Deutschland: Volksabstimmung zu Stuttgart 21

Nur eine Alibi-Übung

11. November 2011 | Die KritikerInnen des Immobilien- und Bahnprojekts hatten immer wieder einen Volksentscheid verlangt. Nun dürfen alle Baden-WürttembergerInnen darüber abstimmen. Aber ist das gut?


Der Erste, der auf dem improvisierten Perron einen blauen Rollkoffer hinter sich herzog, hatte noch gut Platz. Beim Zweiten, auch er mit einem grossen Koffer unterwegs, wurde es schon eng. Als dann noch ein Rollstuhlfahrer hinzukam, hatten die drei Männer auf dem zwei Meter breiten Streifen zwischen Bahnsteigkante und Treppe schon erhebliche Mühe, aneinander vorbeizukommen. So eng, erläuterte der eine, wird es auf dem geplanten Tiefbahnhof Stuttgart 21 (S21) zu- und hergehen. «Nicht auszudenken, was in einem Brandfall passiert, wenn die Rolltreppen und Aufzüge nicht benutzt werden dürfen», sagte der Rollstuhlfahrer. «Und das», ergänzte ein anderer, «wird uns nun als Fortschritt verkauft.»

Die Ad-hoc-Performance auf dem 1:1-Modell eines S21-Perronabschnitts, das S21-GegnerInnen in stundenlanger Arbeit zusammengeschraubt hatten, war beeindruckend. Sogar die Abschüssigkeit des Kellerbahnhofs und der Gleise, die mit 1,5 Prozent um das Sechsfache über dem für Bahnhöfe erlaubten Gefälle liegt, hatten die ModellbauerInnen berücksichtigt. Dumm an ihrer Demonstration war nur, dass kaum jemand hinsah. Die Konstanzer Stadtverwaltung (mit einem grünen Oberbürgermeister an der Spitze) hatte die Aktion der S21-KritikerInnen am vergangenen Samstag in eine zugige Ecke des Münsterplatzes verbannt. Und dort kommt selten jemand vorbei.

Begründete Einwände

Aber immerhin: In Konstanz – wie in siebzig anderen Gemeinden Baden-Württembergs – gingen an den letzten Wochenenden Menschen auf die Strasse, um gegen ein Projekt zu mobilisieren, das ihrer Meinung nach verkehrspolitisch schädlich, endlos teuer, ungemein risikobehaftet und dazu katastrophal geplant ist. Denn am kommenden Sonntag dürfen die Baden-WürttembergerInnen erstmals in der Geschichte des Bundeslands mitentscheiden – zwar nicht über das umstrittene Vorhaben an sich, denn die Deutsche Bahn AG (DB) pocht weiter auf ihr Baurecht. Aber dar­über, ob die neue grün-rote Landesregierung ihr «Kündigungsrecht bei den vertraglichen Vereinbarungen mit finanziellen Verpflichtungen des Landes für das Bahnprojekt Stuttgart 21» ausüben soll – und damit aus der Finanzierung aussteigt.

Seit über fünfzehn Jahren wird um Stuttgart 21 gerungen. Schon 1995 unterzeichneten die DB, die Bundesregierung, das Land Ba­den-Württem­berg und die Stadt Stuttgart einen Rahmenvertrag zum Abriss des (denkmal­geschützten) Stuttgarter Hauptbahnhofs und zum Bau von S21 – mit parlamentarischer Zustimmung, aber ohne die StuttgarterInnen zu fragen. Diese hatten mit 15 000 Unterschriften einen Bürgerentscheid gefordert. Als Jahre später die Dimensionen des Projekts (die DB hatte es vorübergehend als «unwirtschaftlich» schubladisiert) erkennbar wurden, verlangten 67 000 StuttgarterInnen erneut einen S21-Bürgerentscheid. Auch dieses Begehren wurde abgelehnt.

Für die Immobilienspekulation

Und so gingen immer mehr StuttgarterInnen auf die Strasse. Keine «Wutbürger», die ihre Privilegien verteidigen, wie viele Medien den Protest zu diffamieren versuchten. Sondern ganz durchschnittliche Leute. Facharbeiter, Verkäuferinnen, einfache Angestellte und Arbeitslose befürchten, dass die Kosten – unabhängige Gutachten sprechen von Ausgaben in Höhe von bis zu sieben Milliarden Euro – auch bei den Sozialausgaben ein­ge­spart werden. Städteplaner und Architektinnen weisen darauf hin, dass der geplante Untergrundbahnhof nur dem Zweck dient, die frei werdenden innerstädtischen Flächen der Immobilienspekulation anheimzugeben. Verkehrs­expertInnen kritisieren, dass eine achtgleisige Tunnelhaltestelle (die den erhofften Taktfahrplan auf Dauer verhindert) nie dieselbe Leis­tungsfähigkeit erbringen kann wie der bestehende sechzehngleisige Kopfbahnhof – und weitaus wichtigere Bahnmodernisierungen im Land finanziell blockiert. Technikerinnen und Lokführer monieren die Schräglage von S21, dessen Barrieren und den hohen Energieverbrauch; Geologen warnen vor den Folgen der Tunnelbohrungen, und Juristinnen beklagen die Rechtswidrigkeit der Finanzierungs­abkommen.

Doch was die Lohnabhängigen und die Selbstständigen, die Gewerkschafterinnen und die Fachleute seit langem sagen, hat die politische Elite und den DB-Vorstand nur wenig gekümmert. Im Gegenteil: Selbst als offenbar wurde, dass die in mühseliger Kleinarbeit erworbene Expertise der kleinen Leute die grandiosen Sprüche vom wegweisenden Zukunftsprojekt entzaubert hatte, reagierten die Verantwortlichen mit immer neuen Ausflüchten. Sie unterzeichneten Vergabeverträge, um Sachzwänge zu schaffen. Sie weigerten sich, Planungsdetails zu veröffentlichen. Und sie beschönigten systematisch die Kosten. So hatten beispielsweise 2009 RechnungsprüferInnen der Landesregierung die Gesamtausgaben für S21 auf bis zu 6,5 Milliarden Euro veranschlagt – aber ihr Gutachten verschwand im Archiv, weil der damalige Ministerpräsident (und heutige EU-Kommissar) Günter Oettinger kurz danach den Finanzierungsvertrag unterzeichnen wollte, der eine Obergrenze von 4,5 Milliarden vorsieht. Und unterschrieben hat.

Den S21-KritikerInnen blieb nur der öffentliche Protest. Ende 2009 begannen die Montagsdemonstrationen vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof, an denen regelmässig mehrere Tausend teilnehmen; es folgten Lesungen, Konzerte und Grosskundgebungen. Park­schüt­zer­In­nen besetzten den Stuttgarter Schlosspark (wo für S21 weitere Bäume fallen müssen). Ende September 2010 kam es zu einer gewalttätigen Polizeiaktion gegen demonstrierende SchülerInnen. Und im März 2011 erhielt die bis dahin unangefochten regierende Staatspartei CDU die Quittung – nicht nur für ihre S21-Politik. Aber auch dafür.

An die Stelle des rigorosen S21-Befürworters Stefan Mappus (CDU) rückte der nicht minder konservative, aber in Sachen S21 kritischere Winfried Kretschmann von den Grünen. Dieser hatte jedoch ein Problem: Er konnte nur der erste grüne Ministerpräsident eines deutschen Bundeslands werden, wenn seine Partei (die S21 grundsätzlich ablehnt) mit der SPD koalierte (deren Spitze S21 entschieden befürwortet). Es musste also ein Kompromiss her, und den ­fanden die KoalitionärInnen dann auch – in Form einer Volksabstimmung, die niemandem wehtut, weil sie kaum rechtliche Wirkung erzielen kann (vgl. Kasten).

Seltsame Schadensrechnung

Noch ist die Bevölkerung gespalten, wie die letzten Umfragen zeigen. Viel wird davon abhängen, wer mehr Leute mobilisieren kann – denn über S21 wird nicht nur im Grossraum Stuttgart (der besonders betroffen ist und wo die Bevölkerung die Kosten zu einem erheblichen Teil tragen soll) abgestimmt, sondern im ganzen Land. In der tiefschwarzen Provinz aber wollen viele vom Streit in der Landeshauptstadt nichts mehr wissen – zumal viele die Argumente der S21-BefürworterInnen für plausibel halten: Es seien schon jetzt 1,5 Milliarden Euro ausgegeben worden, betont beispielsweise der DB-Vorstand immer wieder. So viel Geld für den Ausstieg ausgeben? Wäre es da nicht besser, man baut das Ding jetzt endlich fertig?

So denken sie auf dem Land. Dabei ist die Zahl aus der Luft gegriffen. Die Bahn hat in ihre Schadensrechnung auch die Planungskosten für die Neubaustrecke Stuttgart –Ulm einbezogen (270 Millionen Euro), über die gar nicht abgestimmt wird, und auch den Grundstückshandel mit der Stadt Stuttgart als Geldverlust verbucht (über 700 Millionen samt Zinsen), obwohl der Gegenwert ja weiterhin vorhanden ist. Unabhängige Sachverständige beziffern die Kosten eines Ausstiegs auf 350 Millionen, ein Klacks im Vergleich zu den Gesamtkosten. Aber können die S21-GegnerInnen mit diesen Gutachten die auf ihre Sparsamkeit stolzen Menschen in Oberschwaben, auf der Schwäbischen Alb oder im Hohenlohischen überzeugen?

Dabei haben auch sie gute Kostenargumente. So ist zum Beispiel sicher, dass die von den Vertragsparteien vereinbarte Obergrenze der Gesamtkosten (4,5 Milliarden Euro) durchbrochen wird – das haben auch bahninterne Berechnungen gezeigt. Wer kommt dann für die Mehrkosten auf? Das ist noch ungeklärt. Eine Modernisierung des bestehenden und deutlich leistungsfähigeren Kopfbahnhofs käme da allemal billiger. Selbst eine Kombination der beiden Modelle (Beibehaltung des Kopfbahnhofs für den Regionalverkehr, abgespeckter Tunnelbahnhof für den Durchgangsverkehr), die der Schlichter Heiner Geissler und das Zürcher Verkehrsplanungsbüro SMA als Kompromisslösung vorschlugen, wäre weniger kostenträchtig. Doch auch das wollen die S21-BefürworterInnen nicht – denn dann stünden die innerstädtischen Flächen nicht zur Ver­fügung, auf die die ImmobilienspekulantInnen schon warten.

Die Landesregierung will sich auf jeden Fall an das Abstimmungsergebnis halten. Doch viele der Konfliktparteien denken nicht da­ran. Der DB-Vorstand hält es für die Bahn nicht für verbindlich, da er sich im Besitz aller Rechts­titel glaubt. Viele S21-GegnerInnen wiederum bezweifeln die Legitimität der Volksabstimmung, da die Bahn noch immer viele Fakten verschweigt. Renommierte JuristInnen sprechen sogar von Wählertäuschung und haben Gerichtsverfahren angekündigt.

Ist also die Abstimmung nur eine Alibi-Übung? So könne man es sehen, sagt der Konstanzer mit dem blauen Rollkoffer auf dem Bahnsteigmodell. «Auf jeden Fall aber dient sie dem grünen Ministerpräsidenten, der aus Koali­tionsgründen schon lange aus der Opposition gegen das Projekt aussteigen will.» Das sehen offenbar auch die Park­schüt­zer­In­nen so, die sich bereits auf die Ankunft der Bagger vorbereiten. Aber nicht nur sie rüsten sich für kommende Auseinandersetzungen. Die Stuttgarter Polizei sucht bereits Unterkünfte für 9000 auswärtige Po­li­zist­In­nen. Und lässt 200 Bürocontainer umbauen. Die sollen, falls demnächst das Camp im Stuttgarter Schloss­park geräumt wird, als Arrestzellen dienen. (pw)


Das hohe Quorum

Damit eine Volksabstimmung in Ba­den-Würt­tem­berg Rechtskraft erlangt, muss eine hohe Hürde überwunden werden – eine höhere als in allen anderen deutschen Bundesländern. So ist die Landesregierung nur dann zu einem Ausstieg aus der S21-Finanzierung gezwungen, wenn ein Drittel aller Stimmberechtigten dem Ausstiegsgesetz zustimmen. Das sind bei rund 7,5 Millionen Wahlberechtigten knapp 2,5 Millionen Menschen – und damit mehr, als bei der Landtagswahl im März für die Grünen und die SPD votierten: Eine schier un­erreichbar hohe Zahl.