Britannien: Ein Blick auf die Riots von 2011
Früchte des Zorns
22. Januar 2013 | Mit minimalen Mitteln und fast ohne Erfahrung haben zwanzig NordlondonerInnen einen Film gedreht, der das Beste ist, was man über die britischen Unruhen im August 2011 sehen kann.
Zuerst herrscht atemlose Stille, dann brandet Beifall auf, die FilmemacherInnen gehen nach vorn, beantworten ein paar Frage – und schon ist eine heftige Diskussion im Gange. «Ganz genau so habe ich es auch erlebt», sagt eine Achtzehnjährige im vollgestopften oberen Raum des kleinen selbstverwalteten Kulturzentrums Passing Clouds im Nordlondoner Stadtteil Dalston, und viele nicken. «Wer von euch war eigentlich direkt oder indirekt von den Unruhen betroffen?», fragt einer. Fast alle Hände gehen hoch. «Aber wir müssen doch jetzt etwas tun, damit so etwas nicht wieder vorkommt», meint eine. Zustimmendes Gemurmel. «Sich besser informieren», «Lösungen suchen, die Hoffnungslosigkeit überwinden» «der Polizei auf Augenhöhe begegnen», «sich die Rumschubserei nicht mehr gefallen lassen», «sich für eine gute Ausbildung einsetzen», lauten einige der Vorschläge.
Wer wissen will, was sich seit den Unruhen vom August 2011 geändert hat, bei denen zahllose Läden geplündert, viele Gebäude in Brand gesteckt, Tausende verhaftet wurden und in deren Verlauf fünf Menschen starben, findet derzeit bei Vorführungen des Films «Riot from Wrong» eine Antwort. Es war dieser Dokumentarfilm, der rund achtzig Jugendliche (und ein paar Ältere) in den Dalstoner Kulturklub gelockt und zu einer langen Debatte geführt hatte. «Wir haben mit dem Film offenbar das erreicht, was wir beabsichtigten», sagt Teddy Nygh, der Regisseur: «Viele Jugendliche denken inzwischen über die Ereignisse nach, sind viel politischer geworden und suchen nach Lösungen.» Was man leider von der Politik und der Polizei nicht sagen könne.
Die grosse Randale
Ausgelöst hatte die Riots die Erschiessung von Mark Duggan im Nordlondoner Stadtteil Tottenham. Der 29-jährige Familienvater habe zuerst auf die Beamten gefeuert und sei überhaupt ein Kleinkrimineller gewesen, behauptete anfangs die Polizei. Doch es war nicht diese Tat allein, die Feuer an die Lunte legte – es war die Arroganz der Behörden: Als Duggans NachbarInnen und Angehörige zwei Tage später zur Polizeiwache von Tottenham zogen, um mehr über die Umstände seines Tods zu erfahren, liessen die Behörden die Menge drei Stunden lang warten. Dann rückte eine Polizeikette gegen sie vor.
Kurz danach standen die ersten Polizeiautos in Flammen. Der Aufruhr verbreitete sich in Windeseile in allen Armenvierteln Londons, wenig später sprang der Funke auf andere Grossstädte über. Vier Tage lang brach sich eine selbstzerstörerische Wut Bahn: Junge wie Erwachsene holten sich in Geschäften das, was ihnen – den oft Mittellosen – die Konsumgesellschaft aufs Auge gedrückt und gleichzeitig vorenthalten hatte. Einkaufszentren, aber auch von armen Menschen bewohnte Häuser brannten nieder. Kids rasten mit geklauten Autos in Richtung Polizeiketten. Und die Mainstreammedien tobten ebenso wie die Regierung und die sozialdemokratische Opposition. Premierminister David Cameron nannte die Aufständischen «Kriminelle», die die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekämen (eine Aussage, die sich später in hohen Haftstrafen niederschlagen sollte). Auch viele Linke wandten sich – wie fast die gesamte Bevölkerung – angewidert ab.
«Hier wurde eine ganze Jugend dämonisiert», sagt Adenan Nasri, 23, der sich seit dem Filmstudium mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. «Dem wollten wir etwas entgegensetzen.» Bereits am zweiten Tag der Riots filmte er Strassenschlachten zwischen der Polizei und den Aufständischen (allerdings mit einer Handykamera, deren Bilder wenig taugten) und erlebte dabei, wie sein Bruder von einem Polizeihund attackiert wurde. Am dritten Tag berief Teddy Nygh eine Eilsitzung des Jugendmedienkollektivs Fully Focused (FF) ein, das erst ein halbes Jahr zuvor gegründet worden war und an der Planung eines Films über die Bedeutung der schwarzen Musik für die europäische Kultur sass. Am vierten Tag waren schon alle Fully-Focused-Mitglieder unterwegs. Die neunzehn Jugendlichen im Alter von 16 bis 25 zogen mit einer alten Kamera los, drehten an allen Schauplätzen, die sie erreichen konnten, filmten die Strassenschlachten und begannen Interviews aufzunehmen.
Ihr erster Weg führte sie zu den Sozialwohnungsblocks von Broadwater Farm, wo Mark Duggan aufgewachsen war. Dort sprachen sie mit Duggans Familie und FreundInnen, «die sich gegenüber den anderen Medien nicht äussern wollten. Uns aber kannten sie», so Teddy Nygh. Danach setzten sie ihre Recherchen fort, um herauszufinden, welche sozialen, politischen, polizeilichen Umstände die Ursache für die Unruhen waren. Und worin eine Lösung bestehen könnte.
Anklage und Selbstkritik
Heraus kam dabei ein knapp einstündiger Dokumentarfilm, der weit besser ist als alles, was bisher über die Riots zu sehen war. Ihre bescheidenen Mittel (anfangs hatten sie überhaupt kein Geld) und die mangelhafte Ausrüstung machten die Jugendlichen durch grosses Engagement wett. In dem schnell geschnittenen, mit Grafiken über die britischen Zustände angereicherten und von mit Handkamera gedrehten Sequenzen durchsetzten Film sind es für einmal sie, denen man sonst nie zuhört, die ihre Interpretation darlegen. Siebzehnjährige, die Gleichaltrige befragten: «Wir hatten nur auf einen Anlass gewartet, unseren Frust loszuwerden», sagt einer. Achtzehnjährige, die Jugend- und SozialarbeiterInnen im ganzen Land interviewten: «Die Jungen haben sich bisher nur nicht zu wehren gewusst.» Neunzehnjährige, die von JournalistInnen, Anwälten, BewährungshelferInnen und auch zwei Polizeibeamten wissen wollten, wieso es zu den Unruhen kam.
Und was zu tun wäre, um eine Wiederholung zu vermeiden. Denn die Riots, das zeigt der durchaus auch selbstkritische Film, haben nichts zur Lösung der Probleme in den Armenvierteln beigetragen. Die Regierung hält am Sozialabbau fest, noch immer müssen Gemeinden Jugendklubs schliessen – und die rassistische Schikane der Polizei geht grad so weiter: Schwarze Jugendliche werden nach wie vor mehr als zwei Dutzend Mal häufiger angehalten und durchsucht als weisse.
Trotz aller Kritik an den Verhältnissen – hohe Jugendarbeitslosigkeit, Verachtung der Armen und ihre Dämonisierung – beschränkt sich «Riot from Wrong» nicht auf eine Anklage. Der Titel spielt mit dem Begriff «Right from Wrong», das Richtige vom Falschen unterscheiden. «Wir wollten einerseits verhindern, dass die britische Gesellschaft jetzt alles unter den Teppich kehrt», sagt Nygh, der sein Geld mit Mediakursen für absturzgefährdete Schulkinder verdient. «Andererseits wollten wir Wege aus der Misere aufzeigen.»
Es gehe auch um Selbstermächtigung, sagt Nygh, der die undankbare Aufgabe hatte, die 55 Stunden Filmmaterial auf 55 Minuten zusammenzukürzen. Bei ihrem Projekt jedenfalls habe das funktioniert: «Es war harte Arbeit», sagt Nasri, «abgesehen von Teddy wussten wir nichts vom Filmemachen, keiner hatte zuvor Interviews geführt, mit der Soundtechnik gearbeitet, eine Kamera in der Hand gehabt.» Es sei ein mühsamer Prozess gewesen, und manchmal sei er schier verzweifelt: Etwa als er anderthalb Stunden quer durch London nach Ealing gereist war – um dann festzustellen, dass seine Kamerabatterie gerade noch fünf Minuten Laufzeit hatte. Aber es hat sich gelohnt. Als Fully Focused im Dezember 2011 eine erste Rohfassung zeigte, war das Publikum begeistert. Mehrere Fundraising-Vorführungen erlaubten die Fortsetzung des Projekts, im Sommer 2012 konnten die Jugendlichen schliesslich am East End Film Festival in Hackney die endgültige Version präsentieren. Seither läuft der Film vor allem in Klubs. Aber er wurde auch schon in Scotland Yard, im Unterhaus oder vor GemeinderätInnen in Nordlondon gezeigt.
«Die Kosten haben wir noch lange nicht eingespielt», sagt Nygh, nur ein paar unabhängige Kinos seien daran interessiert. Aber manchen TV-Anstalten ist das Projekt nicht entgangen. So bekam Fully Focused von BBC London News den Auftrag, einen Kurzfilm über Messerstechereien unter Jugendlichen zu drehen, und Channel 4 bestellte bei ihnen ein Video über Jugendarbeitslosigkeit. Am allerbesten aber sei, sagen Nygh und Nasri, «dass wir mit dem Film ein bisschen dazu beitragen, dass die Kids über ihre Zukunft nachdenken». Das war auch im «Passing Clouds» zu spüren. «Wir müssen mehr lernen, uns besser informieren und uns häufiger einmischen», sagte da einer. «Denn nur zusammen können wir was ändern.» (pw)