Britannien: Bankenrettung, die Zweite
Island an der Themse
29. Januar 2009 | Die Doppelkrise von Finanzcrash und Wirtschaftsflaute könnte selbst grosse Nationen in die Zahlungsunfähigkeit treiben. Zum Beispiel Britannien.
Die Banken sind zu gross, um sie Pleite gehen zu lassen. So hatte es im Oktober letzten Jahres geheissen, als in den USA, in Britannien, in Deutschland und der Schweiz die ersten Bankenrettungspläne geschmiedet wurden. Es gebe keine Alternative zu den milliardenschweren Paketen, erläuterten Politikerinnen und Banker dem verdutzten Publikum. Mittlerweile haben die Staaten insgesamt weit über zwei Billionen Euro an Liquiditätshilfen, Garantien für den Interbankenhandel und Rekapitalisierungen versprochen und teilweise ausgegeben – doch ein Ende der Talfahrt ist nicht in Sicht.
Im Gegenteil: Es mehren sich die Hinweise, dass viele Grossbanken de facto pleite sind. Und ihre Tore schliessen müssten, wenn sie ihre gewaltigen Mengen an komplexen Finanzprodukten, den vergifteten Papieren, zum aktuellen Wert beziffern würden: Der liegt derzeit bei praktisch null. Noch sind die Banken dazu nicht gezwungen, aber die Zeit läuft aus. Und so stehen die PolitikerInnen vieler Staaten zunehmend vor der Entscheidung, die Banken bankrottgehen zu lassen – oder zu verstaatlichen und damit den Wertpapiermüll zu übernehmen. Was aber, wenn die Banken zu gross sind, um überhaupt gerettet werden zu können? Wenn die Staaten gar nicht in der Lage sind, die Löcher zu stopfen? Könnten dann auch sie wie Island Pleite gehen?
Krisenmanager ohne Rezepte
Diese Frage stellen sich immer mehr Menschen in einem Land, das vor kurzem noch stolz darauf war, die Schaltzentrale des internationalen Finanzhandels zu sein. In Britannien wächst die Ungewissheit in dem Masse, wie sich die Probleme häufen. Denn die schlechten Meldungen reissen nicht ab: Die Wirtschaft durchläuft die schärfste Rezession seit Jahrzehnten, ein Ende ist frühestens in ein, zwei Jahren abzusehen. Die Industrieproduktion sank im letzten Quartal um fast fünf Prozent, Massenentlassungen sind fast schon an der Tagesordnung, viele Betriebe führen die Dreitagewoche ein, die offizielle Arbeitslosigkeit hat die Zweimillionengrenze überschritten. Das Pfund Sterling befindet sich – Ausdruck des Vertrauensverlusts internationaler InvestorInnen – im Sinkflug. Die Immobilien haben im letzten Jahr durchschnittlich zwölf Prozent an Wert verloren. Traditionelle Konjunkturmassnahmen greifen nicht mehr; der Leitzins kann kaum noch gesenkt werden. Die Royal Bank of Scotland (RBS), die zweitgrösste britische Bankengruppe und eines der grössten Finanzhäuser der Welt, meldete für 2008 einen Rekordverlust von umgerechnet 30 Milliarden Euro. Nun drohen auch noch die Ratingagenturen, dem Land die Topbonität zu entziehen.
Und Premierminister Gordon Brown, der im Herbst noch als weitsichtiger Krisenmanager gefeiert wurde, gehen allmählich die Rezepte aus. Im Oktober hatte seine Labourregierung rund 800 Milliarden Franken aufgeworfen, um den Banken unter die Arme zu greifen; sie hat nach der Nationalisierung von Northern Rock (September 2007) und Bradford & Bingley (September 2008) die RBS und die Lloyds-HBOS-Gruppe teilverstaatlicht und den Staatsanteil an diesen Finanzinstituten auf 68 respektive 43 Prozent erhöht.
Vergangene Woche schob Brown ein zweites Rettungspaket nach: Eine staatliche Kreditversicherung soll den Banken ermöglichen, die Risiken ihrer faulen Wertpapiere gegen eine Gebühr auf den Staat abzuwälzen (optimistische Schätzungen gehen von Kosten von 220 Milliarden Euro aus); zudem soll die Bank of England Unternehmen Schuldtitel abkaufen (dafür sind 55 Milliarden Euro veranschlagt).
Die Banken, so das Ziel der Massnahmen, sollen wieder in die Lage versetzt werden, Kredite zu gewähren. Doch mittlerweile ist die Krise so weit fortgeschritten, dass die restriktive Kreditvergabe keine grosse Rolle mehr spielt, weil die Unternehmen kaum noch nach Geld fragen. Im Keller ist auch Browns Popularität und das Zutrauen der Öffentlichkeit: Rund die Hälfte der Bevölkerung erwartet, dass die staatlichen Rettungsversuche fehlschlagen werden.
Ein gigantischer Hedgefonds
Finanzanalystinnen und namhafte Ökonomen halten sogar einen Staatsbankrott für möglich. Sie gehen davon aus, dass eine Vollverstaatlichung von RBS und Lloyds-HBOS unumgänglich ist – in diesem Fall aber müsste der Staat auch alle Schulden übernehmen. Im Vergleich mit anderen Staaten ist die Verschuldung Britanniens derzeit zwar nicht allzu hoch (sie liegt mit umgerechnet 750 Milliarden Euro bei 48 Prozent des Bruttoinlandsprodukts BIP, in Italien hingegen bei etwa 106 Prozent). Aber da die Verbindlichkeiten der RBS knapp 2 Billionen Euro betragen, wird die Regierung demnächst eine Vervierfachung der Staatsverschuldung bekannt geben müssen.
Jetzt rächt sich eine Politik, die in den letzten Jahrzehnten alle Regierungen der fünftgrössten Wirtschaftsnation verfolgt haben: die einseitige Ausrichtung der Ökonomie auf die Finanzbranche. Nach den Liberalisierungen und Deregulierungen seit Ende der siebziger Jahre ist das Land zu einem gigantischen Hedgefonds geworden. An erster Stelle stehen die Finanz- und Geschäftsdienstleistungen (sie machen rund siebzig Prozent des BIP aus), danach folgen andere Dienstleistungen, und erst weit hinten kommt eine kleine Werkstatt – das verarbeitende Gewerbe.
Die Ursachen für diese Entwicklung reichen jedoch weiter zurück. Schon zu Zeiten des Empire waren Investitionen im Finanzbereich (Ausbeutung der Kolonien) lukrativer gewesen als in der heimischen Industrie – ein volkswirtschaftliches Problem, das die Regierungen ab dem Zweiten Weltkrieg durch eine Zins- und Währungspolitik verstärkten, die sich ausschliesslich an den Interessen des Finanzzentrums in der Londoner City orientierte – zulasten der Industrie. Die ist inzwischen auf nur noch sechzehn Prozent des Wirtschaftsaufkommens geschrumpft. Eine Rettung der britischen Konjunktur ist von dieser Seite nicht zu erwarten: Mit dem Verschwinden vieler Branchen fehlen jetzt das Know-how und die Fachkräfte, die es braucht, um beispielsweise einen ökologischen Umbau voranzutreiben.
Steilpass für die Opposition
Noch ist es nicht so weit, noch muss das Mutterland des Kapitalismus und der industriellen Revolution den Staatsbankrott nicht verkünden. Aber es könnte knapp werden – vor allem dann, wenn die Bonität Britanniens sinkt und die Zinsen für Staatsanleihen erhöht werden müssen. Dann bleiben nur massive Steuererhöhungen, weiterer Sozialabbau und ein radikaler Schnitt bis zum generellen Schuldenerlass (auch für staatliche Obligationen). Oder der Gang zum Internationalen Währungsfonds IWF. Den hat der konservative Oppositionsführer David Cameron ins Spiel gebracht, weil er ihm zupass käme. 1976 hatte schon einmal eine britische Regierung den IWF um Unterstützung gebeten – dessen Auflagen waren so harsch, dass die regierende Labourpartei die nachfolgende Wahl verlor und Margaret Thatcher 1979 Premierministerin wurde. Die Folgen ihrer marktradikalen Politik sind heute allgegenwärtig. (pw)