Britannien: Churchills andere Seite
Viele dunkle Stunden
7. März 2018 | War Winston Churchill wirklich ein großer, tapferer, weiser Mann? Das macht uns der Mainstream weis – und jetzt auch noch ein Kinofilm.
Nun hat er nach dem AACTA International Award, dem British Academy Film Award und dem Golden Globe also auch einen Oscar bekommen, der britische Film «Darkest Hour» (deutscher Titel: «Die dunkelste Stunde»). Zwar nicht als bester Film, nicht für das Buch, nicht für die Regie. Aber für die überzeugende Darstellung der Hauptfigur.
Mit dem Film rückt auch hierzulande der wohl bekannteste britische Politiker wieder in die Erinnerung: ein humorvoller, geradliniger, konservativer Mensch mit Bowlerhut, die unvermeidliche Zigarre in der einen, das Whisky-Glas in der anderen Hand – «der Mann, der Europa rettete» («Der Spiegel»). Und so steht es auch in den meisten Kurzbiografien: Winston Leonard Spencer-Churchill (1874-1965). Entstammte der Hocharistokratie, war führender Politiker (bei den Konservativen, den Liberalen, wieder bei den Konservativen), amtierte als Erster Lord der Admiralität, Innenminister, Kriegsminister, Kolonialminister, Schatzkanzler und so weiter, bis er 1940 Premierminister wurde und in diesem Amt den deutschen Nazis Paroli bot. 1945 abgewählt, gewann er 1950 die Unterhauswahl und gab 1955 das Amt des Premiers aus gesundheitlichen Gründen auf.
Eine lange Liste
Dass Churchill entschieden die Appeasement-Politik seines Vorgängers Neville Chamberlain ablehnte, dass seine Reden («Blut, Tränen und Schweiß») die britische Bevölkerung mobilisierten, dass er – zumindest anfangs – massgeblich am Zustandekommen der Anti-Hitler-Allianz mitwirkte, dass er mit seiner Unbeugsamkeit den Widerstandswillen Britanniens symbolisierte und stärkte – alles richtig. Und doch geht bei der aktuellen Heldenverehrung die historische Figur verloren. Denn es gab nicht nur den Nazigegner Churchill, es gab auch den unbeirrbaren Imperialisten, den überzeugten Rassisten, den Arbeiterschinder Churchill.
Hier eine bei weitem nicht vollständige Liste aufschlussreicher Begebenheiten aus dem Leben des Herrenreiters Churchill, dem 1953 der Literaturnobelpreis für seine «brilliante Rhetorik zur Verteidigung wichtiger menschlicher Werte» verliehen worden war:
● 1897: Churchill beteiligt sich im Alter von 22 Jahren als Kavalerie-Leutnant und «Daily Telegraph»-Korrespondent in Afghanistan am Kampf britischer Kolonialtruppen gegen die Paschtunen: «Wir sind systematisch vorgegangen. Dorf für Dorf sprengten wir Häuser, zerstörten Brunnen, fällten die schattenspendenden Bäume, verbrannten die Ernte und leerten die Wasserreservoirs», schrieb er. Die Paschtunen müssten endlich «die Überlegenheit der [weißen] Rasse anerkennen»; «wer sich widersetzt, wird umstandslos getötet»; die britischen Truppen sind «das Material, aus dem Imperien gebaut werden». Ein Jahr später geht Churchill als Journalist und Kämpfer in den Sudan, beteiligt sich am dortigen Kolonialkrieg und veröffentlicht danach das Buch «River War» (in dem er «die» MuslimInnen als «fanatisch» und «apathisch» zugleich charakterisiert).
● 1899 zieht der 25-jährige Churchill in den Burenkrieg, den die britische Kolonialmacht gegen die weißen, europäisch-stämmigen Afrikaaner führte. Das Empire verfolgt eine Strategie der verbrannten Erde und errichtet Konzentrationslager. Diese für gefangene Buren bestimmte Lager würden «ein Minimum an Leiden» (Churchill) verursachen; tatsächlich kommen 28.000 Häftlinge um. In den Konzentrationslagern für Schwarze sterben 14.000 Menschen, doch Churchill überraschte etwas anderes: «Dass Kaffern [die auf Britanniens Seite kämpften] erlaubt ist, auf Weisse zu schießen».
● 1910: Der damalige Innenminister Churchill interveniert bei einem Arbeitskampf im Kohlerevier Tonypandy (Südwales) – und schickt Soldaten. Das wiederholt sich 1911, als in Liverpool zuerst die Seeleute, dann die Docker, schließlich die Fuhrwerker streiken. Beim Versuch, diesen lokalen Generalstreik zu brechen, tötet die Armee mehrere Streikende.
● Januar 1919: In Glasgow kommt es im Rahmen wilder Streiks und einer Kampagne für Arbeitszeitverkürzung zu Auseinendersetzungen mit der Polizei. Churchill, inzwischen Kriegsminister, schickte 10.000 Soldaten gegen die «bolschewistische Erhebung».
● Ebenfalls im Januar 1919 beginnt der irische Unabhängigkeitskrieg (1919-1921). Churchill schafft mit den «Black and Tans» eine vor allem aus Weltkriegsveteranen gebildete Freiwilligenarmee, die mit großer Brutalität gegen die rebellischen IrInnen vorgeht. So erschiessen bei einem Gaelic-Football-Spiel 1920 im Croke-Park-Stadion (Dublin) die «ritterlichen und ehrenwerten Offiziere» (Churchill) 14 Menschen.
● 1920: Churchill erklärt seine Unterstützung für die Gründung eines zionistischen Staats «an den Ufern des Jordans». Interessant sind die Worte, mit denen er 1937 vor der Palestine Royal Commission seine Haltung begründete: Er werde «nicht zugeben, dass den roten Indianern in Amerika oder der schwarzen Bevölkerung in Australien grosses Unrecht widerfahren ist (…) ihnen geschah deswegen kein Unrecht, weil eine stärkere Rasse, eine höhere Rasse, eine weisere Rasse gekommen ist und ihren Platz eingenommen hat.»
● 1921: Als Kolonialminister (Februar 1921 bis Oktober 1922) entwickelt Churchill in Nahost eine neue, billigere Strategie zur Aufstandsbekämpfung: Luftwaffe statt Bodentruppen. «Ich bin sehr dafür, Giftgas gegen unzivilisierte Stämme einzusetzen», sagte er schon 1919. In den 1920er Jahren kommt es im Gebiet des heutigen Irak immer wieder zu Erhebungen, die von der britischen Airforce mit Gas bekämpft werden.
● 1943: Im Osten Indiens sterben aufgrund einer Hungersnot rund drei Millionen Menschen. Daran seien die Bengalen selber schuld, sagte Churchill, «sie vermehren sich wie die Karnickel». Überhaupt: «Ich hasse Inder. Es ist ein abscheuliches Volk mit einer abscheulichen Religion.» Während der Hungersnot exportiert die britische Kolonialverwaltung in Indien Millionen Tonnen Reis nach Nahost (obwohl dort die Lebensmittelliferung gar nicht gebraucht wurde). Hilfsangebote aus Kanada und den USA lehnt Churchill ab.
● Dezember 1944: Auf Churchills Befehl hin attackieren britische Truppen in Athen 200.000 Menschen, die gegen die Entwaffnung der antifaschistischen Partisanenverbände von ELAS und EAM demonstrieren; 28 Demonstranten werden getötet. Für Churchill waren die Partisanen, die die Nazis besiegt hatten, «miserable Banditen»; im folgenden Bürgerkrieg unterstützte seine Regierung die monarchistische Reaktion.
● 1952: Die britische Regierung verhängt in Kenia den Ausnahmezustand; die fruchtbaren Hochebenen der Kolonie, so Premier Churchill, sollten in der Hand weißer Siedler bleiben. Die Kolonialmacht schliesst Schulen (die als «Übungsgelände der Rebellion» charakterisiert werden) und errichtet Lager, in denen 150.000 Männer, Frauen und Kinder eingesperrt und gefoltert werden. Die britischen Truppen «erschossen, verbrannten, verstümmelten Mau-Mau-Verdächtige oder peitschen sie aus», schreibt die Wissenschaftlerin Caroline Elkins in ihrem Buch «Britain's Gulag»; unter den Gefolterten war auch Hussein Onyango Obama. Zur Bekämpfung der Unabhängigkeitsbewegung beschloss das Kabinett in London Zwangsarbeit für kenianische Gefangene – obwohl es sich bewusst war, dass es damit gegen die Zwangsarbeitskonvention von 1930 und die Menschenrechtskonvention des Europarats verstösst.
● August 1953: Die britische Regierung unter Churchill und der CIA organisieren einen Putsch gegen den gewählten iranischen Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh, dessen Regierung die Anglo-Iranian Oil Company verstaatlicht hatte. Churchill nennt den Staatsstreich «die beste Operation seit Ende des [Zweiten Welt-]Kriegs».
Im Interesse des Empires?
War es also ein «seltener und glücklicher Zufall», dass zu Beginn der Zweiten Weltkriegs «die vitalen Interessen des Britischen Empires mit denen der überwältigenden Mehrheit der Menschheit zusammenfielen», wie der US-Bürgerrechtler Richard B. Moore meint? Oder lag es daran (wie Johann Hari, Autor des Buchs «Churchill's Empire», schreibt), dass ein Gauner schneller begreift als andere, wenn er einem noch größeren Schurken begegnet?
In der ersten Hälfte der vierziger Jahre war Churchill tatsächlich ein Held. Aber ein Protagonist demokratischer Werte und des zivilen Fortschritts war er die meiste Zeit seines Lebens nicht.
PS: Am Ende seiner Amtszeit hinterließ US-Präsident George W. Bush eine Churchill-Büste in seinem Arbeitszimmer. Sein Nachfolger Barack Obama, Enkel von Hussein Onyango Obama, räumte sie ab und schickte sie nach London zurück. (pw)