die in Westbengalen zum siebten Mal hintereinander die Wahl gewann und im Frühsommer auch in den Bundesstaaten Kerala und Tripura siegte, werde in den nächsten Monaten über 200 Grosskundgebungen gegen die Zentralregierung in Neu-Delhi organisieren, versprach Karat. Denn deren Politik und die der anderen Regionalregierungen richte sich gegen die Armen. «Sie vertreiben Bauern, Fischer und Waldbewohner von ihrem Land, entziehen ihnen die Lebensgrundlage und überreichen ihren Boden den Multis.» Mit der Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen für grosse Privatunternehmen «verstösst die indische Regierung gegen die Verfassung», sagte Karat. Seine Partei trete hingegen für eine Landreform ein, die den Landlosen zugute komme.

Das war im August. Zwei Monate später bekräftigten alle linken Parteien von Westbengalen in einer Protestnote an die von der Kongresspartei geführte Zentralregierung in Neu-Delhi ihre Bedenken gegen diese Zonen: «Landwirtschaftlich genutzter Boden darf für Industrieansiedlungen nicht herangezogen werden.» Zu diesem Zeitpunkt aber war der Kampf um Singur bereits in vollem Gange – geführt von einer Partei, die an der Macht genau das tut, was sie anderswo scharf kritisiert.

Im westbengalischen Distrikt Singur leben, auf fünf Dörfer verteilt, rund 20.000 Menschen. Das Land ist fruchtbar, ein Kanal und 29 Brunnen sorgen für ausreichend Wasser, der Anbau von Kartoffeln, Reis, Jute und Gemüse bietet der Bevölkerung ein karges, aber sicheres Auskommen. Rund die Hälfte der DorfbewohnerInnen sind KleinbäuerInnen, etwa ein Drittel hat das Land gepachtet, der Rest besteht aus zugewanderten LandarbeiterInnen. Viele der lokalen LandbesitzerInnen aber arbeiten in Kalkutta oder haben dort einen kleinen Laden.

Man kam miteinander aus und konnte in Ruhe leben – bis im Mai 2006 Ingenieure des indischen Grosskonzerns Tata auftauchten und mit Beamten der Westbengalischen Industrieentwicklungsbehörde WBIDC das Land vermessen wollten. Die KleinbäuerInnen verwehrten dem Trupp den Zugang zu ihren Feldern und organisierten sich kurz darauf in einem Save Agriculture Land Committee, einem Komitee zur Rettung des Agrarlandes. Einige von ihnen waren erst im Zuge eines Landprogramms der CPM zu ihren Flecken Boden gekommen – aber das war in den sechziger und siebziger Jahren gewesen, als die CPM in Westbengalen noch sozialrevolutionäre Ziele verfolgte.

In den folgenden Monaten intensivierten vor allem die Armen von Singur ihre Kampagne gegen die geplante Landnahme. «Zwei Jahrzehnte hat es gedauert, bis ich aus meinem Hektar Land das gemacht habe, was es heute ist», sagt beispielsweise Alok Pal, 58 Jahre alt. «Ich habe hart gearbeitet, etwas Geld gespart, könnte jetzt ein kleines Haus bauen – und nun will mich die Regierung vertreiben. Warum erschiesst sie mich nicht gleich?» Die Bewegung wurde vor allem von Frauen vorangetrieben, da diese am meisten zu verlieren haben, und es waren auch prominente Frauen, die dem Kampf der kleinen Leute eine landesweite Aufmerksamkeit brachten: Die Menschenrechtsaktivistin Madha Paktar zum Beispiel, die sich seit Jahrzehnten gegen den Narmada-Staudamm in Westindien wehrt, die Schriftstellerin Arundhati Roy oder die Vorsitzende der oppositionellen Trinamool Congress Party Mamta Banerjee, die über fünf Wochen lang in einem Hungerstreik war.

Tata und die KommunistInnen

Ihr Protest rief viele Helfer und Unterstützerinnen auf den Plan – StudentInnen, Intellektuelle, MenschenrechtlerInnen, radikale Linke, aber auch die Hindu-chauvinistische indische Volkspartei BJP, die in den von ihr regierten Bundesstaaten Gujarat, Rajasthan und Karnataka den Armen ebenfalls das Land wegnimmt. Doch die Bewegung beeindruckte Kalkutta kaum. Ein kurzer Generalstreik Anfang Oktober führte zur Verhaftung von rund 7000 «Störenfrieden», wie es die Regierung nannte. Ein Aktionstag Anfang Dezember – er wurde von über einem Dutzend nichtstaatlicher Organisationen (NGOs) unterstützt – mobilisierte vor allem 3000 bewaffnete Polizisten; ein Demonstrant kam bei den Strassenschlachten um, mehrere Hundert wurden verhaftet und verletzt. Anschliessend zäunten die Sicherheitskräfte einen Teil der designierten Sonderwirtschaftszone ein: Unter dem massiven Druck der Regierung hatten rund zwei Drittel der LandbesitzerInnen – vor allem jene, die den Boden nicht selber bewirtschaften und im vierzig Kilometer entfernten Kalkutta jobben – ihre Grundstücke verkauft.

Seit sieben Monaten ignorieren die CPM-KommunistInnen von Westbengalen die Proteste: Sie berufen sich auf das Mandat, das sie bei der Wahl im Mai 2006 mit einer grossen Mehrheit zugesprochen bekamen, und verfolgen ein Wirtschaftsprogramm, das ihrer Meinung nach den Erfordernissen der Globalisierung entspricht. Mit Demokratie hat ihre Politik jedoch wenig zu tun.

Als das Save Agriculture Land Committee zu Beginn seiner Kampagne von den Behörden wissen wollte, wo genau die Sonderwirtschaftszone hinkommen soll, wie viele Menschen unter der Armutsgrenze darin leben, wie viele und welche Arbeitsplätze Tata in Aussicht stelle, lautete die Antwort: keine Auskunft, keine Ahnung, Geschäftsgeheimnis.

Auch Tata, der grösste indische Privatkonzern, liess sich vom Widerstand wenig beeindrucken. Das Grossunternehmen – es besitzt in Indien 96 Firmen, operiert in 54 Staaten, exportiert Waren und Dienstleistungen in 120 Länder, hat zuletzt den britisch-niederländischen Stahlkonzern Corus übernommen und erzielte im letzten Finanzjahr einen Überschuss von 27 Milliarden Franken – gibt sich zwar gerne menschenfreundlich, unterstützt auch hin und wieder ArbeiterInnenkooperativen in Sektoren mit geringer Profitrate, aber im Falle Singur blieb das Familienmanagement hart. Und argumentierte mit den Zwängen der Globalisierung, die Zugeständnisse an die ortsansässige Bevölkerung nicht mehr erlaube. Dabei hätte der Konzern durchaus Alternativen gehabt. «Die westbengalischen Behörden haben den Tatas fünf Gelände angeboten», berichtete Palash Biswas, ein Zeitungsreporter aus Kalkutta, im Dezember. «Die meisten bestanden aus Brachland. Doch sie entschieden sich für Singur.» Auch in Haldia (ebenfalls Westbengalen) und in den Bundesstaaten Jharkand, Bihar und Maharashtra haben Tatas Standortentscheidungen die ortsansässige Bevölkerung vertrieben.

Standortdiskussion der Linken

Egal, wo sich Investoren niederlassen wollen – die Regierung werde das Land bereitstellen. Das sagte Nirupam Sen, der CPM-Industrieminister von Westbengalen letzten Sommer. Zur gleichen Zeit veröffentlichte sein Kollege vom Ministerium für Landreform eine neue Statistik. Ihr zufolge ist in den letzten fünf Jahren die Zahl der Landlosen in Westbengalen um 2,5 Millionen auf rund 7,4 Millionen gestiegen. Im selben Zeitraum schrumpfte der Ackerboden um 48 000 Hektar.

Wie sinnvoll ist eine solche Politik auf Dauer? Das fragen sich nicht nur die Betroffenen, sondern immer häufiger auch Gewerkschaften und linke Parteien. In den Bundesstaaten Andhra Pradesh, Tamil Nadu, Maharashtra und Rajasthan unterstützen sie Bewegungen gegen eine Industrialisierungspolitik, der KleinbäuerInnen zum Opfer fallen. Im nordindischen Haryana ist ihr Protest besonders gross. Dort sollen gleich 10.000 Hektar als Sonderwirtschaftszone definiert werden, die von der Reliance-Gruppe beansprucht wird. Dieses schnell expandierende Firmenkonglomerat (es ist im Energie-, Strom-, Telekommunikations-, Chemie- und Handelssektor tätig) verfolgt eine besonders aggressive Unternehmenspolitik. Jetzt haben NGOs und lokale Bauernorganisationen der von der Kongresspartei geführten Regierung ein Ultimatum gestellt: Wenn sie diesen Plan nicht bis Ende Januar zurückziehe, werde man eine landesweite Kampagne starten. Mit dabei in Haryana, wie auch bei allen anderen Protestbewegungen, ist die CPM.


Sonderzonen mit beschränktem Nutzen

Für die indische Elite sind sie das neue Wundermittel, das die Wirtschaft ankurbelt, ausländische InvestorInnen ins Land holt und das Wachstum fördert: die Special Economic Zones (SEZ). 15 solcher Sonderwirtschaftszonen gibt es derzeit in Indien, 164 weitere sind bereits genehmigt. In der Regel beschlagnahmen die Behörden, gestützt auf das koloniale Bodenerwerbsgesetz von 1894, das Land und verpachten oder verkaufen es zu subventionierten Preisen.

Die SEZ bieten in- und ausländischen Konzernen weitreichende Freiheiten. Sie zahlen in den ersten fünf Jahren keine Unternehmenssteuern (und in den folgenden zwei Jahren nur die Hälfte), entrichten weder Einfuhr- noch Ausfuhrzölle und sind auch von der Mehrwertsteuer befreit.

Zudem gelten in den SEZ keine Arbeitsschutzgesetze. Die InspektorInnen, die sonst die Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen und Umweltauflagen kontrollieren, haben keinen Zutritt. Da die Firmen in den SEZ als «public utility service», als gemeinnützige Einrichtungen, gelten, sind Streiks verboten; zudem dürfen sich die Beschäftigten nicht organisieren.

Die Unternehmen können die Löhne beliebig festsetzen und müssen sich auch nicht an den gesetzlich festgelegten Mindestlohn halten – dieser schwankt, je nach Bundesstaat, zwischen umgerechnet 1.90 (Westbengalen) und 1.20 Euro (Madhya Pradesh) pro Tag. Im letzten Finanzjahr betrug der Gesamtwert aller Exporte aus den SEZ rund 3,4 Milliarden Euro, das ist weniger als fünf Prozent des Ausfuhrvolumens.

Über ein Drittel aller exportierten Waren und Dienstleistungen kommen dagegen aus Kleinunternehmen, die keinerlei Zuschüsse erhalten. Nach einer Studie, die das National Institute of Public Finance and Policy kürzlich veröffentlichte, verursachen die SEZ bis 2010 einen Steuerausfall von über 18.5 Milliarden Euro. Die anderen Kosten – von den Polizeieinsätzen bis hin zur schwindenden Ernährungssouveränität – sind da noch nicht mitgerechnet. (jk)