Britannien: Eine Chance für London
Keine Opposition, fast nirgendwo
7. Mai 1998 | Tony Blairs neue Labourregierung hat bisher sämtliche Wahlversprechen gehalten. Leider.
Doch, doch, die neue Regierung habe in ihrem ersten Jahr auch gute Entscheidungen getroffen. David Pope sagt das, und es klingt ganz so, als wolle er sich selber davon überzeugen, dass er in der richtigen Partei ist. «Gut war zum Beispiel die Einführung von Regionalparlamenten in Schottland und Wales, auch wenn die mehr Macht haben müssten. Gut war auch, dass die Heizmaterialsteuer gekürzt wurde.»
Und sonst? Pope denkt nach. Gut sei auch die geplante Regionalversammlung für London und das Referendum, sagt er. In der Tat: Erstmals seit 1986 darf sich die Londoner Bevölkerung zu eigenen Belangen äussern. An diesem Donnerstag wird parallel zu den Kommunalwahlen im Grossraum von London ein Referendum abgehalten – die BewohnerInnen der Hauptstadt entscheiden über die Einführung einer Regionalversammlung und darüber, ob sie künftig einen Oberbürgermeister wählen wollen. Eine Annahme gilt als sicher.
David Pope, Angestellter im Transportministerium, aktiver Gewerkschafter und Labour-Vorsitzender im Londoner Wahlkreis Leyton und Wanstead, zählt zu den Linken in der Partei. Die negativen Seiten der bisherigen Regierungspolitik hat er schnell aufgelistet: «Der erste Fehler der Regierung war, die Geldpolitik der Bank von England zu überlassen. Danach hat sie die Sozialhilfe für alleinerziehende Mütter gekürzt, die USA im Irak-Konflikt unterstützt, den Behinderten eine Mittelkürzung angedroht.»
Wie Tory-Propaganda
Die Regierung des neuen Premierministers Tony Blair blieb also ihren Ankündigungen treu. Sie hat die konservativen Budget-Vorgaben eingehalten, die direkten Einkommenssteuern nicht erhöht, die Privatisierung weiter vorangetrieben und den Gewerkschaften kein einziges der Rechte zurückgegeben, die ihnen in den Jahren des Thatcherismus genommen worden waren. «Wenn ein Tory den Armen im Land erzählt hätte, dass nach einem Jahr Labour die Renten immer noch nicht erhöht und die Gewerkschaften immer noch völlig rechtlos wären – sie hätten es für eine konservative Propaganda gehalten», schrieb ein empörter Roy Hattersley in der Tageszeitung «The Guardian».
Roy Hattersley ist nicht irgendwer. Er war jahrelang stellvertretender Parteivorsitzender (unter Neil Kinnock) und ist noch heute kein Linker. Aber er ist heute einer der wenigen, die Tony Blair offen kritisieren.
Der Rest der Medien jubelt. «Tony Blair sieht nicht nur gut aus, er ist auch gut», schrieb Rupert Murdochs rabiat-rechte Boulevardzeitung «The Sun». Auch die Banken und Versicherungen in der Londoner City gratulierten ihm zum ersten Jahr im Amt.
Umfragen zufolge ist New Labour populärer denn je (allerdings nur in England, nicht in Schottland). Es gibt Ausnahmen, vor allem im Kulturbereich. Die Zahl der Musikgruppen, die mit der «schrecklich reaktionären New-Labour-Regierung» nichts zu tun haben wollen, wächst beständig. «Niemand weiss, was die eigentlich beabsichtigen. Haben sie einen grossen Plan in der Tasche? Oder sind sie selber völlig ahnungslos?» fragt Tony Fegan vom Internationalen Londoner Theaterfestival.
Für eine Regierung, die sich gänzlich an den Medien orientiert und die einen neuen Stil pflegt, hat Blairs Truppe für Fegan versagt. «Sollten sie tatsächlich ein taugliches Rezept für den Umbau der Gesellschaft besitzen, dann haben sie das bisher nicht vermitteln können.» Was sie dagegen «ganz hervorragend rüberbringen, ist ihre Ahnungslosigkeit».
Volksherrschaft?
Vielleicht erklärt gerade dies Blairs Erfolg. Die Regierung, deren Wahlerfolg die Rückkehr der ungeliebten Tories verhinderte, hat zwar deren Politik, aber nicht deren Arroganz übernommen. Es herrscht die grosse Ambivalenz, alles bleibt vage – und die dazugehörigen Floskeln kann jeder Staatssekretär im Schlaf aufsagen: Modernisierung, Wandel, Ermächtigung, People.
«Die Prinzessin des Volks»: Mit dieser Würdigung des Unfallopfers Diana Spencer hat Tony Blair mitten ins Gemeinschaftsgefühl getroffen (ein Gemeinschaftsgefühl, das notabene in Reaktion auf Thatchers Zuerst-komm-ich-Ideologie entstand). «Volk» ist alles: «People's banquet» beim Mittagessen zu Ehren der Königin, «People's Europe» als Slogan für die britische EU-Präsidentschaft, «People's money» als Budget-Posten im gerade verabschiedeten Haushalt. Alle inklusive, niemand wird ausgegrenzt. Das Inklusive gilt freilich vor allem für das Spektrum zwischen der politischen Mitte und dem rechten Rand: Die Deportationen unerwünschter Flüchtlinge haben unter Labour zugenommen.
Zugenommen hat auch die Zentralisierung der Partei. David Pope ist 1987 beigetreten. In dieser Zeit begannen die Schwierigkeiten für die Labour-Linke – der damalige Labour-Chef Neil Kinnock schloss die militantesten KritikerInnen seiner Anpassungsstrategie aus.
«Viele andere mussten seither gehen», sagt Pope, der inzwischen im Redaktionsrat von «Labour Left Briefing» sitzt, einem parteiinternen Oppositionsmagazin. Die vielen neuen weiblichen Abgeordneten, auf die Labour so stolz ist, hätten sich bisher kaum bemerkbar gemacht, sagt er – «von denen hat keine gegen die Kürzung der Sozialhilfe für alleinerziehende Mütter gestimmt». Gegenwehr leisten hauptsächlich die bekannten Parteilinken, die Tony Benns, die Jeremy Corbyns, die Ken Livingstones.
Vor allem Livingstone ist eine harte Nuss. Er war zu Thatchers Zeiten Londons Oberbürgermeister und der gefährlichste Gegenspieler der Premierministerin gewesen. Thatcher schaffte 1986 den Grossrat von London ab, auch um ihn auszuschalten. Jetzt hat sich Livingstone erneut um dieses Amt beworben; Umfragen zufolge würde eine Mehrheit der Londoner Bevölkerung für ihn votieren. Die Abstimmung über die Einführung des Amts findet jetzt statt, die Wahl des Oberbürgermeisters selber in zwei Jahren. Tony Blair bleibt also noch genügend Zeit, den «Roten Ken» auszuschalten. Denn das wird er auf jeden Fall versuchen. Er kann Opposition so wenig ertragen wie Margaret Thatcher. (pw)