Britannien: Zehn Jahre Tower Colliery
Sozialismus im Untergrund
16. Dezember 2004 | Im ehemaligen Kohlerevier Südwales gibt es nur noch eine Zeche. Sie wird von den Bergarbeitern verwaltet, die ihren Job behielten, weil sie etwas riskierten.
Die Zeche liegt hoch am Berg, und wäre sie nicht in einer Mulde versteckt, würde sie das Tal wohl dominieren. So aber muss man sie suchen. Vier Kilometer entfernt von Hirwaun, dem nächsten Ort, steht der Förderturm, um ihn herum haben sich ein paar Baracken gruppiert – die Umkleideräume, die Waschanlagen, die Kantine und das kleine Verwaltungsgebäude. Hier sitzt manchmal der Direktor der Zeche, der Genossenschaftsvorsitzende und die Verkörperung einer Idee, die alle anfangs für ziemlich utopisch gehalten hatten: Tyrone O'Sullivan.
O'Sullivan, ein bulliger Mann Anfang sechzig, ist seit 45 Jahren Bergmann. Er fuhr im Alter von fünfzehn Jahren unter Tage, war über zwanzig Jahre lang Gewerkschaftsvorsitzender von Tower Colliery – der Zeche, der er nun vorsteht –, hat alle Bergarbeiterstreiks in den letzten Jahrzehnten mitgemacht und versteht sich als Sozialist. «Wir zeigen, dass der Sozialismus funktioniert, dass Arbeiter die Betriebe übernehmen und davon leben können», sagt er. «Ein Unternehmen, in dem die Belegschaft die Manager kontrolliert, ist immer effizienter als eine Firma, in der die Bosse alles einsacken – denn das Wissen steckt in denen, die die Arbeit tun, und nicht im Direktorium.»
Das sind nicht nur grosse Sprüche, wie die Zahlen zeigen, die O'Sullivan auf den Tisch legt: Seit Tower Colliery im Besitz der Belegschaft ist, stieg die Fördermenge von 450.000 auf 650.000 Tonnen Kohle im Jahr und die Zahl der Genossenschaftsmitglieder von 239 auf 320. Der Umsatz liegt bei umgerechnet 65 Millionen Franken, die Umsatzrendite beträgt acht Prozent, und die Arbeiter erhalten für walisische Verhältnisse einen Traumlohn: Sie verdienen im Durchschnitt 50.000 Euro im Jahr.
«Wir könnten mehr verkaufen», sagt Tyrone O'Sullivan, «wir sind international wettbewerbsfähig, der Bedarf ist gross, und wir exportieren bereits nach Belgien, Frankreich und Irland.» Warum fördern sie dann nicht mehr? «Weil wir langfristig denken und nicht auf kurze Profite aus sind. Jede Zeche hat aufgrund geologischer Gegebenheiten eine begrenzte Lebensdauer. Uns geht es nicht um den Gewinn von heute, sondern um die Jobs von morgen.»
Gegenwehr …
So haben O'Sullivan und seine Kollegen auch früher schon gedacht. 1984/85, beim grossen Kampf der Bergarbeiter gegen das Zechenschliessungsprogramm von Margaret Thatcher, waren die Beschäftigten der damals staatlichen Tower Colliery länger im Streik geblieben als alle anderen. Sie widersetzten sich auch Anfang 1994, als die Regierung die Stilllegung der Zeche bekannt gab. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen: 1985, nach Ende der grossen Streiks, hatte es in Südwales, einer der ältesten Bergbauregionen der Welt, noch 22.000 Bergleute und 27 Zechen gegeben – 1994 aber gab es nur noch sie, die traditionell militanten Kumpel der Tower Colliery.
Und die legten sich quer. Sie trugen den Kampf um ihre Jobs ins ganze Land, reisten in die Grossstädte, stellten Piketts auf, organisierten Kundgebungen und zogen unter dem Motto «Save our jobs» in einem langen Marsch von Hirwaun nach London, während die Bergarbeiterfrauen mit einem tagelangen Sit-in den Schacht besetzt hielten. Mehrmals lehnte die Belegschaft die ihnen angebotene Abfindung ab. Mitte April jedoch akzeptierten die weitgehend auf sich gestellten Miners das Ultimatum der Regierung, die ihnen die Wahl liess zwischen umgerechnet 40.000 Franken Abfindung, wenn sie freiwillig auf ihren Job verzichten, und 20.000 Franken, wenn ihnen - wie absehbar - gekündigt wird.
… und kühne Entscheidungen
Nicht alle wollten diese Niederlage einfach so hinnehmen - schon gar nicht Tyrone O'Sullivan, dessen Vater 1963 bei einer Explosion in der Zeche umgekommen war. Und so tauchte spät nachts in einer Kneipenrunde die Idee auf: «Die Tories wollen die Mine an Private verhökern – warum kaufen wir uns die Zeche nicht einfach zurück?» Eine Vollversammlung der gerade entlassenen Bergarbeiter war schnell einberufen. Fast alle erklärten sich bereit, einen Teil ihrer Abfindung in das Projekt einer Übernahme zu stecken.
Doch um als seriöse Geschäftsleute auftreten zu können, brauchten die Kumpel die Hilfe einer anerkannten Beratungsfirma, die ihnen einen detaillierten Finanz- und Wirtschaftsplan anfertigte. «Da habe ich wohl die klügste Entscheidung meines Lebens getroffen», sagt O'Sullivan. Er überzeugte seine Kollegen, sich ausgerechnet an jene Firma zu wenden, die den Konservativen besonders nahe stand und die Thatcher-Regierung während des Streiks 1984-1985 etwa bei der Beschlagnahme von Gewerkschaftsgeldern beraten hatte: Price Waterhouse (damals noch ohne Coopers). «Wenn die Regierung jemandem traut, dann denen», habe er sich damals gedacht.
Der Consulting-Konzern akzeptierte den Auftrag und liess sich sogar auf einen besonderen Deal ein: Sollte die Übernahme scheitern, würde sich das Unternehmen mit 75.000 Euro Honorar zufrieden geben. «Im Erfolgsfall haben wir ihnen jedoch den anderthalbfachen Satz ihrer Gebühren versprochen: knapp 500.000 Euro statt der veranschlagten 330.000», erinnert sich Tyrone O'Sullivan. «Nach ein paar Wochen wünschten sich die Tory-Freunde noch mehr einen Erfolg als wir.» Auch von anderen Seiten erhielten die Genossenschafter Unterstützung. Der frühere Chef der staatlichen Kohlebetriebe von Wales entwickelte einen Förderplan, andere Exmanager vermittelten Kontakte zu Banken und Kohlekraftwerken. Potenzielle Abnehmer fanden sich schnell: In Tower wird Anthrazit gefördert, eine schwefelarme Kohle von hohem Brennwert. Ein Stahlunternehmen unterzeichnete einen Fünfjahresvertrag, ein Stromkonzern der inzwischen ebenfalls privatisierten Elektrizitätsindustrie orderte Kohle für drei Jahre, auch Stadtverwaltungen bekundeten ihr Interesse.
Innerhalb weniger Wochen hatten die Arbeiter Vorverträge im Wert von 35 Millionen Euro in der Tasche – und damit eine Legende der damals regierenden Konservativen widerlegt. Mit der Behauptung, für britische Kohle gebe es keinen Markt mehr, hatten diese zwischen 1985 und 1994 über 150 Zechen stillgelegt. Da aber selbst die ausgefeiltesten Finanzpläne und Gutachten oftmals nicht reichen, um solch unorthodoxe Vorhaben auf den Weg zu bringen, organisierten die Bergleute von Tower landauf, landab zahllose Veranstaltungen, bis alle wussten, worum es ging. «Die veranstalteten einen Riesenwirbel», erinnert sich Huw Beynon, Direktor der School of Social Science an der Universität von Cardiff und wohl der beste Kenner der britischen Kohleindustrie, «und irgendwann dachten alle, wenn die ihre Zeche nicht zurückkriegen, gibt es einen Aufstand.»
Doch dazu kam es nicht. Im Oktober gab die Regierung dem Tower-Kollektiv, das ein Kaufgebot in Höhe von 22 Millionen Euro eingereicht hatte, den Vorzug vor zwölf anderen Bewerbern, die sich ebenfalls für die Zeche interessiert hatten; am 23. Dezember 1994 unterschrieben O'Sullivan und seine Mitstreiter den Vertrag.
Ab Mitternacht des folgenden Tags gehörte die Zeche den ArbeiterInnen. Und so zog am 2. Januar 1995 eine grosse Menge höchst erfreut von Hirwaun zur Zeche hinauf – die Kumpel, die jetzt Genossenschafter waren, ihre Frauen, die acht Monate zuvor den Schacht besetzt hatten, die Kantinenbelegschaft und die Bevölkerung der umliegenden Täler, die so viele Zechenschliessungen hatte hinnehmen müssen. Vorneweg das Banner der Bergarbeitergewerkschaft NUM, kurz dahinter die Brass-Band der Zeche, die die «Internationale» und die britische Arbeiterhymne «The Red Flag» intonierte. Sie feierten einen kleinen Sieg in einem Meer von Niederlagen.
Die sicherste Zeche
Und erfolgreich ist das Projekt bis heute geblieben. Trotz den hohen Löhnen erzielt die Genossenschaft einen Gewinn von derzeit rund vier Millionen Franken im Jahr. Die Schulden sind längst abgetragen. Ein Teil der Rücklagen wird für Investitionen verwandt, über die die vierteljährlich tagende Genossenschafterversammlung entscheidet. Auf deren Beschluss hin entstand beispielsweise eine neue Fabrikationsanlage für Briketts, für die je nach Kundenspezifikation ein bestimmter Anteil von Biomasse (etwa Sägemehl) der Kohle beigemischt wird. Zwölf neue Arbeitsplätze sind dadurch entstanden. Tower gilt ausserdem als die sicherste Zeche in Britannien, wenn nicht der ganzen Welt – bis heute kam es zu keinem nennenswerten Unfall. Schon die Gewerkschaftsvertretung sorgt dafür, dass sich daran nichts ändert: Alle Tower -ArbeiterInnen (also auch die Kantinenbelegschaft) sind weiterhin Mitglieder der Bergarbeitergewerkschaft NUM.
Und doch ist das Projekt langfristig gefährdet. Derzeit liefert die Genossenschaft eine halbe Milliarde Tonnen, also fünf Sechstel ihrer Jahresförderung, an das alte Kohlekraftwerk von Aberthaw. «Viel hängt davon ab, ob es denen gelingt, die Kohleverbrennung so zu modernisieren, dass der Kohlendioxidausstoss Kioto-gerecht ausfällt», sagt O'Sullivan. Pläne für eine Umrüstung seien vorhanden. Er hofft, dass diese das Überleben des Kraftwerks ermöglicht.
Ein ganz anderes Problem sind die nur noch begrenzten Vorkommen. Der Schacht der 200 Jahre alten Tower Colliery reicht 300 Meter tief, der Hauptstollen musste jedoch sieben Kilometer weit in rund 800 Meter Tiefe getrieben werden. «Die nächsten fünf Jahre sind gesichert», sagt der Sprecher des Kollektivs, «wenn wir genug Geld für Investitionen auftreiben können, reicht es vielleicht sogar für weitere acht Jahre.» Und dann? «Wir werden sehen», lacht O'Sullivan, «derzeit planen wir einen Ökopark auf unserem Gelände, der schafft vielleicht neue Arbeitsplätze. Und wenn nicht, haben wir zumindest vielen gezeigt, was möglich ist. In den letzten Jahren haben uns mehrere Dutzend Belegschaften konsultiert, darunter Bergarbeiterbelegschaften aus Südafrika, Indien, der Ukraine. Vielleicht setzen die ja unser Modell fort.» (pw)
Der Niedergang der Kohle
Tower Colliery, die letzte Kohlezeche in Wales, ist seit der Stilllegung der letzten Zeche von Selby Ende Oktober eine von nur noch neun Zechen in ganz Britannien. Vor rund zwanzig Jahren, nach Ende des grossen Bergarbeiterstreiks gegen die Privatisierung der Industrie, hatte es im Land noch knapp 180 Bergwerke und rund 170.000 Miners gegeben; heute zählt die einst mächtige Bergarbeitergewerkschaft NUM gerade noch 2000 aktive Mitglieder.
Die Gesamtfördermenge im Untertagebau sank in diesem Zeitraum von über 100 Millionen auf rund 16 Millionen Tonnen Kohle im Jahr; 13 Millionen Tonnen liefert der Tagebau. «Für britische Kohle gibt es keinen Markt mehr», hatte die konservative Regierung in den achtziger und neunziger Jahren ihr Zechenschliessungsprogramm begründet.
Doch in den letzten Jahren sind die Marktpreise kontinuierlich nach oben geklettert. Eine Tonne Kohle bringt den Produzenten heute 73 Euro, fast doppelt so viel wie vor fünf Jahren. Die Gründe für diesen Preisanstieg liegen in China, das angesichts des Eigenbedarfs keine Kohle mehr exportiert, und in den enorm gestiegenen Frachtraten.
Die höheren Marktpreise bekommt auch Britannien zu spüren. Dort hatte die Regierung die eigene Kohleindustrie dezimiert und auf billige Importkohle aus Australien, Südafrika, Polen, Kolumbien und den USA gesetzt. Fast der gesamte Import und rund 55 Prozent der im Land geförderten Kohle dienen der Stromerzeugung. Rund 30 Prozent der Elektrizität wird aus Kohle gewonnen (40 Prozent aus Gas, 23 Prozent aus Nuklearbrennstoff).
Der britische Kohlebergbau hätte also eine Zukunft, wenn es ihn noch gäbe – und wenn mit diesem Industriezweig nicht auch noch alle Entwicklungsabteilungen verschwunden wären. Wie Kohle möglichst rückstandsfrei und abgasarm verbrannt werden kann, lassen nur kohlefördernde Staaten erforschen: Australien und die USA, nicht aber Britannien. (pw)