Britannien: Die britischen Konservativen

Ein Blairist der späten Stunde

27. September 2007 | Auf ihrem Parteitag an diesem Wochenende entscheiden die Tories, wie weit nach rechts die Partei rutschen will.

Boris Johnson liess mal wieder auf sich warten. Alle Medien hatte er zu einem Stelldichein vor das Amtsgebäude des Oberbürgermeisters an der Londoner Southbank gebeten – und dort standen nun brav Hunderte von JournalistInnen, um bestätigt zu bekommen, was sie eh schon wussten. Und was ihnen «BoJo», der zwanzig Minuten nach dem vereinbarten Termin wild gestikulierend auf einem Velo eintraf, dann auch versicherte: Er, der Journalist, Publizist, Schriftsteller und Politiker werde bei der Londoner Oberbürgermeisterwahl 2008 gegen Ken Livingstone antreten.

Sein Auftritt war eine Show, seine Kandidatur ist eine Farce. Kann ein Exzentriker wie Johnson, der fünf Jahre lang das konservative Meinungsorgan «The Spectator» herausgab und der seit 2001 als Tory-Abgeordneter im Unterhaus sitzt, einen Politiker besiegen, dem das Amt des obersten Londoners auf den Leib geschneidert ist? Der als Chef der Labour-Fraktion im Greater London Council (GLC) in den achtziger Jahren so lange Margaret Thatcher geärgert hatte, dass diese den GLC abschaffte? Der auch Tony Blair in die Knie zwang, als dieser das Amt des Londoner Oberbürgermeisters wieder einführte, aber Ken Livingstone unbedingt verhindern wollte?

Gewiss: Livingstone hat seine Schwächen – aber seine Lokalpolitik ist ungemein populär. Seine Staugebühr zur Vermeidung des Privatverkehrs in der Londoner Innenstadt kam gut an; sein Protest gegen den Irakkrieg fand Beifall nicht nur von MigrantInnen; sein vehementer Widerstand gegen die Teilprivatisierung der Londoner U-Bahn ist vielen in guter Erinnerung; seine Politik der aktiven Einbindung aller Gemeinschaften in der ethnisch vielfältigen Metropole zeigt Früchte.

«Negerbälger»

Doch ausgerechnet gegen diesen versierten Politiker will ein politisches Schrapnell kandidieren, ein rechter Clown, der es lustig findet, AfrikanerInnen «piccaninnies» («Negerbälger») mit «wassermelonenbreitem Grinsen» zu nennen. Der sich als Anhänger von George Bush bezeichnet, den Irakkrieg begrüsste, den Sozialstaat abschaffen will und vor kurzem kundtat, dass in Afrika nicht der Kolonialismus das Problem war, sondern die Tatsache, «dass wir dort nichts mehr zu sagen haben».

Noch ist nicht entschieden, ob «BoJo» tatsächlich als offizieller Kandidat der Konservativen Partei antritt. Darüber befinden derzeit Parteimitglieder und Tory-SympathisantInnen, die in einer Urwahl per Telefon und für ein Pfund pro Minute Gesprächsdauer für einen von vier vorgeschlagenen KandidatInnen stimmen können. Nur wenige zweifeln daran, dass Johnson gewinnt. Das Ergebnis wird zu Beginn des Tory-Parteitages bekannt gegeben, der an diesem Samstag beginnt.

Ein durchgeknallter Spassvogel in einem der wichtigsten politischen Ämter des Landes - dass es möglicherweise so weit kommt und dass Tory-Chef David Cameron diese Kandidatur gutheisst, zeigt, wie es um die britischen Konservativen bestellt ist: schlecht. Dabei sah vor sechs Monaten alles noch gut aus. Cameron, im Dezember 2005 zum Parteivorsitzenden gewählt, lag in der Sympathie weit vor dem damaligen Regierungschef Tony Blair. Bis zu zehn Punkte Vorsprung gaben die Meinungsforschungsinstitute dem jugendlichen, intelligenten und stets frisch wirkenden Cameron. Labour, so schien es, würde die nächste Unterhauswahl haushoch verlieren. Heute jedoch sieht alles anders aus. Laut einer Umfrage der Tageszeitung «The Guardian» käme Labour heute auf 40 Prozent der Stimmen, die Konservativen aber würden nur noch von 32 Prozent aller BritInnen gewählt.

Es gibt viele Gründe für diesen Stimmungswandel – und nicht alle werden am kommenden Parteitag diskutiert, zu heikel wäre vielen Delegierten eine genaue Analyse. Ein erster Grund ist im schnellen Abgang von Tony Blair zu suchen. Der verschwand so speditiv in der Versenkung, dass manche Zeitungen ihn Tony «Wie-hiess-der-noch?» nennen. Camerons Vorsprung vor einem halben Jahr war also zu einem guten Teil der Unpopularität des damaligen Premiers geschuldet.

Genug gelächelt

Der zweite Grund hingegen ist hausgemacht. David Cameron hatte schon vor seiner Wahl zum Tory-Leader eine Gruppe von jungen, smarten Politikern um sich geschart, die meisten von ihnen Eton-Schüler wie er: dynamische, konservative Professionals aus besserem Hause. Manche hatten wie Cameron die Universität Oxford besucht oder waren direkt ins Politgeschäft eingestiegen. Als heimliche Bewunderer von Margaret Thatcher und Blair beschlossen sie, den damaligen Premier mit dessen eigenen Mitteln zu schlagen. Sie bauten einen PR-Apparat auf und schulten Cameron, bis dieser genauso telegen, glatt und worthuberisch daherkam – ja nichts Konkretes sagen, ja keine klare Position beziehen, immer unverbindlich bleiben. Hatte nicht Blair 1997 die Wahl ohne Programm gewonnen?

Dumm nur, dass zehn Jahre später die Mehrheit der Bevölkerung von smarten und stets lächelnden Politikern genug hat, die ein Land hintenherum in alle möglichen Abenteuer wie den Irakkrieg ziehen: Sie begrüsste den etwas drögen, faktenbesessenen, rednerisch unbeholfenen Gordon Brown mit einem kollektiven Seufzer der Erleichterung.

Dabei stünden gerade jetzt die Chancen nicht schlecht, Brown in die Enge zu treiben. Zehn lange Jahre war er Schatzkanzler gewesen, Finanz- und Wirtschaftsminister in einer Person. Er setzte auf das Finanzkapital, die positiven Kräfte des Marktes, den Ausverkauf des Staates – und erlebte eine Pleite nach der anderen. Staatlichen Spitälern droht der privatwirtschaftliche Konkurs, ein Privatbetreiber der Londoner U-Bahn kollabierte, zuletzt standen besorgte SparerInnen Schlange vor einer Bank, die sich in dem von Brown favorisierten Kapitalismusmodell verspekuliert hatte.

Doch die Tories konnten nicht reagieren, denn sie hätten es nicht anders gemacht. Da Labour nicht nur die politische Mitte besetzt hält, sondern diese nach rechts rückte, suchte Cameron anfangs einen Ausweg in allgemeinen gesellschaftspolitischen Themen. Er werde den «Armen helfen und nicht den Reichen» und die sozialen Ursachen der Jugendkriminalität bekämpfen und nicht die Jugendlichen, sagte er. Ausserdem wolle er zum Schutz der Umwelt Ökosteuern für Privatfahrzeuge und den Flugverkehr einführen (genaue Zahlen nannte er nicht), das staatliche Gesundheitswesen vor weiteren Privatisierungsexperimenten bewahren, gleichgeschlechtliche Partnerschaften akzeptieren und überhaupt die durch Thatchers und Labours Politik «zerrüttete Gesellschaft» heilen.

Und wieder nach rechts?

Cameron sprach sogar von der «sozialen Verantwortung» des Kapitals. Das kam gut an – selbst bei den britischen MuslimInnen. Ismail Jalisi zum Beispiel schliesst nicht aus, dass er irgendwann einmal konservativ wählt. Dabei hatte Jalisi viele der Demonstrationen gegen den Irakkrieg mit organisiert und weiss, wie die Tories zum Irakkrieg stehen. «Aber ich bin nun mal, wie viele Muslime, ein sozial konservativ eingestellter Mensch.» Für eingefleischte Konservative hingegen betrat Cameron politisches Neuland. Sie liessen ihn gewähren, solange die Umfrageergebisse stimmten, und weil sie keine personellen Alternativen hatten.

Doch seit ein, zwei Monaten wetzen die rechten Tories wieder ihre Messer. Cameron sei zu weit nach links gerückt, sagen die Altvorderen. Dieser reaktionäre Flügel sei immer noch mächtig, sagt der Soziologe Huw Beynon von der Universität Cardiff: «Sie hat ihre Basis in der Finanzmetropole der Londoner City, in der Aristokratie, unter GrossgrundbesitzerInnen und im Mittelstand der Grafschaften.» Und so hört sich der geschmeidige Cameron neuerdings ganz anders an: Er wettert gegen «anarchistische Zustände» in den Armenvierteln, plädiert für mehr Gefängnisse und härtere Strafen für jugendliche MissetäterInnen, verspricht noch mehr Deregulierung, noch mehr Steuerkürzungen für die Reichen.

Die «im Kern immer noch erzreaktionäre, aristokratische, fremdenfeindlich bis rassistische Partei der Umverteilung von unten nach oben» (Beynon) verschluckt allmählich ihren Hoffnungsträger. Cameron hat kein Problem damit, solange er oben bleibt. Dabei müsste er nur seine gescheiterten Vorgänger konsultieren. Die wissen, wie man in Britannien heute Wahlen verliert: mit einer zerstrittenen Partei. Und mit Themen wie Immigration, schärfere Gesetze, noch mehr Neoliberalismus (die auch einen konservativen Muslim wie Jalisi abschrecken). Doch sein Hauptdilemma bleibt: Wie kommt man gegen eine Labour-Regierung an, die all das ebenfalls will?

Einwanderung, Verbrechen, Europa

In den letzten Jahren hat die Conservative Party – sie ging 1830 aus der Tory Party hervor – mehrere Häutungen versucht. Im 20. Jahrhundert war sie lange Zeit die führende Partei Britanniens. Sie regierte nach dem Ersten Weltkrieg fast ohne Unterbruch bis 1945, wurde kurze Zeit von der Labour-Partei abgelöst und amtierte danach bis 1964 und von 1970 bis 1974. Während dieser Zeit betrieben konservative Premierminister von Stanley Baldwin über Winston Churchill bis hin zu Edward Heath eine zwar konservative, an den Interessen der Aristokratie und der Industrie orientierte Politik - aber sie alle folgten weitgehend dem Diktum des zweifachen Tory-Premiers Benjamin Disraeli (1804-1881), wonach es in Britannien keine «zwei Nationen» geben dürfe, keine zu grosse Kluft zwischen Arm und Reich.

Das änderte sich erst mit Margaret Thatcher, die 1979 in Downing Street 10 – dem Amtssitz der britischen Premiers – einzog. Thatcher krempelte die britische Gesellschaft um: Sie führte zuerst Krieg gegen Argentinien, dann gegen die Gewerkschaften; sie boxte ihr Wirtschaftskonzept durch, begann ein breit angelegtes Programm zur Privatisierung der Staatsunternehmen, liess die britische Industrie serbeln, verfolgte einen europakritischen Kurs und machte die Fremdenfeindlichkeit salonfähig. Mit ihr zerfiel Britannien zunehmend in «zwei Nationen». Als sie auf kommunaler Ebene eine Flat Tax, eine für Millionäre wie Arbeitslose gleich hohe Kopfsteuer, durchsetzen wollte und die Bevölkerung auf die Strasse ging, rebellierte die Partei – und ersetzte die «Eiserne Lady» 1990 durch John Major. Der führte ihre Politik weiter, agierte aber glücklos, verlor immer mehr Richtungskämpfe in der Partei und schliesslich die Wahl 1997.

Nach Major rückte William Hague an die Tory-Spitze, der sein Heil rechts von Tony Blair suchte. «Wer heutzutage das Thema Asyl anspricht, wird als Rassist bezeichnet», beklagte er sich an einem Tory-Parteitag, Britannien sei ausländisch geworden: «Wir geben euch euer Land zurück.» So viel Fremdenfeindlichkeit war sogar dem rechten Boulevardblatt «Sun» zu viel; Blair gewann die Unterhauswahl 2001 mit grossem Vorsprung.

Hague war der erste Tory-Chef überhaupt, der es nicht in die Downing Street 10 geschafft hatte. Iain Duncan Smith (Vorsitzender von 2001 bis 2003) gelang der Sprung mit einem ausgesprochen rechtspopulistischen Programm ebenfalls nicht – er durfte nicht einmal antreten. An seine Stelle trat Michael Howard, der unter Thatcher die Kopfsteuer vorangetrieben hatte, unter Major die Gewerkschaften hart attackierte, als Innenminister (1993-1997) die Strafgesetze verschärfte und das Asylrecht weitgehend aushöhlte. Auch er scheiterte. Seine Forderungen nach noch mehr Einwanderungsbeschränkungen, noch mehr Ausschaffungen, noch härteren Strafen für Kriminelle, noch mehr Steuererleichterungen für Reiche und noch grösserer Distanz zur EU überzeugten zwar die Tory-Basis auf dem Land, aber nicht die Mehrheit der Bevölkerung - zumal Blair und Gordon Brown all diese Punkte ohnehin recht effektiv umsetzten.

Howard verlor die Unterhauswahl 2005. Und so riskierten die Konservativen Ende 2005 einen Neuanfang und wählten per Urabstimmung den jungen Abgeordneten David Cameron zu ihrem neuen Vorsitzenden. Als Gegenpol zu Blair machte er lange Zeit eine gute Figur. Mittlerweile aber holen ihn die Partei und ihre Geschichte wieder ein. (pw)