Britannien: Cameron und die EU
Ein Alleingang mit Folgen
15. Dezember 2011 | Am EU-Gipfel Anfang Dezember hat der konservative Regierungschef von Britannien ein Veto eingelegt. Warum? Und hat er damit ein Eigentor geschossen?
Wenn jemand aus falschen Gründen das Richtige tut, ist das noch lange nicht gut. Zwei Aspekte vor allem haben den britischen Premierminister David Cameron bewogen, das enge Sparkorsett abzulehnen, das Deutschland den EU-Staaten angelegt hat und das die Eurokrise noch verschärfen wird. Da ist zum einen der Druck aus den Reihen der reaktionären Hinterbänkler seiner Tory-Partei, die «splendid isolation» für eine famose Sache halten, internationale Regelungen generell ablehnen und die Europäische Union (EU) am liebsten sofort verlassen würden. Ihnen ist es in den letzten Jahren mit Hilfe der in Europafragen hysterisch agierenden rechten Massenmedien gelungen, die Stimmung im Lande zu drehen. Während vor zehn Jahren noch zwei Drittel der britischen Bevölkerung die Mitgliedschaft Britanniens in der EU begrüssten, lehnt mittlerweile die Hälfte die EU ab. Dieser Wandel ist nicht zu unterschätzen.
Und zweitens warf sich Cameron am EU-Gipfel Ende letzter Woche für den britischen Finanzplatz, die City of London, in die Bresche. Er verlangte per se eine Ausnahmegenehmigung für die Banken, die Versicherungen und die Börsen in der britischen Hauptstadt – die die anderen EU-Regierungen so pauschal nicht erteilen wollten. Keine Finanztransaktionssteuer, keine Aufsplittung in Geschäfts- und Investmentbanken, keinerlei Regeln für den Finanzsektor, lautete sein Mantra vor, während und nach dem Gipfeltreffen. Dabei standen diese Themen am Treffen der EU-Staats- und RegierungschefInnen Anfang Dezember 2011 gar nicht im Vordergrund. Und gegen den wichtigsten Beschluss – eine künftig EU-weit geltende Schuldenbremse nach dem Schweizer Modell – hatte er ohnehin nichts einzuwenden. Schliesslich betreibt die britische Koalitionsregierung seit ihrer Wahl 2010 eine noch weitaus rabiatere Kürzungspolitik als viele andere EU-Staaten.
Woher kommt Camerons Eifer? Hat er damit zu tun, dass vor allem der Finanzplatz die Tories alimentiert? Das wäre zu kurz gegriffen: Die politische Elite Britanniens machte sich schon immer für den Finanzsektor stark. Schon während der Zeit des Britischen Empires dominierten die Banken und Versicherungen, die die Kolonien ausplünderten, die britische Wirtschaftspolitik. Denn ihre Auslandsgeschäfte warfen Renditen ab, die weit über den Gewinnen lagen, die das Industriekapital erwirtschaften konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg und besonders mit dem Ende des Kolonialreichs wuchs noch die Dominanz der Finanzwirtschaft. Das verarbeitende Gewerbe verlor – im Unterschied zum Finanzsektor – mit der Entkolonialisierung ehedem sichere Absatzmärkte. Und es litt an Auszehrung, weil die Reichen ihr Geld lieber in der City anlegten, statt in die Fertigung von Waren zu investieren.
Nirgendwo in Europa war die Kluft zwischen Finanz- und Industriekapital so gross. Und die Politik vertiefte sie weiter: So hat Winston Churchill auf Verlangen der Finanzelite den Goldstandard des Pfunds beibehalten, obwohl die Industrie darunter ächzte. Und Labourpremier Harold Wilson weigerte sich in den sechziger Jahren, das Pfund abzuwerten (was der angeschlagenen Exportwirtschaft geholfen hätte), weil die Finanzmakler dagegen waren. Kurzum: Wenn es eine Konstante in der britischen Politik gibt, dann ist es die permanente Bevorzugung des Finanzsektors zu Lasten der Industrie.
Das Resultat ist verheerend. Die Realökonomie liegt am Boden; es gibt kaum noch global wettbewerbsfähige Firmen; das Handelsdefizit wächst; und jetzt versiegt auch noch das Nordseeöl. Kein Wunder, dass viele Industrielle Camerons Veto kritisieren: Sollte Britannien ganz aus der EU ausscheren, bricht ihr grösster Absatzmarkt weg.
Selbst die Finanzgewaltigen der City sind nach ihrem ersten Jubel nachdenklich geworden: Als vollwertiges Mitglied in der EU hätte Londons Regierung eventuelle Pläne zur Regulierung des Finanzsektors torpedieren können. Das wird ihr künftig nicht mehr so einfach gelingen. Und so hat vielleicht ausgerechnet Cameron jetzt dazu beigetragen, dass das wichtigste Bollwerk gegen die längst nötige Umverteilung von oben nach unten ihren Nimbus verliert. Und die Londoner City, die Tag für Tag irrwitzig grosse Vermögen rund um den Erdball schickt, Millionen verarmen lässt und Volkswirtschaften ruiniert, endlich an die Kette gelegt wird.(pw)