Britannien: Londons bunter Osten
Wenn die Kriege nicht wären
19. Februar 2009 | Kaum irgendwo auf der Welt leben so viele Ethnien auf so engem Raum zusammen wie im Londoner Stadtteil Newham. Sie schlagen sich mit Alltagsproblemen herum, finden dafür immer wieder neue Lösungen – und driften doch auseinander.
Es gibt ihn noch, und das ist ein gutes Zeichen. Seit fünf Jahren setzt die geballte Macht von Grosskapital und lokalen Politikgrössen alles daran, den Queens Market im Zentrum des Ostlondoner Boroughs Newham umzugestalten, aufzuwerten, zu zerschlagen. Und doch hat der «Schandfleck», wie Newhams Bürgermeister Sir Robin Wales den Strassenmarkt bei der U-Bahn-Station Upton Park gern nennt, alle Attacken überstanden. Bisher jedenfalls. Vielleicht ist der Markt zu lebendig, zu flexibel, um sich einfach plattmachen zu lassen. Denn Queens Market ist der Markt der MigrantInnen.
Alles gibt es hier: Gemüse aus Afrika, Gewürze aus Asien, Fisch aus allen Weltmeeren, Eingemachtes aus Osteuropa, Halal-Metzgereien, CD-Stände mit Ethnomusik, Haushaltsgeschäfte für Grossfamilien, Coiffeure für den Afroschnitt, Apotheken mit chinesischer Medizin. Die HändlerInnen, die hier rund siebzig Läden und ebenso viele Stände betreiben, kommen aus fünfzig verschiedenen Staaten, schätzt Neil Stockwell, dessen Grossvater schon an derselben Stelle, am Markteingang, Obst und Gemüse verkauft hatte.
Queens Market, das ist die ganze Welt auf einem Teller. Und nicht nur das: Die Waren, das hat eine Studie der New Economics Foundation vor drei Jahren ergeben, kosten hier nur die Hälfte dessen, was Supermärkte verlangen. Ausserdem bietet der Markt, auf die Fläche umgerechnet, doppelt so vielen Menschen eine Beschäftigung wie die Supermärkte an der Peripherie. Und noch etwas hat die Untersuchung herausgefunden: Queens Market, wo die KonsumentInnen auch anschreiben lassen können, bietet ImmigrantInnen einen Einstieg ins Erwerbsleben; ein Viertel aller HändlerInnen hat erst innerhalb der letzen fünf Jahre einen Stand eröffnet.
Das Areal ist dunkel und schmutzig. Das Dach leckt, Müll liegt in den Ecken, die Beleuchtung müsste dringend gewartet werden. «Das ist Absicht», vermutet Nizar an seinem Getränke- und Süsswarenstand; die Stadtverwaltung von Newham, die für den Markt zuständig ist, «will uns auf diese Weise loswerden». Das glaubt auch Pauline Rowe von der Initiative Friends of Queens Market (FoQM), die sich seit fünf Jahren für den Erhalt des Marktes einsetzt. 2004 hatte der von Labour dominierte Gemeinderat beschlossen, das Gebiet umzubauen, und kurz danach mit dem Immobilienkonzern St. Mowden Properties einen Vertrag abgeschlossen. An die Stelle des etwas schäbigen, aber lebendigen Marktes soll ein moderner Komplex gesetzt werden mit 350 Wohnungen im Luxusbereich und einer völlig neuen Markthalle. «Von den Wohnungen haben die Menschen hier nichts, und die neue Ladenmiete kann niemand bezahlen», sagt die Rentnerin Rowe, die früher im öffentlichen Dienst beschäftigt war und die als «Altlinke», wie sie sich selber bezeichnet, weiss, wie man Kampagnen führt. «Und wo sollen die Armen dann einkaufen?» Über die Hälfte der Queens-Market-KundInnen kommen laut einer Studie der Stadtverwaltung aus Familien asiatischen Ursprungs, über ein Viertel stammt aus Afrika und der Karibik. «Gerade in der jetzigen Krise sind viele auf preiswerte Lebensmittel angewiesen.»
Hier soll dasselbe passieren wie in Stratford, im Nordwesten von Newham, sagt sie. Dort wird derzeit alles umgekrempelt. In Stratford baut London das Olympiazentrum für die Spiele 2012, die Grundstückspreise explodieren, viele sozial schwächer gestellte Familien können die Mieten nicht mehr bezahlen. Gentrifizierung nennen die SoziologInnen diesen Prozess, Aufwertung heisst er bei der Stadtverwaltung. Die Betroffenen aber reden von Verdrängung. Das Queens-Market-Projekt harzt. Zuerst sprang Asda Wal-Mart ab, die zweitgrösste Supermarktkette in Britannien: Der populäre Protest der FoQM versprach schlechte Publicity.
Im Zuge der Finanzmarktkrise gaben die Immobilienpreise in diesem Teil von Newham in den letzten Monaten nach, die Rentabilität neuer Investitionen sank. Mittlerweile steckt St. Modwen offenbar in Kreditschwierigkeiten. Der Konzern verlangt für die Läden, die er verwaltet, Mietpreiserhöhungen von bis zu hundert Prozent. Trotzdem sollen 2010 die Bagger anrollen, so will es die Stadtverwaltung von Newham. Damit der Neubau vor Eröffnung der Olympischen Spiele steht.
200 Ethnien
Queens Market ist so etwas wie das Herz des Boroughs, und das bezieht sich nicht nur auf seine geografische Lage. Newham ist der ärmste der 32 Stadtteile von London – und die ethnisch vielfältigste Gemeinde von Britannien, wenn nicht von ganz Europa. Fast sechzig Prozent der rund 250 000 EinwohnerInnen gehören einer Minderheit an; Schätzungen zufolge leben auf dem Gemeindegebiet, das bis zu den ehemaligen Docks an der Themse reicht, Angehörige von 200 Ethnien. Der Dolmetscherdienst der Stadtverwaltung bietet Übersetzungen aus 31 Sprachen an.
Der Anteil der Grossfamilien liegt weit über dem nationalen Durchschnitt, die Wohnungsnot ist enorm, oft leben fünf oder sechs Familienmitglieder in einer Dreizimmerwohnung. Nirgendwo in Britannien gibt es so viele Kinder unter fünf Jahren, kaum irgendwo in London ist die Arbeitslosigkeit so hoch. Dazu kommen: hohe Kindersterblichkeit, überdurchschnittlich viele kranke Menschen, ein extrem hoher Anteil an SozialhilfebezieherInnen. Mit anderen Worten: In Newham ballen sich alle Probleme und Herausforderungen, die das Londoner East End seit zwei Jahrhunderten zu einer ganz anderen Welt gemacht haben (vgl. Kasten «Welthafen und Migrationsziel East End»).
Wie diese aussieht, zeigt ein Besuch bei der Claimants Union, die sich jeden zweiten Donnerstag in einem Nebenraum des Ramgarhia-Sikh-Tempels an der Neville Road trifft, nur ein paar Hundert Meter vom Queens Market entfernt. Meist sind es bloss ein Dutzend Menschen, die das Angebot des Vereins der Sozialhilfesuchenden wahrnehmen, umso grösser aber sind ihre Probleme. Akal (Name geändert), ein 75 Jahre alter Sikh, droht die Räumung, weil er mit seinen Mietzahlungen in Rückstand geraten ist – dabei hat ihm das Wohnungsamt, das ihn jetzt rauswerfen will, über Jahre hinweg die ihm zustehenden Mietzuschüsse verwehrt. Was tun? Peter, ein junger Mann mit mentalem Handicap, klagt, dass sein Mental Health Club vom Gemeinderat aus Spargründen geschlossen wurde und er jetzt zu einem anderen Treff gehen soll, der aber nur vier Tage in der Woche geöffnet ist und «wo mich alle so komisch angucken». Farida (Name geändert) wiederum hat vom Sozialamt schon so viele Formulare erhalten, dass sie nun gar nichts mehr versteht. Eine freiwillige Helferin übersetzt geduldig die Anliegen, die in Urdu und in Panjabi vorgetragen werden. Pauline Rowe, die auch hier aktiv ist, notiert sich die Fälle, liefert Tipps («alles per Einschreiben schicken, normale Briefe wandern in den Papierkorb»), füllt Formulare aus und rät auch mal, den lokalen Unterhausabgeordneten aufzusuchen.
Ganz so sprach- und hilflos sind aber nicht alle. Vom Queens Market nach Norden zieht sich die vielleicht bedeutendste südasiatische Einkaufsstrasse westlich von Bombay. In den Erdgeschossen der zweistöckigen Reihenhäuser entlang der Green Street gibt es indische Lebensmittelhandlungen, Silk-Shops, Juwelierläden, Teppichgeschäfte, Snackbuden, Take-aways. «Selbst aus Nordengland reisen Leute an, um hier zu shoppen», sagt Asif Karim, der in seinem Laden indische Saris verkauft. Die Geschäfte gehen nicht schlecht, doch die Krise ist auch hier spürbar.
Asif Karim ist ein smarter Businessman Ende zwanzig und beliebt. Er ist sozial eingestellt, kann verhandeln und wird bei Nachbarschaftskonflikten gern um Rat gefragt. Vor allem aber ist er ein politisches Unikum: Seit der letzten Kommunalwahl sitzt er im Gemeinderat von Newham – als Vertreter der linken Wahlallianz Respect. Ein Muslim und mittelständischer Geschäftsmann bei den Linken? «Früher», erzählt Asif Karim, sei er «ein überzeugter Labour-Anhänger» gewesen und habe seine Schaufenster bei Wahlkämpfen mit Labour-Postern zugeklebt. «Aber dann kam der Irakkrieg.» Und mit ihm die Ächtung der Muslime und ihrer Kultur und der «Kampf gegen den Terror», den der damalige Labour-Premier Tony Blair besonders lautstark ausgerufen hatte. Und stellte sich nicht jetzt während des Gazakriegs Blairs Nachfolger Gordon Brown ganz auf Israels Seite? Wurde nicht 2005 der Brasilianer Jean Charles de Menezes in einer U-Bahn-Station erschossen, weil man ihn für einen Muslim, einen Terroristen hielt? Und hatten nicht in Forest Gate am Nordende von Newham Polizisten 2006 einen jungen Muslim bei einer Razzia angeschossen, weil sie ihn und seinen Bruder fälschlicherweise für verdächtig hielten? Das, sagt Karim, habe die muslimische Gemeinde geprägt. «Wir stehen unter Generalverdacht.»
Linke Muslime
Wie so manche empörte Muslime trat Asif Karim nach Kriegsbeginn im Irak dem Wahlbündnis Respect bei, das linke Gruppierungen wie die Socialist Workers Party und der schottische Labour-Abgeordnete George Galloway gegründet hatten. Galloway war 2003 wegen seiner Kritik an Blairs Irakpolitik aus der Partei ausgeschlossen worden – und kandidierte daraufhin bei der Unterhauswahl 2005 im Wahlkreis Bethnall Green und Bow (Tower Hamlets). Er gewann den Sitz, der stets an Labour gegangen war. Bei den nachfolgenden Kommunalwahlen 2006 eroberte Respect im Borough Tower Hamlets auf Anhieb zwölf Gemeinderatsmandate, in Newham waren es drei.
27 Prozent aller Stimmen waren damals für Respect eingelegt worden, wegen des Mehrheitswahlsystems kamen aber nur drei Kandidaten durch: Asif Karim, Hanif Abdulmuhit und Abdul Karim Sheikh. Sie alle kandidierten im Wahlbezirk Green Street, der somit gänzlich von Respect-Abgeordneten repräsentiert wird. «Die Leute haben uns gewählt, weil sie sich von Labour nicht vertreten fühlen», sagt Asif Karim an einer Sitzung im kleinen Respect-Büro in einer Parallelstrasse zur Green Street. «Die da oben verstehen schon lange nicht mehr die Nöte der Arbeiterklasse.» Zu denen da oben zählt er nicht nur die PolitikerInnen im fernen Westminster, sondern auch die Labour-Fraktion im Stadtrat von Newham, der 54 von insgesamt 60 StadtparlamentarierInnen angehören.
«Schau doch nur an, was die mit den Schulen machen», ereifert sich Abdul Karim Sheikh. «Sie überlassen sie Privatinvestoren, die die Schulen an die Randbezirke verlegen und das Mitspracherecht der Eltern untergraben.» Alles werde hinter verschlossenen Türen gemauschelt, niemand frage die Betroffenen. «Dabei wissen die am besten, was getan werden muss», ergänzt Abdulmuhit. «Die Jugendgangs werden auch hier immer mehr zu einem Problem, erst letzte Woche wurde wieder ein Kid durch Messerstiche verletzt.» Aber wie reagieren die Behörden? Sie setzen nur auf die Polizei, also auf noch mehr Gewalt. Dabei wisse man doch, dass die Polizei die Minderheiten schikaniere. «Wir müssen eine Balance finden», sagt Abdulmuhit, der früher Automobilarbeiter war, inzwischen aber für den öffentlichen Dienst arbeitet. «Wir brauchen eine schnelle Lösung, müssen aber den Kids eine Zukunft bieten.» Erschwingliche Wohnungen, zum Beispiel, und halbwegs anständig bezahlte Jobs.
Aufstieg heisst wegziehen
Genau daran aber mangelt es, wie Gavin Poynter bestätigt. Poynter, Chairman des London East Research Institute der University of East London, verfolgt seit langem die sozioökonomische Entwicklung von Newham. Seit dem Niedergang der Docks in den siebziger Jahren seien die industriellen Arbeitsplätze weitgehend verschwunden, sagt der Wissenschaftler; übrig geblieben sind nur Dienstleistungsjobs. «Schlecht entlohnte für die Migranten, hoch bezahlte für die Banker im neuen Finanzzentrum von Canary Wharf.» Während die unten für wenig Geld putzen gehen, Alte und Kranke versorgen, auf dem Bau arbeiten, im Einzelhandel tätig sind und vielleicht noch in ein paar kleinen Sweatshops schuften, residieren die anderen in Apartments entlang den ehemaligen Docks.
Zwei Welten. «Und dazwischen gibt es nichts.» Warum das so ist? «Soziale Besserstellung führte immer zu Abwanderung», erläutert Poynter, «nie zum Aufstieg innerhalb des Viertels. So wanderten die Kinder vieler osteuropäischer Juden und Jüdinnen weiter Richtung Norden und später in die besseren Viertel im Nordwesten.» Das sei bei fast allen Migrationsgemeinschaften so; im Westen von Tower Hamlets gedeihe mittlerweile die asiatisch-muslimische Mittelschicht. Zurück bleiben die armen MigrantInnen – die jetzt durch die Gentrifizierung weiter Richtung Osten verdrängt werden, in die Arbeitslosenviertel von Barking and Dagenham.
Die Wut und Verzweiflung ist gross, das weiss auch Poynter. Und doch glaubt er nicht, dass es zu Eruptionen wie in den französischen Banlieues kommen wird. «Die Migranten sind besser integriert, die gesellschaftliche Toleranz ist – trotz der Polizeiattacken – in Britannien grösser. Ausserdem gibt es in Newham nur wenige Bezirke, die vorwiegend weiss, asiatisch oder afrokaribisch sind. Keine Ethnie dominiert die andere.» Ausserdem organisierten sich die Minderheiten besser, «etwa bei Telco».
Öffentliche Aktionen
Matthew Bolton, geschäftsführender Sekretär von The East London Communities Organisation (Telco), ist da etwas anderer Meinung. Es könnte mehr Einsatz von den muslimischen Gemeinschaften kommen, sagt er. Seit rund zehn Jahren setzt sich Telco, ein Zusammenschluss von vierzig Organisationen – örtlichen Gewerkschaftsgruppen, Kirchengemeinden, Wohlfahrtsverbänden, Moscheen, StudentInnen – für die Rechte der Arbeitenden ein. «Zurzeit wirft der Staat viel Geld in Richtung der Muslime», sagt Bolton, «um der Terrorgefahr vorzubeugen». Deren VertreterInnen haben Zugang zu allen Behörden und bekommen jederzeit einen Termin beim Oberbürgermeister. «Dabei wird jedoch meist nur über religiöse Belange gesprochen, selten über soziale Aspekte.» Diese Bevorzugung in nur eine Richtung «untergräbt den Gemeinschaftssinn, den wir aufbauen wollen».
Für die kleinen Leute aber hat Telco einiges bewegt. Ihre Kampagne für eine London Living Wage hat schon viel erreicht und wird auch von den Respect Councillors an der Green Street gelobt. Da die Beschäftigten in London vom nationalen Mindeststundenlohn (derzeit umgerechnet 7.50 Euro) nicht leben können, haben Organisationen wie Telco vor Jahren eine Kampagne für einen «Lebenslohn» lanciert. Mit einer breiten Mobilisierung, geschickter Medienarbeit und mit öffentlichen Aktionen konnte sie durchsetzen, dass im privaten wie öffentlichen Dienstleistungssektor mittlerweile vielfach der Londoner Mindestlohn in Höhe von 8.30 Pfund (umgerechnet etwa 10.40 Euro) bezahlt wird. Bisheriger Höhepunkt der Kampagne waren Demonstrationen im Bankenviertel von Canary Wharf und eine Aktion während einer Aktionärsversammlung der Grossbank HBSC. «Wir hatten Aktien gekauft, und ein Putzmann sagte an der Versammlung dem HBSC-Boss ins Gesicht: ‹Schau, wir arbeiten beide im selben Büro. Du tagsüber, ich nachts. Da steht mir doch ein anständiger Lohn zu!›» HBSC knickte ein, Pricewaterhousecoopers folgte, mittlerweile zahlen fast alle grossen Unternehmen - auch die Firmen auf der Olympiabaustelle - den höheren Mindestlohn. «Wir haben gelernt, dass wir nicht die Betriebe bekämpfen müssen, die die Leute beschäftigen, sondern deren Kunden», sagt Bolton.
Zerfallende Communities
«Die Verhältnisse sind nicht besser geworden», sagt hingegen Estelle du Boulay vom Newham Monitoring Project NMP. Vor dreissig Jahren, als das NMP in Reaktion auf rassistische Übergriffe auf MigrantInnen gegründet wurde, «haben wir auf unserer 24-Stunden-Hotline fast jeden Tag Hilferufe beantwortet». Damals war Newham eine vorwiegend weisse Arbeiterstadt gewesen. «Heute erhalten unsere neunzig Freiwilligen immer noch viele Anrufe. An Stelle des Rassismus ist der Staat getreten, der immer mächtiger wird.» Immer noch gebe es zahllose Razzien gegen Terrorverdächtige, immer noch würden junge Leute auf der Strasse angehalten, durchsucht und tage-, manchmal wochenlang irgendwo inhaftiert. «Die verängstigten Angehörigen fragen dann bei uns nach.» Die Medien berichten schon lange nicht mehr über solche Fälle.
Derweil wandert der Rassismus gen Osten. In Barking und Dagenham, wo die von Newhams Gentrifizierung Vertriebenen zusehends siedeln, ist die faschistische British National Party zu einer politischen Kraft geworden – dort müssen nun die antirassistischen Kämpfe geführt werden, die Newham geprägt und verändert haben. Aber so einfach ist das nicht mehr. «Anders als in den achtziger Jahren gibt es heute keine unterschiedlichen politischen Konzepte mehr», sagt Gavin Poynter. Die ArbeiterInnen und MigrantInnen fühlen sich auch von Labour im Stich gelassen. «Deswegen blicken die Gemeinschaften zunehmend nach innen. Die Menschen fühlen sich nur noch sicher, wenn sie von ihresgleichen umgeben sind.»
Doch dadurch werden sie noch verletzbarer. «Die Gesellschaft zerfällt», befürchtet Poynter. Dass sich die Menschen zurückziehen und ihre Identität zunehmend in der Religion, nicht mehr im Miteinander suchen, zeigt auch das Strassenbild. Vor zehn Jahren ging keine voll verschleierte Muslimin durch die Green Street, heute sind die Burkas überall zu sehen. Dass sich viel geändert hat, zeigt auch die Stimmung auf Queens Market. Er werde aus finanziellen Gründen wohl aufhören müssen, fürchtet Nazim. Und der freundliche Obsthändler Neil Stockwell musste feststellen, dass seine Kundschaft «aggressiver, bitterer» geworden ist: «Alle kümmern sich nur noch im sich.» Noch gibt er nicht auf, noch bekämpft er die Pläne der Stadtverwaltung. Aber für seine Kinder sieht er keine Zukunft hier. (pw)
Welthafen und Migrationsziel East End
«Du wirst doch nicht etwa da hingehen wollen», sagten seine gut betuchten Freunde, «dort ist das Leben eines Mannes doch keinen Penny wert.» Der US-amerikanische Schriftsteller Jack London hörte nicht auf den Rat, reiste vom wohlhabenden West End in die ganz andere, völlig fremde Welt östlich der Londoner City und kehrte nach Wochen, die er unter den verlumpten, verlausten, verelendeten Massen verbracht hatte, mit einer der eindrücklichsten Sozialreportagen zurück, die bis dahin geschrieben worden waren: «The People of the Abyss», die Menschen im Abgrund. Das war 1903. Der grosse Londoner Dockerstreik von 1889 hatte die Lage etwas gebessert, aber noch immer galt, was Friedrich Engels 1844 geschrieben hatte: «Überall barbarische Gleichgültigkeit, egoistische Härte auf der einen und namenloses Elend auf der andern Seite, überall sozialer Krieg, das Haus jedes einzelnen im Belagerungszustand».
In London, der Hauptstadt eines mächtigen Empires, war in den 1860er-Jahren der damals grösste Hafen der Welt gebaut worden - und die unregulierte Arbeit, vor allem das Tagelohnsystem, bot vielen die Hoffnung auf ein Auskommen. Die meisten Neuankömmlinge liessen sich daher im Londoner East End nieder. Im 16. und 17. Jahrhundert kamen die HugenottInnen. Nach der grossen Hungersnot Mitte des 18. Jahrhunderts die IrInnen. Ab 1860 folgten JüdInnen aus Osteuropa, wo antisemitische Pogrome angefacht worden waren. Dann Deutsche, ItalienerInnen, AfrikanerInnen, ChinesInnen.
Der «soziale Krieg, der Krieg aller gegen alle», den Engels ein halbes Jahrhundert zuvor geschildert hatte, dauerte bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein. So marschierten in den dreissiger Jahren Oswald Moseleys Faschisten durch das East End, bis sie von Gewerkschafterinnen und Kommunisten gestoppt wurden. Denn auch das hat es in Ostlondon stets gegeben: Kampf, Solidarität, starke Gewerkschaften, streitbare Linke. Die damals Stimmberechtigten von Westham (heute ein Teil von Newham) wählten Keir Hardie, Mitbegründer der Labour-Partei, 1892 ins Unterhaus; in Poplar (heute ein Stadtbezirk von Tower Hamlets) regierten in den zwanziger Jahren die KommunistInnen. Noch heute sind die beiden East End Boroughs Tower Hamlets und Newham Labour-Hochburgen, wenn auch nicht unbedingt in Hardies Sinn.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Ostlondon Fluchtpunkt, Migrationsziel und Schmelztiegel. In den fünfziger und sechziger Jahren kamen Zehntausende aus Pakistan, Indien, Bangladesch, Somalia, Uganda, Westafrika und der Karibik im Londoner Hafen an - angeworben von den Verkehrsbetrieben und vom nationalen Gesundheitswesen. Fast alle blieben und holten ihre Familien; wer es schaffte, zog allerdings weg, in die besseren Quartiere von West- und Nordlondon. Denn nach der Stilllegung der Londoner Docks in den siebziger Jahren verschwanden auch die Fabriken; die Arbeitslosigkeit stieg rapide an, und mit ihr wuchs die Fremdenfeindlichkeit der weissen BritInnen. Wieder gab es heftige Auseinandersetzungen. Und doch hat bis heute das East End nicht an Attraktivität verloren – zumindest nicht für jene, die in Britannien einen Zipfel des Glücks erhaschen wollen. Wie seit Jahren die neuen MigrantInnen aus Osteuropa. (pw)