Britannien: Tony Blair verliert den Krieg
Sieg im Irak, Niederlage daheim
10. April 2004 | Die grossen Demonstrationen gegen den Irakkrieg sind vorbei. Doch die britische Friedensbewegung lässt nicht locker – und tut, was sie kann.
Ganz langsam und in flachem Winkel schwebt der graue Koloss über Wiesen und Hecken hinweg auf die Landebahn zu, dann stauben die Reifen, der Bremsfallschirm knallt auf und die B-52 verschwindet in der Ferne. Nick Barry kramt ein Buch in schwarzem Umschlag hervor und trägt ein: Uhrzeit (10.50 a.m.), alle Bomben abgeworfen, keine besonderen Vorkommnisse. Einmal, sagt er, sei eine B-52 mit Motorschaden zurückgekehrt mit offenen Ausfallluken und den Bomben noch unter den Flügeln; «die muss was abgekriegt haben».
Während zweihundert Meter weit weg Soldaten einen Hänger mit zwei JDAM-Bomben unter eine B-52 schieben, rekapituliert Barry die letzten Ereignisse: 20. März, Kriegsbeginn, 10 Uhr 20, acht B-52 abgeflogen; danach durchschnittlich vier Starts pro Tag; Ladung: jeweils fünfzig Bomben. «Wenn die Angaben über die Gesamtmenge aller Bomben auf den Irak stimmen, dann hat rund ein Viertel aller Abwürfe hier seinen Ausgang genommen», sagt Drew Withington. Die US-britische Luftwaffenbasis Fairford spielt damit im angloamerikanischen Angriffskrieg eine wichtige Rolle. Denn für die B-52, die schon Vietnam mit ihren Bombenteppichen eingedeckt hatten, gibt es ausserhalb der USA nur drei Stützpunkte – Guam im Pazifik, Diego Garcia im Indischen Ozean und Fairford in der westenglischen Grafschaft Gloucestershire.
Deswegen sind sie hier. Nick Barry war einer der ersten. Noch bevor die vierzehn Bomber aus den USA eingeflogen waren, hatten er und andere am Tor Nummer zehn ein Friedenscamp aufgeschlagen. «Man muss doch etwas tun gegen diesen Wahnsinn», sagt der 35-Jährige, der seine Arbeit als Krankenpfleger auf zwei Tage in der Woche reduziert hat und die übrige Zeit hier verbringt. Auch Withington kehrt regelmässig an seinen Arbeitsplatz in einem Altersheim zurück. Der 24-jährige Splash hingegen hat seinen Verkäuferjob gleich hingeschmissen und das kleine Lager mit den vierzehn Zelten zu seinem Hauptwohnsitz gemacht (mit Genehmigung der Regionalverwaltung übrigens, die das Camp trotz politischem Druck von oben toleriert und ihm sogar eine eigene Postleitzahl zuwies). Viele der rund zwanzig CamperInnen im Alter zwischen fünfzehn und fünfzig haben zum ersten Mal einen so weitreichenden Schritt unternommen, der ihr bisheriges Leben über den Haufen warf.
Sie sind hier, um ihren Protest zu demonstrieren, aber auch um zu beobachten. Dabei fiel ihnen so manches auf. «Die B-52 führen unter jedem Flügel sechs gelenkte JDAM-Bomben mit 1000-Kilo-Sprengköpfen», erläutert Drew Withington. Das ist bekannt. «Weniger bekannt aber ist, dass auch hochexplosive Mk-82-Bomben geladen werden, für die es keine Steuerung gibt. Die fallen einfach herunter, die unterscheiden nicht zwischen Palästen und Hütten. Vielleicht werden die ja nur über der Wüste abgeworfen, aber das glaube ich nicht.»
Zucker in den Tank
Während Nick und Drew erzählen, bemalt Brenda ihre Gesichter. Heute hat das Camp Geburtstag, und der muss gefeiert werden, erst mit einer Demonstration und dann mit Bier und Kuchen. Und da es hier «meist schrecklich langweilig ist» (Nick) – an das mächtige Polizeiaufgebot hatten sie sich schnell gewöhnt –, schlüpfen die Jungs mit dem Friedenszeichen im Gesicht in Frauenkleider. «Manchmal muss man einfach albern sein», sagen sie und begeben sich auf einen filmreifen Marsch: vorne ein Mannschaftswagen der Polizei, hinten ein Mannschaftswagen und dazwischen acht Leute, die den Soldaten innerhalb der mehrfach verstärkten Umzäunung anzügliche Sprüche zurufen: «Hallo Süsser!» - «Willst du meine Telefonnummer?» – «Ich habe mir extra die Beine rasiert!» – «Für Nylon und Kaugummi tu ich alles!».
Das US-Wachpersonal reagiert weniger komisch. «Die sind verunsichert», sagt Nick. Vor einigen Wochen hatte sich ein älteres Paar, beide Quäker, auf den Stützpunkt geschlichen und dreissig Fahrzeuge beschädigt (Zucker in den Tank, Sand ins Öl); kurz danach war ein Demonstrant, der sich durch den Zaun geschnitten hatte, mit einem Vorschlaghammer in der Hand auf eine B-52 losgegangen (die drei wurden erwischt und kommen demnächst vor Gericht, andere hatten mehr Glück). Auch die Besuche der angeblichen Waffeninspektoren von Gloucestershire, die allmonatlich in weisse Overalls gekleidet vor dem Haupttor des Stützpunkts auftauchen und die Massenvernichtungswaffen sehen wollen, sorgten für Aufregung. «Ab Herbst wurden hier klimatisierte Hangars für die hochempfindlichen B-2-Tarnkappenbomber gebaut», sagt Drew, «aber wegen der Proteste haben sie die B-2 dann doch nur in Diego Garcia stationiert.»
Der Weg zum Haupttor des Stützpunkts, wohin die Demo unterwegs ist, zeiht sich, acht Kilometer auf der Landstrasse, die Polizei stets treu auf den Fersen. Etliche PKW-LenkerInnen hupen freundlich. Vielen BewohnerInnen der umliegenden Dörfer (und auch manchen PolizistInnen) gefällt der Protest. Auch Kate Shuckburgh freut sich; dabei ist sie Umarmungen nicht gewohnt. Die Rentnerin steht seit Stunden allein am Haupttor der Basis und hält ein Schild in die Höhe mit der Aufschrift «US Air Force go home». Sie komme jeden Tag hierher, das sei halt ihre Form des Protests. «Blair hätte den Krieg verhindern können», sagt sie, «Bush wäre allein nicht so brutal vorgegangen.» Wird sie wieder Labour wählen? «Es kommt darauf an, wer die Partei bei der nächsten Wahl anführt.»
Kriegsverbrecher Blair
Shuckburgh ist eine freundliche alte Dame, nicht alle formulieren ihren Widerspruch so dezent. Diane Abbott zum Beispiel, die 1987 als erste schwarze Abgeordnete ins Unterhaus gewählt wurde, nimmt kein Blatt vor den Mund. «Ich habe mich noch nie so sehr für diese Regierung geschämt», sagt sie auf einer Antikriegsveranstaltung in ihrem Wahlkreis Hackney. «Das ist Mister Blairs Krieg, und das Blut, das jetzt vergossen wird, klebt an seinen Händen.» Noch einen Schritt weiter geht das Magazin «Labour Left Briefing», das sich vor allem an Labourmitglieder richtet. Sein letztes Titelbild zeigt ein Foto des Premiers, darunter nur ein Wort: «Kriegsverbrecher». Das sehen viele genauso – jedenfalls gibt es derzeit kaum eine Versammlung, kaum eine Kundgebung, auf der nicht verlangt wird, Blair vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen.
Die Empörung über den Krieg hat «Schwarze und Weisse, Christen und Muslims, Stadt und Land geeint», sagt die Abgeordnete Abbott. Am 15. Februar die grösste Demonstration in der Geschichte des Landes, am 22. März die grösste Demonstration, die es je zu Kriegszeiten gegeben hat, dazu zweimal hintereinander massive Rebellionen in der Labour-Fraktion, und ein Ende der Proteste ist nicht absehbar.
Vor allem die Minderheiten im Land sind wütend. Tony Blair habe doch seine Argumente gewechselt wie andere ihre Hemden, nur um rechtzeitig in den Krieg zu ziehen, sagt beispielsweise Mehmet Berker. «Er will, dass man seinem Urteil vertraut, aber er hat zu oft gelogen.» Im Büro des Architekten Berker denken alle so. Der Premier verliert derzeit offenbar nicht nur die Unterstützung der MigrantInnen, die seit je für Labour votierten, sondern auch jener Schichten, die er einst heftig umworben und an deren Interessen er seine Politik ausgerichtet hat.
Diese Stimmung zeigt sich auch in Meinungsumfragen. Vor dem Krieg hatten sich über 70 Prozent der Befragten gegen einen Krieg ohne Uno-Mandat ausgesprochen. Als die Attacke begann, stellten sich jedoch 59 Prozent hinter Blair – für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde dessen Rechnung aufgehen. Immerhin hat er einen Grossteil der Medien auf seiner Seite: die TV-Anstalten inklusive BBC («Blairs Broadcasting Corporation», wie sie von KriegsgegnerInnen mittlerweile genannt wird), die auflagenstarken Zeitungen von Rupert Murdoch («Times», «Sunday Times», «Sun», «News of the World»), den erzkonservativen «Daily Telegraph», die Revolverblätter «Daily Express» und «Daily Mail».
Dieser geschlossenen Front mit einer Gesamtauflage von zehn Millionen Exemplaren pro Tag stehen nur drei Zeitungen mit insgesamt knapp drei Millionen Auflage gegenüber: der «Daily Mirror», der «Guardian», der «Independent». Zu Jahresbeginn hatten sich viele gefragt, wieso Blair, der doch so viel auf Umfragen gibt, die weit verbreitete Skepsis der Bevölkerung ignoriert. Nun wissen sie es: Noch viel wichtiger als die Meinung der Menschen ist für Blair die Meinung der Verleger. Der US-australische Medienzar Murdoch oder der kanadische «Telegraph»-Eigner Lord Conrad Black (er kontrolliert auch die «Jerusalem Post») stehen stramm hinter Bush.
Kavaliere in Uniform?
Mit Kriegsbeginn war eine neue Lage eingetreten. Wer wollte sich schon vorwerfen lassen, den «Jungs da unten» in den Rücken zu fallen? Ausserdem wünschte niemand Saddam Hussein den Sieg. Doch je länger sich der Krieg hinzog, je mehr sich Berichte über verstümmelte Frauen und erschossene Kinder häuften, desto grösseren Anklang fanden die Parolen der Antikriegsbewegung: «Rettet unsere Truppen – bringt sie heim».
Die konservative Presse veränderte ihre Tonlage und ging auf Distanz zu Washington. Anständiger als die Amerikaner seien «unsere Soldaten», war da zu lesen. Britannien, so der Tenor, habe Kavaliere entsandt, die den Irak von Saddam Hussein befreien, die beim Verhör von IrakerInnen Helm und Sonnenbrille abnehmen und die die Region zumindest von den Erzählungen alter Kolonialoffiziere her kennen.
Allmählich dämmert nämlich den KommentatorInnen, dass die britische Armee auch im Krieg nur eine untergeordnete Rolle spielt, dass die USA das Kommando geben (bisher starben mehr britische Soldaten durch Unfälle und «friendly fire» als durch die irakische Gegenwehr) und dass Washington für den von der irakischen Bevölkerung zu zahlenden Wiederaufbau fast ausschliesslich US-Firmen ausgesucht hat. Da bleibt nicht mehr viel Substanz für einen Patriotismus – ausser dem täglich wiederholten Hinweis auf «unsere Jungs, die in Nordirland gelernt haben, wie man Frieden stiftet» (die Massaker an der nordirischen Bevölkerung bleiben in diesem Zusammenhang natürlich unerwähnt). Ende letzter Woche ist die Unterstützung für den Kriegskurs des Premiers auf unter fünfzig Prozent gefallen.
Tony Blair, der für Labour die letzten Wahlen gewann, fällt der Partei immer mehr zur Last. Bestenfalls ein Viertel der Mitglieder stehe noch hinter ihm, schätzt Barckley Sumner, stellvertretender Chefredakteur der parteinahen Wochenschrift «Tribune». Die Lage ist dramatisch. In den letzten sechs Jahren verlor die Labour-Partei über die Hälfte ihrer Mitglieder, seit Kriegsbeginn haben die Austritte nochmals zugenommen. Da viele Gewerkschaften zudem ihre Zahlungen eingestellt haben, droht der Organisation der Bankrott.
Ein schneller Kurswechsel und ein Sturz der Führung ist jedoch nicht absehbar. «Labour hat noch nie einen regierenden Premier abgesetzt», sagt Sumner – dafür gebe es kein Drehbuch. Aber hat nicht Margaret Thatcher nach anhaltenden Protesten gegen die Poll-Tax, die Pro-Kopf-Steuer, und einer Parteirevolte ihren Hut nehmen müssen? Die Konservativen, sagt Sumner, «sind in dieser Hinsicht demokratischer als Labour».
Die Suche nach einem Nachfolger
Um Blair zu stürzen, müsste eine eigens dafür einberufene Parteikonferenz einen Sonderparteitag beschliessen, auf dem die Gewerkschaften, die Unterhausabgeordneten und die derzeit rebellierende Parteibasis über je ein Drittel der Stimmen verfügen. Die Unterhausabgeordneten stehen trotz mehrerer Revolten mehrheitlich hinter dem Vorsitzenden, die Gewerkschaften sind gespalten.
Die Gewerkschaftslinke, deren Vertreter in den letzten zwei Jahren sämtliche Wahlen gewinnen konnten, hatte es nicht einmal geschafft, im Generalrat des Dachverbands TUC eine Mehrheit für einen gewerkschaftlichen Antikriegskongress zu finden. Der TUC protestierte zwar heftig gegen den Krieg, beliess es aber dabei. Angesichts dieser Kräfteverhältnisse sei eine direkte Herausforderung kaum möglich, sagt Sumner – nur der innere Zirkel, die «men in grey suits», könnten Blair einen Rücktritt nahe legen.
Und wer käme als GegenkandidatIn infrage? Robin Cook, der aus Protest gegen den Irak-Krieg das Kabinett verliess, hatte als Aussenminister in Blairs erstem Kabinett zu oft zurückkrebsen müssen und war zu häufig eingeknickt – ein netter Kerl, mehr nicht. Clare Short, die als Labours linkes Gewissen apostrophierte Entwicklungsministerin, hat mit ihrer erst grossartig angekündigten, dann aber stornierten Demission jede Glaubwürdigkeit verloren. Bleibt Gordon Brown, Blairs ewiger Konkurrent. Doch der steht nicht links von Blair. Erstens hat er die Sonderkredite für die Kriegsführung (bisher rund 12 Milliarden Euro) widerspruchslos bereitgestellt, zweitens ist Schatzkanzler Brown der Hauptarchitekt einer neuen Privatisierungswelle.
Dennoch glaubt Sumner, dass Blairs Tage gezählt sind. Im letzten Jahr gab Sumner sein Ehrenamt als Labour-Stadtrat im Londoner Vorort Epping Forest auf, weil die Mitglieder dort nicht mehr bereit waren, für die Partei auch nur einen Finger zu rühren. «Das Fundament ist zerstört, das Vertrauen dahin.» Über den Krieg aber werde Blair nicht stolpern, sagt er, der Krieg habe den schwelenden Widerwillen gegen Blairs Politik nur auf den Punkt gebracht: «Das ist der Anfang vom Ende.» Gut möglich, dass der Sieg im Irak den Premier beflügelt – und dass auch kein Reporter danach fragt, wo denn nun die irakischen Massenvernichtungswaffen geblieben sind. Die Rebellion der 139 Labour-Abgeordneten, die den Krieg als illegal und illegitim ablehnten, hat ihre Wirkung jedoch nicht verfehlt. Letzte Woche vertagte die Regierung die zweite Lesung eines Gesetzentwurfs zur weiteren Privatisierung des nationalen Gesundheitswesens. «Abgeordnete, die sich einmal gegen die eigene Regierung aufgelehnt haben, tun das beim zweiten Mal viel leichter», sagt Sumner.
Tony Blair hat mit seinem Kriegskurs viele Scherben hinterlassen. Wie er den Bruch mit den früheren EU-Verbündeten in Paris und Berlin kitten will, ist allen schleierhaft, die seine verbalen Ausfälle gegen Frankreich und Deutschland gehört haben. Im Umkreis des konservativen Oppositionsführers Duncan Smith wird mittlerweile sogar davon gesprochen, dass es wohl besser sei, die EU-Mitgliedschaft gegen einen Beitritt zum nordamerikanischen Freihandelsabkommen Nafta einzutauschen – eine ziemlich verrückte Idee, aber nicht ganz abwegig angesichts der Politik der Regierung.
Blair hatte kurz nach Beginn seiner zweiten Amtszeit ein Referendum über Britanniens Beitritt zur europäischen Währungsunion versprochen. Nach seinen Reden gegen die unzuverlässigen, weil kriegskritischen EU-Staaten wird der einstmals proeuropäische Premier diese Zusage wohl fallen lassen. Dabei hat Alt-Europa durchaus neue Freunde gewonnen. Im Friedenscamp von Fairford haben die KriegsgegnerInnen neben der Regenbogenfahne, der palästinensischen und der walisischen Flagge auch die französische Trikolore und die deutsche Bundesfahne gehisst. Aber auf diese Leute wird sich Blair kaum verlassen wollen. (pw)