Britannien: krankes Gesundheitswesen
Aufstand am Krankenbett
9. November 2006 | Noch nie hat eine Regierung so viel Geld in das Gesundheitswesen gesteckt – und doch werden Spitäler geschlossen, Maternités verlegt, Notfallstationen zugemacht. Warum?
London hat schon grössere Demonstrationen erlebt als die Kundgebung vergangener Woche, zu der sich mehrere Tausend Ärztinnen, Krankenpfleger, Hebammen und Verwaltungsangestellte vor dem Parlament in Westminster eingefunden hatten. Doch die Aktion – sie fand am Mittwoch, einem Arbeitstag, statt – war auf ihre Art nicht weniger effektiv und aufsehen erregend. Denn die DemonstrantInnen verlängerten ihren Protest ins Parlament hinein, in dem für diesen Tag eine Debatte über die Gesundheitspolitik der Regierung von Tony Blair angesetzt war.
Hunderte zogen in die Lobby des Parlamentsgebäudes und liessen dort ihre jeweiligen lokalen Abgeordneten ausrufen, um ihnen höchstpersönlich die Meinung zu sagen über eine Reform, die mittlerweile grosse Teile der Bevölkerung in Aufruhr versetzt hat. Und die in drei Jahren so manchen LabourparlamentarierInnen das Mandat kosten könnte.
In der Unterhausdebatte am Nachmittag verteidigte Premierminister Blair («Die Reformen sind Teil eines notwendigen Wandels») seinen Kurs. Oppositionsführer David Cameron von den Konservativen hingegen wetterte gegen Labours Politik, als hätte er aus Versehen das Redemanuskript eines Gewerkschafters erwischt.
Von Nord bis Süd
Dass sich ausgerechnet die Tories für das staatliche Gesundheitssystems stark machen, zeigt, wie tief der Unmut über die vielen Reformen im Gesundheitswesen mittlerweile reicht. Denn noch vor wenigen Jahren hatten sie selber eine Zerschlagung des National Health Service (NHS) gefordert.
Anders als das Kabinett und Labours Gesundheitsministerin Patricia Hewitt haben sie jedoch erkannt, welche politische Sprengkraft der leise Aufstand birgt – und dass sich daraus politisches Kapital schlagen lässt. Denn in ganz England rebellieren immer mehr Menschen gegen die Kürzungen im Gesundheitswesen, gegen die Schliessung von Spitälern und Versorgungseinrichtungen und für den Erhalt von Maternités, Notfallstationen und psychiatrischen Abteilungen in ihren lokalen Krankenhäusern.
Der Protest reicht von Nord bis Süd, von Ost bis West und quer durch alle Schichten. In Hayle, Grafschaft Cornwall, demonstrierten kürzlich 30.000 BürgerInnen gegen die Herabstufung ihrer NHS-Klinik St. Michaels, die eine Reihe von Abteilungen verlieren soll. In Haywards Heath, West Sussex, zogen Mitte Oktober 7000 Menschen durch die Strassen der Kleinstadt; 40.000 unterschrieben eine Petition gegen geplante Kürzungen beim örtlichen Spital. In Worthing, ebenfalls West Sussex, waren sogar 10.000 unterwegs; 5000 bildeten eine Menschenkette rund ums Krankenhaus. Weiter oben im Norden, in Grantham (Grafschaft Lincolnshire), marschierten 8000 für die Beibehaltung der Notfallstation. Auch in Kendal, Grafschaft Cumbria, soll die Notaufnahme zugemacht werden; dies brachte 13.000 Menschen auf die Beine. In Burnley, Huddersfield, Manchester, Banbury, Dover und in weiteren 150 kleinen und grossen Gemeinden Englands haben Gesunde wie Kranke im letzten halben Jahr Protestversammlungen abgehalten, Unterschriften gesammelt, vor Behörden protestiert, an Abgeordnete geschrieben, Spitäler umzingelt, Transparente gemalt und demonstriert. Und es geht grad weiter so. Am Mittwoch versammelten sich BewohnerInnen von Lydiate (bei Liverpool), für Samstag ist in Leeds eine Grosskundgebung angekündigt, und kurz darauf wird in St. Helier und Epsom demonstriert.
«Seit dem Widerstand gegen Margaret Thatchers Poll Tax hat es keine so breite und so lang anhaltende Basisbewegung gegeben», sagt Geoff Martin von der gewerkschaftsnahen Kampagne Health Emergency. Ende der achtziger Jahre hatte die damalige Premierministerin Thatcher ein neues Gemeindesteuersystem einzuführen versucht, das alle – ob reich oder arm und arbeitslos – gleichermassen belasten sollte. Der Proteststurm, der daraufhin anhob, führte zu ihrem Sturz. «Dies könnte nun auch Labour blühen», sagt der Gewerkschafter Martin, «dabei müssten sie eigentlich wissen, welch hohe Wertschätzung der NHS geniesst.»
PFI und massive Investitionen
Ende der neunziger Jahre war dies der Partei noch bewusst gewesen. Im Wahlprogramm von 1997 stand die Verteidigung des staatlichen Gesundheitswesens an oberster Stelle. Der NHS werde in seiner bestehenden Form beibehalten, versprach Blairs Truppe damals. Dass Labour die Wahl so haushoch gewann, lag auch an dieser Zusage. Nach der Wahl änderte sich zunächst nicht viel, der NHS blieb unterfinanziert (vgl. den Text in der Randspalte) – bis die Labourspitze Ideen der Tories aufgriff und mit grosser Wucht vorantrieb. Sie änderte ihre Investitionspolitik, vervielfachte die Zahl der Privaten Finanzierungsinitiativen (PFI) und begann, im Gesundheitssektor Marktmechanismen einzuführen. Nur der Markt und die damit verbundene Konkurrenz der staatlichen Spitäler untereinander und mit den Krankenhäusern der privaten Krankenversicherungen könnten die Effizienz des Systems steigern und die Versorgung der Bevölkerung verbessern, hiess es plötzlich in den Führungsetagen der Arbeiterpartei.
«Daran glaubt die Labourführung noch heute», sagt Allyson Pollock, Professorin des Zentrums für öffentliche Gesundheitspolitik an der Universität Edinburgh, «doch den Beweis ist die Regierung bisher schuldig geblieben. Denn alle Reformen, die sie bisher unternahm, zeigen in eine ganz andere Richtung.» Der NHS-Umbau, so die Expertin, sei ein Paradebeispiel dafür, was das Marktmodell bewirke: «Der Markt schafft Gewinner und Verlierer.» Wer gewinnt und wer verliert, stehe bereits fest.
In einem ersten Schritt beschloss die Regierung, alle Neuinvestitionen Privatunternehmen zu überlassen und gab dem NHS die Anweisung, künftig nur noch PFI-Verträge zu unterzeichnen. Diesen Verträgen zufolge finanzieren private Bauunternehmen und Finanzgesellschaften den Neu- oder Ausbau von NHS-Spitälern und erhalten dafür und für die Wartung der Einrichtungen von der staatlichen NHS-Behörde über dreissig Jahre hinweg einen festgelegten Mietzins. Ein scheinbar gutes Geschäft für den Schatzkanzler, der auf diese Weise seinen Investitionshaushalt entlastet, ein tatsächlich gutes Geschäft aber für die InvestorInnen – denn die gesamte Mietsumme übersteigt bei weitem die Investitionskosten.
Derzeit müssen die 58 PFI-Einrichtungen des NHS jährlich etwa drei Milliarden Euro an Investoren wie Siemens, Rentokil-Initial, Jarvis oder Tarmac überweisen und diese Summe durch Bettenreduktion und Personalkürzungen einsparen. Eine Studie der konservativen Partei ergab, dass der NHS in den nächsten dreissig Jahren über 90 Milliarden Euro für Spitäler ausgeben muss, deren Bau gerade mal fünfzehn Milliarden kostete.
Doch die Regierung hält an ihrem Programm zur Förderung der Privatwirtschaft fest und plant dreissig weitere PFI-Projekte – und das, obwohl die bisherigen Bauten den NHS-Standards nur selten entsprachen. Sie wurden schnell und schludrig errichtet, wiesen konzeptionelle Mängel auf (in einem Fall fehlte die Leichenkammer) und waren in der Regel mit viel zu wenig Betten ausgestattet.
Alle gegen alle
In einem zweiten Schritt hin zur Marktwirtschaft im Gesundheitswesen entwickelte Labour das Konzept der sogenannten Foundation Hospitals. Diese Spitäler sind betriebswirtschaftlich selbständige Unternehmen, die auf eigene Rechnung wirtschaften, Tarifverträge nicht mehr einhalten müssen, einen Teil ihrer Leistungen (wie beispielsweise die Diagnose und die Röntgenabteilung) an Private vergeben können und nicht mehr auf die Belange und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung Rücksicht nehmen müssen.
Sie sind auch niemandem mehr rechenschaftspflichtig – schon gar nicht den Gemeinden, die bisher im NHS ein grosses Mitspracherecht hatten. Die Manager der bisher 34 Foundation Hospitals (demnächst sollen alle englischen Spitäler diesen Status erhalten) können also tun, was sie wollen – solange sie ihr Budget einhalten. Sie können ausgliedern, Stationen stilllegen, Löhne kürzen, Land und Gebäude verkaufen. Nur eines können sie nicht: Mit mehr Geld für die PatientInnen rechnen.
Denn dafür hat der dritte Schritt der Labourreform gesorgt, der mit einer massiven und allseits gefeierten Anhebung des Gesundheitsbudgets der Regierung verbunden war. Blair und vor allem Schatzkanzler Gordon Brown erhöhten die Staatsausgaben im Gesundheitsbereich von umgerechnet 85 Milliarden Euro (im Jahr 2000) allmählich auf 150 Milliarden im Finanzjahr 2005/2006. Dieser Anstieg kam auch der Bevölkerung zugute: Die Wartezeiten für nicht überlebensnotwendige Operationen sanken auf ein verträgliches Mass, in mehreren Bereichen (wie etwa der Krebsvorsorge) gewann der NHS wieder internationales Niveau. Er konnte auch wieder mehr Personal einstellen und die Löhne der Beschäftigten leicht anheben.
Doch der grösste Teil der zusätzlichen Mittel ging und geht – via PFI – direkt an Privatfirmen oder kommt den Privaten indirekt zugute. So investiert die Regierung in den nächsten Jahren über siebzig Milliarden Franken in ein Computersystem, das alle Praxen und Spitäler vernetzen soll. Jeder Hausarzt, jede Ärztin soll künftig den PatientInnen per Klick eine Auswahl an Kliniken bieten können. British Telecom und andere IT-Firmen haben bereits lukrative Aufträge unterschrieben.
Millionen für Berater
Auch die Einführung des Markts kostet Geld. Da immer mehr Spitäler als eigenständige und wettbewerbsfähige Unternehmen agieren müssen und zudem ihr Abrechnungsmodus geändert wurde, benötigen sie jetzt Buchhaltungsfirmen (die Verträge mit den PatientInnen aufsetzen und jede Leistung einzeln abrechnen), Marketingfachleute, AnwältInnen für die absehbaren Konflikte und UnternehmensberaterInnen. «Pricewaterhouse, McKinsey und KPMG verdienen Millionen und kontrollieren mittlerweile die Geschäfte des NHS», sagt Geoff Martin.
Die Finanzmanager der Spitäler plagen noch weitere Sorgen. So hat Gesundheitsministerin Hewitt die NHS-Behörden und die NHS-ÄrztInnen angewiesen, einen Teil ihrer PatientInnen an unabhängige Behandlungszentren zu überweisen – und nicht mehr an die NHS-Krankenhäuser. Diese Zentren (sie erledigen Routinearbeiten wie Operationen am Hüftgelenk und die Behandlung des Grauen Stars) werden ausschliesslich von international agierenden Unternehmen betrieben wie Mercury Health, der schwedischen Capio Group, der südafrikanischen Netcare Group oder dem US-amerikanischen Konzern United Health (dessen Europachef Simon Stevens, welch ein Zufall, bis 2004 Blairs engster Berater in Sachen Gesundheitsreform war).
Kurzfristig verheerender für die Spitäler, die PatientInnen und die Bevölkerung ist aber die Direktive aus Hewitts Ministerium, derzufolge alle Krankenhäuser bis Ende März 2007 nicht nur einen ausgeglichenen Haushalt vorweisen, sondern auch noch sämtliche Schulden tilgen müssen (inklusive der Schulden, die die PFI-Verträge verursacht haben).
Diese Anordnung hat dazu geführt, dass in England seit Februar 21.800 Klinikjobs gestrichen und 2400 Betten abgebaut wurden. Und dass in fast allen Spitalverwaltungen und NHS-Einrichtungen weitere Abstriche erwogen werden: Können wir uns überhaupt psychiatrische Abteilungen leisten? Braucht es noch Entbindungsstationen? Könnte man die Notaufnahme nicht auch in ein fünfzig Kilometer nahes Krankenhaus verlegen?
«Die Regierung spricht immer nur von Wahlmöglichkeiten, die der Markt angeblich schafft», sagt Geoff Martin. «Aber die Leute wollen genauso wenig zwischen Spitälern wählen wie zwischen Feuerwehren. Sie wollen Hilfe, wenns drauf ankommt. Und zwar sofort.» Die Proteste, da ist er sich sicher, werden in den nächsten Wochen und Monaten noch zunehmen. Bisher haben viele Spitäler und NHS-Verwaltungen noch keine Details ihrer geplanten Kürzungen veröffentlicht, sagt er. «Wenn die bekannt werden, gehts erst richtig los.» (pw)
Der National Health Service
Der National Health Service (NHS), 1948 von der damaligen Labourregierung gegründet, ist mit über einer Million Beschäftigten eine der weltweit grössten Einrichtungen. Das Ziel des steuerfinanzierten Gesundheits-systems ist die unentgeltliche Versorgung der Bevölkerung mit allen notwendigen medizinischen Leistungen.
Noch in den neunziger Jahren war der NHS laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD das «effizienteste und kostengünstigste» Gesundheits-system der industrialisierten Welt. Während die Gesundheitskosten in der Schweiz seit Jahren rund 11,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen und der Durchschnitt aller OECD-Staaten bei 8,9 Prozent liegt, betrugen die Ausgaben für die Gesundheit in Britannien bis Ende der neunziger Jahre gerade mal sechs Prozent.
Dank massiver Investitionen sind sie auf 8,3 Prozent angestiegen, doch das Geld kommt nur zum Teil den PatientInnen zugute. So sind zwar die einst berüchtigt langen Wartezeiten auf nicht lebensnot-wendige Operationen deutlich kürzer geworden, aber immer noch werden durchschnittlich 14 Prozent aller Operationen abgesagt. Und noch immer gehen in Britannien – prozentual gesehen – doppelt so viele Schlaganfälle tödlich aus wie etwa in Kanada, Schweden oder in der Schweiz.
Die jetzt angekündigten Schliessungen von Notfallstationen dürften dieses Verhältnis eher noch verschlechtern. (pw)