Britannien: Wahl der neuen Parteiführung
Wo sitzt Labours Seele?
3. August 2015 | Es geschehen noch Wunder, sogar bei der britischen Labour-Partei: Statt, wie bislang absehbar, nach rechts zu driften, bietet ein Altlinker neue Hoffnung.
Er war kein Unbekannter, und doch hatte ihn niemand auf der Rechnung: Jeremy Corbyn, 66, seit 1983 Unterhausabgeordneter des Londoner Wahlkreises Islington North (den er regelmässig mit zwischen fünfzig und sechzig Prozent Zustimmung verteidigt), ist seit Jahrzehnten auf unzähligen Demonstrationen, Kundgebungen und Streikposten präsent. Aber dass er einmal derart die Schlagzeilen dominieren würde, das hatte dann doch niemand erwartet.
Bis Anfang Juni 2015 kannten ihn vor allem die Linken. Corbyn ist Mitglied der Socialist Campaign Group, eines Zusammenschlusses der rdikal linken Labour-Abgeordneten (zu denen auch Tony Benn gehörte), er arbeitet in der Antikriegskoalition mit, setzt sich bei Amnesty International für die Menschenrechte ein, organisiert an führender Stelle die Palestinian Solidarity Campaign und ist in der Abrüstungsbewegung CND aktiv.
Kein anderer Labour-Abgeordneter hat während Labours Regierungszeit 1997 bis 2010 so oft die Fraktionsdisziplin verletzt wie er. Dass dieser rebellische Hinterbänkler nun plötzlich von sich reden macht, hat zum einen mit der desaströsen Niederlage der Partei bei der Unterhauswahl im März 2015 zu tun. Und zum anderen mit der Tatsache, dass sich nach Ed Milibands Rücktritt vom Parteivorsitz drei KandidatInnen um dessen Nachfolge bewarben, die allesamt dem immer noch sehr starken New-Labour-Flügel zuzurechnen sind. Also jener Strömung, die die ehemalige Gewerkschafts- und ArbeiterInnenpartei bis zur Unkenntlichkeit «modernisiert» und in die Nähe der konservativen Tories gerückt hatte. KeineR der drei BewerberInnen, die schnell als Favoriten gehandelt wurden – also weder Schattengesundheitsminister Andy Burnham noch Schatteninnenministerin Yvette Cooper noch Liz Kendall, die ebenfalls dem Schattenkabinett angehört – hat sich klar gegen die drastische Spar- und Kürzungspolitik des wiedergewählten Premiers David Cameron ausgesprochen. Im Gegenteil: Ihnen zufolge sei Labour gescheitert, weil die Partei die WählerInnen in der Mitte zu stark vernachlässigt habe.
Die Wahlreform
Lange Zeit sah es deshalb so aus, als würde Labour nach dem kurzen Miliband-Intermezzo wieder nach rechts driften. Bis Jeremy Corbyn seinen Hut in den Ring warf. Mit knapper Not und nur in allerletzter Minute sicherte er sich die Unterstützung durch 35 Unterhausabgeordnete, die für eine Kandidatur als Parteivorsitzender nötig sind. Für viele galt er daher als blosse Bereicherung des Wahlkampfs, als Farbtupfer in einem ansonsten öden Wettbewerb, mehr nicht.
Doch dann geschah das Unerwartete: Hunderte, ja Tausende strömten zu seinen Veranstaltungen. Am vergangenen Wochenende hörten 800 Interessierte seine Rede in Liverpool, weitere Hunderte – die im grossen Saal des Adelphi-Hotels keinen Platz mehr gefunden hatten – verfolgten seine Ausführungen per Lautsprecher vor der Tür. Ein paar Tage zuvor waren 400 Menschen in Luton zusammengekommen; über 800 strömten zu seiner Wahlkampfrede in London. Mehrere Hundert waren es in derselben Woche auch in Warrington und Manchester.
Corbyn ist mittlerweile von über hundert lokalen Parteigliederungen nominiert – weit mehr, als die anderen drei KandidatInnen erhalten haben. Er hat die Unterstützung von Unison und Unite, den zwei grössten Gewerkschaften des Landes, sowie von der Lokführergewerkschaft Aslef, der Organisation der Kommunikationsbeschäftigten CWU und anderen Trade Unions. Die Buchmacher sehen ihn inzwischen als Favoriten.
Dass Corbyn überhaupt eine Chance hat, liegt auch an einer weit reichenden, parteiinternen Wahlreform. Bisher bestimmten drei Gruppierungen die Wahl des (oder der) nduen Parteivorsitzenden: die Unterhausabgeordneten, die Gewerkschaften und die in den Wahlkreisgliederungen organisierten Mitglieder. Und zwar jeweils zu einem Drittel. Das ist nun erstmals anders. Bei der «demokratischsten Wahl seit der Labourgründung» (Corbyn) entscheiden die rund 200.000 einfachen Parteimitglieder. Dazu sind registrierte «supporters» wahlberechtigt, UnterstützerInnen, die dafür einen kleien Obulus entrichten. Das heisst: die Parteielite und ihre Apparate haben so wenig zu sagen wie nie zuvor.
Ein Mann der Basis
Wer ist dieser Jeremy Corbyn? Und warum fesselt er plötzlich so viele Menschen? Ich habe den energischen, asketisch wirkenden Mann über Jahrzehnte hinweg immer wieder erlebt – bei einem Interview vor zwanzig Jahren in der Cafeteria des Unterhauses, bei Demonstrationen, zuletzt auf einer kleinen Kundgebung 2011 gegen Polizeiwillkür, auf der er vor Scotland Yard davon sprach, wie die Herrschenden die Ordnungskräfte einsetzen, um den von ihrer Politik erzeugten Widerstand niederzuknüppeln (siehe Fotos in der Randspalte).
Corbyn ist kein charismatischer Politiker, er ist auch kein begnadeter Redner. Aber er ist geradlinig, er spricht klar und ohne Zweideutigkeiten, er vertritt Ziele – und er ist bescheiden. So kam während des Abgeordneten-Spesen-Skandals 2009 heraus, dass sich viele Unterhausabgeordnete regelmässig bereicherten – und sich von den SteuerzahlerInnen sogar private Swimmingpools hatten finanzieren lassen. Heraus kam dabei aber auch, dass kein Member of Parliament so wenig Auslagen in Rechnung stellt wie Corbyn. «Ich bin ein knausriger Politiker», sagte er damals.
Rigoros ist der Sohn eines Ingenieurs und einer Mathematiklehrerin, die sich im Spanischen Bürgerkrieg kennengelernt hatten, auch im persönlichen Bereich. Als sich seine zweite Frau dafür entschied, die drei Söhne auf eine (elitäre) Grammar Scholl zu schicken statt, wie von Corbyn gewünscht, auf eine Gesamtschule, kam es zum Zerwürfnis, das sich nicht mehr reparieren liess. Es folgte eine freundschaftliche Trennung.
Was Corbyn aber vor allem auszeichnet, ist sein schier unermüdliches Engagement. Er war schon in der britischen Anti-Apartheid-Bewegung aktiv (und wurde dafür verhaftet), als das Establishment noch ganz auf Seiten des südafrikanischen Rassistenregimes stand. Er setzte sich für die Rechte der Vertriebenen der Chagos-Inseln ein, bevor die Mehrheit der Bevölkerung überhaupt von Diego Garcia gehört hatte – jener Insel im Indischen Ozean, die Britannien Anfang der siebziger Jahre dem US-Militär als von den BewohnerInnen geräumten Stützpunkt überlassen hatte. Und er war massgeblich an den grossen Protesten gegen den Irakkrieg 2003 beteiligt.
Das Schreckgespenst
Heute vertritt er klare Positionen zur Austeritätspolitik der Regierung (dagegen), zum sozialen Wohnungsbau (dafür), zu den Studiengebühren (dagegen), zu höheren Einkommenssteuern für Reiche (dafür), zur Modernisierung der Trident-Atom-U-Boot-Flotte (dagegen) und zur Wiederverstaatlichung der britischen Bahnen (dafür). Er widersetzt sich der zunehmenden Privatisierung des Nationalen Gesundheitswesens NHS, widerspricht bei jeder Gelegenheit der öffentlich-privaten Beschaffungspolitik (Private Public Partnership), besucht regelmässig Gaza, plädiert für eine Abschaffung der Monarchie und arbeitet in der People's Assembly against Austerity mit.
Kurzum: Corbyn repräsentiert all das, was das britische Establishment hasst. Und so bezogen viele früheren Labour-Politiker auch sofort Stellung. Er gefährde einen Labourwahlsieg 2020, unkte Peter Mandelson. Er spalte die Partei, liess der frühere Parteichef Neil Kinnock vernehmen. Und Tony Blair, der mit Mandelson New Labour begründet und die Partei deformiert hatte, verstieg sich gar zu der Aussage, dass wer mit dem Herzen für Corbyn sei, dringend eine Transplantation brauche.
Die Reaktion folgte prompt. Kurz danach tauchten die ersten T-Shirts auf mit dem Spruch «I need a transplant». Je heftiger die alte Parteielite auf Corbyn eindrischt, desto mehr Labour-AnhängerInnen scharen sich um den vermeintlichen Aussenseiter. Denn Corbyn sprach mit seinem Konter vielen Labour-Mitgliedern aus dem Herzen: Blair solle doch lieber einmal das Ergebnis des Chilcot-Ausschusses abwarten, der die Schuld am verheerenden Irakkrieg untersucht.
Eine neue Bewegung
Was macht diesen Mann so populär? Manche bezweifeln seine analytischen Fähigkeiten: Hat er mit seinen oft altlinks wirkenden Positionen wirklich die grossen Umbrüche in der britischen Gesellschaft und deren politische Auswirkungen verstanden, die zum Niedergang der Labour-Partei beigetragen haben? Und ist er tatsächlich der bestmögliche Parteiführer für das Wahljahr 2020?
Für seine Fans sind das sekundäre Fragen. Denn gibt es genügend AnalytikerInnen, die man zu Rate ziehen kann. Aber nicht genügend unerschrockene PolitikerInnen, die gegen den Mainstream argumentieren. Asserdem ist es für überraschend viele aus seinem Lager erst einmal gar nicht so wichtig, ob Corbyn 2020 (dann im Alter von 71 Jahren) tatsächlich als Premierministerkandidat antritt. Wichtig ist ihnen die Partei.
Und so wiederholt sich derzeit ein Phänomen, das vor einem Jahr das Referendum zur Unabhängigkeit Schottlands prägte: Das massenhafte Engagement von BürgerInnen in einer politischen Grundsatzfrage. Auf Corbyns Versammlungen ist eine bunte Mischung von Interessierten aller Generationen zu beobachten, die die Austeritätspolitik ablehnen und eine Alternative fordern. Es sind von vielen Schlachten gegerbte Altlinke dabei, aber auch viele Jungen, die gerade mal das Wahlalter erreicht haben. Es hat StudentInnen und ProfessorInnen darunter, Beschäftigte und Arbeitslose, ÄrztInnen und Ausgegrenzte. Sie alle wollen den «einzigen Sozialisten» sehen (so formulierte es eine Jugendliche), den die Bewegung noch hat.
Und nach jedem Treffen melden sich junge Freiwillige, die für Corbyn in den Wahlkampf ziehen wollen. Viele davon interessieren sich – wie vor einem Jahr in Schottland – erstmals für Politik, und vielen ist egal, ob der frühere Gewerkschaftsfunktionär Corbyn nun ein Marxist, ein Systemveränderer oder sonst was ist. Sie können mit den alten Schmähbegriffen ohnehin wenig anfangen und haben auch die achtziger Jahre nicht in Erinnerung, als die Labour-Partei in Flügelkämpfen schier zerrissen wurde.
Für sie steht Corbyn für eine andere Art von Politik, für sie trägt er neue Ideen in den öffentlichen Raum – auch weil er ganz anders auftritt. In der Partei greift seit einiger Zeit eine Stimmung um sich gegen die smarten, glatten, nur auf PR bedachten PolitikerInnen, die, allzeit wendebereit, sich nie festlegen lassen und sich nur in der politischen Mitte tummeln, also dort, wo heute der wirkliche Extremismus sitzt. Dort – und nicht an den Rändern – werden ja dereit Sozialabbau, der Krieg gegen Flüchtlinge, die Umverteilung von arm nach reich und die Zerstörung von Lebensgrundlagen organisiert.
Mit Jeremy Corbyn könne man sich identifizieren, sagen die Jungen. Er stehe für Bewegung, für Partizipation, für eine Mitsprache aller; er sehe in den Menschen mehr als nur Stimmvieh. Und so geht es derzeit um weitaus mehr als nur eine Führungsfigur. Es geht um die Seele der Partei, die von der New-Labour-Elite so oft geschunden wurde.
Am 14. August beginnt die Urabstimmung; am 12. September wird das Ergebnis bekannt gegeben. (pw)