Deutschland: Schröders Abgang
Null Bock bei Rot-Grün
26. Mai 2005 | Dass die Regierung ein Jahr vor Amtsende den Bettel hinwirft, grenzt an Politikverweigerung.
Die deutsche Bundesregierung ist schon lange vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (NRW) auf den Hund gekommen. Wer daran zweifelte, brauchte in den letzten Wochen nur die Zeitung aufzuschlagen. Zwei kleine Begebenheiten zeigten, wohin das Land unter Rot-Grün und mit tätiger Beihilfe der konservativ-liberalen Parteien geraten war. Erstes Beispiel: der Verkauf von billigen Bahnfahrkarten beim Lebensmitteldiscounter Lidl. Ausgerechnet diese Billigkette, die ihre Beschäftigten noch schlechter behandelt als die anderen Discounter, hatte die bundeseigene Bahn AG ausgesucht, um eine Million Fahrkarten unters Volk zu bringen.
Das Ergebnis war am letzten Donnerstagmorgen zu sehen: Schon ab fünf Uhr morgens standen über hunderttausend Menschen vor den 2600 Lidl-Filialen Schlange, eine Stunde nach Ladenöffnung waren die billigen Fahrkarten weg, aber immer noch standen Zigtausende vor der Tür. Merke erstens: Wer die Ware so verknappt, kriegt auch in der reichen Bundesrepublik DDR-Verhältnisse hin. Merke zweitens: Wer den Schaden hat und etwa als Langzeitarbeitslose nicht genug Geld für längere Bahnreisen, muss sich nicht wundern, wenn er oder sie auch noch verhöhnt wird. Merke drittens: Auch unter Rot-Grün darf der Markt alles, besonders dann, wenn er von staatseigenen Unternehmen so gefüttert wird. Verdient an der Aktion hat übrigens vor allem einer: Lidl-Eigner Dieter Schwarz.
Zweites Beispiel: die grosse Rechnung der Apotheken. Im Zuge der von einer faktischen Allparteien-Regierung in Berlin (SPD/CDU/CSU/FDP/Grüne) durchgepeitschten Gesundheitsreform war den ApothekerInnen ein Schlupfloch zugesichert worden. Alle sollten bluten, hatte Rot-Grün einst versprochen – die ÄrztInnen, die Pharmaindustrie, die ApothekerInnen, die Kassen, die PatientInnen. Übrig geblieben sind die Kranken. Denn die Apotheken erhoben vor zwei Wochen eine Forderung in Höhe von 390 Millionen Euro. So viel hatten sie verloren, weil sie weniger rezeptpflichtige Medikamente verkauften.
Dass die Kranken, vom Gesetz dazu gezwungen, mehr nichtrezeptpflichtige Arzneien aus eigener Tasche bezahlten und damit den Apothekenumsatz förderten, interessierte die Standesorganisation wenig. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) konnte die Forderung zwei Tage vor der Landtagswahl zwar auf ein Zehntel herunterhandeln, aber da hatte sich der Skandal bereits herumgesprochen: Die einen zahlen immer mehr, die anderen profitieren.
Reformunfreudig ist die Bevölkerung nicht. Sie blickte sogar hoffnungsfroh auf eine Reihe von Veränderungen, nur das Ergebnis war nicht danach. Die Strommarktliberalisierung, die Monopole zerschlagen und den Energiebezug billiger machen sollte, endete mit neuen Monopolen und höheren Strompreisen. Die zum Börsengang verdonnerte Bahn AG ruinierte ihren Ruf durch Streckenstilllegungen, Investitionskürzungen und chaotische Preisgestaltung (das war noch vor dem Marketing-Gag mit Lidl). Die Arbeitsmarktreformen brachten statt der erhofften Arbeitsplätze nicht nur drastische Kürzungen für die Ärmsten, sondern haben – welch ein Treppenwitz – auch noch die staatlichen Ausgaben, die eigentlich reduziert werden sollten, um zehn Milliarden Euro in die Höhe getrieben. Und so weiter, und so fort.
Spätestens nach dem Wahldesaster vom Sonntag hätte eine SPD, die das Land weiter regieren will, weil sie den «Sozialstaat erhalten» will (SPD-Originalton), das Ruder herumwerfen müssen. Aber was tut sie? Sie gibt einfach auf. Anders kann man die Ankündigung von SPD-Chef Franz Müntefering, einen Wahlkampf mit den Schwerpunkten «Agenda 2010» und «Fortsetzung des Reformkurses» führen zu wollen, nicht verstehen. Rot-Grün setzt also just auf jene Themen, die sie in NRW die Mehrheit gekostet haben. Ausserdem beraubt die SPD mit ihrem Vorschlag von einer vorgezogenen Wahl ihre WählerInnen um all die kleinen Zustupfe, die normalerweise vor einer Wahl vergeben werden: Nachbesserungen bei Hartz IV zugunsten der Arbeitslosen, kleine – aber für die Betroffenen wichtige – Korrekturen am Gesundheitsgesetz, Stopp weiterer Privatisierungen. Nun wird ein Durchmarsch draus: Die nächste Regierung wird in ihren ersten zwei Amtsjahren weiter auf die Lohnabhängigen und Erwerbslosen einprügeln.
Dabei kam Münteferings Kapitalismuskritik gut an. Sie traf ein in der Bevölkerung weit verbreitetes Unbehagen über den Zustand der Gesellschaft. Allerdings litt sie – zu Recht – unter dem Ruf, nur Wahlkampfgeplänkel zu sein. Hier hätte die SPD jetzt ansetzen können. Sie hätte fünfzehn Monate lang demonstrieren können, dass sie aus den Fehlern ihrer bisherigen Politik gelernt hat und endlich gegen die allerschlimmsten Auswirkungen des Kapitalismus vorgehen will. Sie hätte zeigen können, dass es ihr tatsächlich um das Wohl der kleinen Leute geht. Sie hätte, da es ohnehin nichts zu verlieren gibt, ungeachtet von Meinungsumfragen, Medienberichten, Unternehmerdruck und Oppositionsgeschelte zumindest einen Kurswechsel versuchen und auf alternative Wirtschaftsprogramme setzen können. Schon die letzte Bundestagswahl hatte Rot-Grün nur dank besonderer Umstände (Oderflut, Irakkrieg) gewonnen.
Also warum nicht? Hat Gerhard Schröder keine Lust mehr? Haben sich die Kabinettsmitglieder ausgerechnet, dass sie durch einen solchen Kurswechsel möglicherweise hoch dotierter Gastvorträge bei Industriellenverbänden verlustig gehen, mit denen selbst abgehalfterte PolitikerInnen noch eingebunden werden? Die Wahrheit ist viel schlimmer: Die rot-grüne Koalition hat kein Ziel, keine Vision, keinen Schnauf mehr. Weil sie mittlerweile selber in der Falle der angeblichen Alternativlosigkeit zum neoliberalen Mainstream zappelt, die sie für die Bevölkerung aufstellte, um ihre Politik zu rechtfertigen. (pw)