Baden-Württemberg: Das grün-rote Programm

Ins grüne Grab

5. Mai 2011 | Mit ihrer Zustimmung zum grün-roten Regierungsprogramm verspielen die baden-württembergischen Grünen ihre Zukunft – sie werden die kommenden Probleme kaum bewältigen können.

Noch einen solchen Erfolg, und sie müssen Niederlagen nicht mehr fürchten. Was hatten die Grünen im deutschen Bundesland Baden-Württemberg sich und ihren WählerInnen nicht alles versprochen! Sie wollten das Land demokratischer gestalten, den Atomausstieg und den ökologischen Umbau vorantreiben, mit Gemeinschaftsschulen das Dreiklassensystem des Bildungswesens durchbrechen, durch eine umfassende Gebührenfreiheit Kindern von finanziell benachteiligten Familien den Besuch von Kinderkrippen ermöglichen und den öffentlichen Verkehr in der Fläche ausbauen. Einen tiefgreifenden Wandel hatten sie ins Auge gefasst, zumindest aber einen Politikwechsel – und damit einen sensationellen Wahlsieg eingefahren. Doch dann lassen sie sich von einer SPD, die bei der Landtagswahl im März das schlechteste Ergebnis aller Zeiten erzielte und nur auf Platz drei kam, die Butter vom Brot nehmen. Jedenfalls kam am Ende der Koalitionsverhandlungen für eine grün-rote Regierung nur ein Minimalprogramm heraus, das zwar so manche hehre Absicht erkennen lässt (Förderung der ökologischen Landwirtschaft, Aussaatverbot für gentechnisch manipulierte Pflanzen, Ausbau der Windenergie, Abschaffung der Studiengebühren und mehr Velowege), aber in wichtigen Fragen eine Festlegung vermeidet. Und auch kaum Konkretes benennt – mit der Folge, dass die grössere Koalitionspartei, die Grünen, demnächst noch manche Kröte schlucken muss.

War es Naivität gewesen oder mangelnde Erfahrung? Immerhin hatten die Grünen in Deutschland noch nie aus einer Position der Stärke heraus Koalitionsverhandlungen geführt. Fehlt es ihnen an geeignetem ministrablem Personal, wie manche glauben? Hatten ihnen die SozialdemokratInnen mit der Option eines schwarz-roten Regierungsbündnisses gedroht? Waren die grünen Biedermänner und -frauen, beseelt von ihrem überraschenden Wahlerfolg, mit viel zu weichen Bandagen in den Ring getreten? Oder hatten sie von Anfang an nur wachsweiche Kompromisse im Sinn, weil ihnen an einer Änderung der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse ohnehin nicht gelegen ist?

Wahrscheinlich spielten alle Faktoren eine Rolle. Denn anders ist kaum zu erklären, weshalb sie der Juniorpartnerin SPD sieben der zwölf Departements und praktisch alle Schlüsselressorts überliessen, darunter Finanzen und Wirtschaft, das Innenministerium, die Justiz und das Departement Arbeit und Soziales. Zwar wird die künftige Landesregierung vom konservativ-grünen Winfried Kretschmann angeführt, den Ton aber gibt die SPD an. Das demonstrierte beispielsweise eine kleine Episode vor zwei Wochen. «Weniger Autos sind natürlich besser als mehr», hatte Kretschmann in einem Zeitungsinterview gesagt – worauf ihm der künftige Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid unwidersprochen über den Mund fuhr: Wie jede baden-württembergische Landesregierung habe auch die nächste «Benzin im Blut», konterte der SPD-Landeschef. Das kann ja heiter werden.

Vor allem in einer entscheidenden Frage haben sich die Grünen gnadenlos über den Tisch ziehen lassen: die um die Zukunft des hart umkämpften Immobilien- und Bahnhofsprojekts «Stuttgart 21» (S21). Ihren Wahlerfolg verdanken die Grünen zu einem guten Teil dem Widerstand gegen den unsinnigen, teuren, gefährlichen und auf undemokratische Weise beschlossenen Untergrundbahnhof; immerhin gewannen sie in Stuttgart drei von vier Direktmandaten. Sie lehnen das Projekt auch weiterhin ab – mit gutem Grund. Schliesslich hatte Ende März sogar eine bahninterne Studie gleich 121 teils erhebliche Risiken aufgelistet und den möglichen Finanzbedarf für S21 auf über sieben Milliarden Euro geschätzt – rund drei Milliarden mehr als bisher veranschlagt.

Doch das (und all die anderen gravierenden Einwände) änderte nichts an der Haltung der SPD-Spitze, die – anders als ein Teil ihrer Basis – den Tunnelbahnhof entschieden befürwortet. In zähen Verhandlungen rang sie den Grünen weitreichende Zugeständnisse ab. Und so wird, falls die in der S21-Schlichtung vereinbarte Effizienzprüfung des geplanten Bahnhofs – der sogenannte Stresstest – positiv verläuft, die Bevölkerung entscheiden. Nicht die Bevölkerung von Stuttgart, sondern die des ganzen Landes. Und die BürgerInnen werden nicht mit einem einfachen Mehr das Projekt ablehnen können. Die baden-württembergische Verfassung verlangt, dass mindestens ein Drittel aller Wahlberechtigten (rund 2,5 Millionen Menschen) das Vorhaben verwirft. Dieses Quorum – es hat vor allem den Zweck, eine Mitsprache der Bevölkerung zu verhindern – ist kaum zu schaffen. Eine Senkung dieser Messlatte aber lehnen SPD und CDU, die einer Verfassungsänderung zustimmen müssten, rundweg ab.

Damit bleibt den Grünen nur der Ausweg über ein negatives Stresstestergebnis. Da dieser Test jedoch bahnintern absolviert wird, also nicht öffentlich überprüft werden kann, ist das Ergebnis absehbar. Und so kann es sein, dass Ende September wieder eine Landesregierung die Polizei auf S21-GegnerInnen hetzt – nur dass es dann eine grün-rote Regierung sein wird, die sich auf diese Weise das eigene Grab schaufelt. Nicht nur politisch, sondern auch finanziell. Eine neue Analyse der komplexen Vertragsverhältnisse (in einem Videoclip auf www.kopfbahnhof-21.de anschaulich dargestellt) zeigt, wer die Milliarden für die Untertunnelung Stuttgarts zahlt: nicht der Bund und nicht die Bahn. Sondern das Land und die Stadt. Und beiden fehlt dann das Geld für den nötigen sozial-ökologischen Umbau. (pw)