Britannien: Hillsborough, die zwangsläufige Katastrophe

Die Käfighaltung der Arbeiterklasse

20. April 1989 | Pokalhalbfinale am Samstag. Im Sheffielder Stadion Hillsborough treffen der FC Liverpool und Nottingham Forest aufeinander. Doch dann kommt es zum grössten Desaster in der Geschichte des britischen Fussballs.

Am Tag danach besuchte sie den Unglücksort und die Überlebenden, lobte tapfere Polizisten und Sanitäter, versprach Untersuchungen und Geld und zeigte sich erschüttert. Es war das gleiche Ritual wie vor Monaten, als im mittlerweile katastrophenreichen Britannien mehrmals hintereinander vollgestopfte Pendlerzüge aufeinandergeknallt waren. Margaret Thatchers medienwirksame Kondolenzbesuche führten sie im Dezember und Januar zu den Opfern von Unglücken, die sich hätten vermeiden lassen, wäre die Regierung nicht so gnadenlos mit der noch staatlichen britischen Eisenbahn umgegangen, die täglich Millionen der ärmsten Mitglieder ihrer Erfolgsgesellschaft in überalterte Waggons pfercht und auf antiquierten Gleisanlagen hin- und herschiebt. Nein, das kollektive Transportmittel Eisenbahn ist der Premierministerin Sache nicht. Und der Fussball vermittelt ihr Ekelgefühle, die bei Golf oder Kricket nicht hochkommen.

Die Katastrophe von Sheffield, das war ihr klar, hatte was mit den Hooligans zu tun, und so liess sie über ihren Innenminister Douglas Hurd zwei Tage nach dem Desaster mitteilen, dass die Regierung an der Einführung eines Computersichtkartensystems für Fussballfans festhalten wolle – obwohl alle (Polizei, Sicherheitsexpertlnnen, Vereine) davor warnen. Ausserdem, so Hurd, sollen in allen grösseren Stadien die Stehplätze in den Kurven verschwinden, jeder Fan auf einen Sitzplatz verwiesen werden. Mit dem Argument der Sicherheit will der Staat die Kontrolle der SchlachtenbummlerInnen intensivieren.

Früher die Friedfertigsten

In der alten Hafenstadt Liverpool trauert derweil die gesamte Bevölkerung. Allein am Montag, dem Tag der Parlamentsdebatte, waren 150.000 Leute an die Anfield Road gepilgert, karrten Taxis die Menschen in Gratisfahrten zum Stadion, wo nicht nur Fans in der Heimkurve weinten und das Tor am Kop mit Blumen und Schals in den Farben des FC Liverpool zum Schrein ausschmückten. «You'll never walk alone», steht über dem Eingang der bekanntesten Fan-Kurve Britanniens – du gehst nie allein. In der Stadt mit rund dreissig Prozent Arbeitslosigkeit, mit ihren Elendsquartieren und ihrer Hoffnungslosigkeit, mit ihren über dreihundert Fussballmannschaften in Kneipen-, Schul-und Stadtteil-Ligen, unterbricht nur der Samstagnachmittag in Goodison Park (dem Stadion des FC Everton) oder an der Anfield Road (FC Liverpool) den tristen Alltag.

Ich habe es selbst oft genossen: Im Kop, dem den eigenen Fans vorbehaltenen Stadionende in Anfield, wird Fussball gelebt, in einem einzigartigen Theater mit inszeniert. Das Publikum schaut nicht nur zu, sondern nimmt teil und begleitet zehntausendkehlig die Aktionen auf dem Rasen mit oft witzigen, manchmal selbstironischen Sprechchören. Eine spontane, widerspenstige, herausfordernde Masse, selbstbewusst und mit leicht anarchischem Einschlag. Vielleicht war es kein Zufall, dass es gerade Liverpool – dessen Fans vor dem Desaster im Brüsseler Heysel-Stadion 1985 als die friedfertigsten des Landes galten, jetzt zum zweiten Male getroffen hat. «Wir werden wie Tiere behandelt», sagte einer, der Sheffield überlebte – und als Tiere sind die britischen Fans oft genug auch bezeichnet worden.

Keine Fluchtmöglichkeit

Die Toten von Sheffield sind Opfer eines Klassenkampfs von oben. Die systematische Erniedrigung derer, die pauschal als gewalttätige Hooligans bezeichnet werden, hat in Sheffield 95 Menschen zerquetscht. Der Mob muss unter Kontrolle gehalten werden, darf die Ruhe des Landes nicht stören. Gegen die Proteste des Liverpooler Clubvorstands hatte die Polizei in Sheffield der Liverpooler Fangemeinde – weitaus grösser als die Supporterschar von Nottingham – das kleinere Stadionende an der Leppings Lane zugewiesen, damit der Innenstadtverkehr von Sheffield nicht gestört wird.

Der Verkehrsfluss der KonsumentInnen war wichtiger als der Menschenfluss vor und in dem Stadion, der, wie stets, von berittener Polizei dirigiert wurde. Liverpudlians, die mit gültigem Ticket vor abgesperrten Gitterkreuzen standen, sagten hinterher, die Polizei habe sie regelrecht durch das einzige Tor getrieben, das später geöffnet wurde. Im entscheidenden Moment nutzten auch die in allen grösseren Stadien installierten Videokameras nichts. Schliesslich waren diese zur Überwachung und späteren Überführung von Gewalttätern eingerichtet und nicht, um die Sicherheit der ZuschauerInnen zu gewährleisten. Das Gleiche gilt für den käfigartigen Aufbau der Stehtribünen, die – anders als die teureren Sitzplatzränge – nicht nur zum Spielfeld hin mit massiven Stahlgittern (belastbar bis fünfzig Kilogramm pro Quadratzentimeter) abgesperrt waren, sondern auch seitlich die Flucht zu weniger vollen Tribünenteilen verwehrten.

Zwar hatte die Untersuchungskommission nach dem Tribünenbrand in Bradford 1985 (52 Todesopfer) geschätzt, dass mit einer Umzäunung des Spielfeldes die Todesrate dreifach höher ausgefallen wäre, aber ihrer Empfehlung («das Spielfeld ist der letzte Zufluchtsort») mochten die konservativen Politikerinnen und Vereinsmanager nicht folgen. Es wurde vergittert, als gälte es, wildgewordene Bestien in Schach zu halten, und anfangs jagten die Polizisten im Stadionrund verzweifelte Menschen, die über die vier Meter hohe Absperrung geklettert waren.

Zurück bleiben die Bilder, die Gesichter der Sterbenden. Es sei wie «im Zoo» gewesen, hiess es danach, nur dass diesmal elektronische Geräte die Tiere besichtigten – die Kameras der TV-Anstalten, die Videoapparate der Polizei und die Computer, die dem Polizisten an der Leppings Lane mitteilten, dass noch genug Platz auf der Tribüne sei – allerdings nur in den Gehegen links und rechts. Die riesigen Summen, die in die Überwachung gesteckt wurden, fehlten an anderen Orten: Es gab keine Rettungsgeräte.

Kollektive Stärke

Was bei anderen Grossaufmärschen, dem Geburtstag der Königin etwa oder den Pferderennen in Ascot, reibungslos funktioniert, will beim Fussball partout nicht klappen. Und das nicht etwa, weil sich die Fans besoffen und schIägernd durch Eingänge prügeln würden, sondern weil es der Polizei und der Regierung schlichtweg gleichgültig ist, was mit Malochem und Arbeitslosen passiert.

Für sie haben Thatcher und Konsorten nur abgrundtiefe Verachtung übrig; sie können und wollen – wie alle Kleinbürgerinnen in den Redaktionsstuben auch diesseits des Kanals – nicht verstehen, dass Fussball mehr ist als ein Spiel: Ein Ausdruck kollektiver Stärke und Identität. Anders als die Massenansammlungen in Einkaufszentren oder bei Pop-Konzerten ist der Fussball die letzte grosse leidenschaftliche Veranstaltung unserer Zeit. Fans identifizieren sich mit ihren Clubs, weil diese – anders als die Städte mit ihren immer gleichen Zentren und gesichtslosen Arbeiterquartieren – lokale Identität stiften. Sie identifizieren sich mit «ihrer» Mannschaft und setzen dabei kollektive Energien frei, die bei den Bessergestellten immer schon Ängste und Befürchtungen auslösten. «Die turbulenten Massen sind mittlerweile Fremdkörper in einer Gesellschaft, die alle anderen öffentlichen Leidenschaften zähmte», schrieb der Autor Jeremy Seabrook nach dem Massaker von Sheffield im «Guardian».

Margaret Thatcher, die in ihrem Leben bisher weder einen Eisenbahnwaggon bestiegen noch ein Fussballspiel besucht hat, würde diese Fremdkörper sicher gerne ausmerzen und dazu den ganzen Fussball verbieten, hätte er sich nicht längst zu einer millionenschweren Freizeitindustrie entwickelt. Die Vereine geben nicht nur in England weit mehr für den Transfer eines Stars aus als für die Sicherheit des Publikums. Übertragungsrechte und Spielerhandel wiegen finanziell schwerer als die Gesundheit der Fans – obwohl die Industrie von ihnen lebt. So sorgen die Geschäfte, um deretwillen der britischen Gesellschaft alle Eigenständigkeit ausgetrieben wird, selbst dafür, dass ein ungeordneter Rest bleibt. Ein Rest, der, gut überwacht, in alte Züge gestopft, hinter Gittern gehalten oder auf wackelige Tribünen getrieben wird. (pw)

Nachtrag:

(1) Mehrere Wochen nach dem Desaster erhöhte sich die Zahl der Toten von 95 auf 96.

(2) Dieser Artikel erschien am 21. April 1989 in der Schweizer Wochenzeitung WoZ, also kurz nach den Ereignissen vom 15. April 1989. Damals gaben die Medien den Liverpooler Fans die Hauptschuld an der Katatstrophe. Erst im September 2012 kam eine unabhängige Untersuchungskommission (sie war auf Druck der Hillsborough Family Support Group eingerichtet worden) zu dem Ergebnis, dass die Polizei und die Hilfskräfte für das Desaster verantwortlich waren und die Fans keine Schuld daran hatten. Derzeit werden die Ereignisse in einem neuen Gerichtsverfahren untersucht.