Buchkritik: «Zwischen Flow und Narzissmus»
Stabilisierungsversuche in der Senkrechten
8. Oktober 2014 | Was treibt Menschen in die Berge? Die Bewegung, die Natur, der spielerische Umgang mit dem Risiko. Was aber zwingt ExtrembergsteigerInnen zu ständig neuen Höchstleistungen?
Es musste natürlich wieder ein Rekordversuch sein. Auf dem Gipfel des Shisha Pangma (8013 Meter) war Ueli Steck, der Schweizer Extrembergsteiger, zwar schon gewesen. Aber innerhalb von sieben Tagen gleich zwei Achttausender zu bezwingen (neben dem Shishma Panga auch den 8201 Meter hohen Cho Oyu), die 170 Kilometer zwischen den beiden Bergen per Mountainbike zu bewältigen und jeweils mit Skiern abzufahren – das hatte vorher noch niemand geschafft.
Doch dann kam, was oft kommt an den ganz hohen Bergen: Kurz unterhalb des Gipfels des Shisha Pangma löste sich vor zwei Wochen eine Lawine, die drei von Stecks vier Kollegen unter sich begrub. Zwei von ihnen – beides erfahrene und renommierte Höhenbergsteiger – überlebten den Lawinenabgang nicht. Einfach Pech gehabt? Nicht ganz: Kaum eine Sportart ist so gefährlich wie der Extremalpinismus, und das wissen die Mitglieder der von Neid, Konkurrenzdenken und Egomanie zerfressenen Szene ja auch. Warum reihen sie trotzdem ein lebensbedrohliches Unterfangen ans andere? Weshalb jagen sie Rekorden hinterher? Welche Sucht treibt sie dazu, gleich nach einer überstandenen Tour das nächste, noch gefährlichere Abenteuer anzugehen?
Sicher, die Rekordlust liegt auch an unserer sensationsversessenen Medienwelt, die nur noch Spitzenleistungen registriert – und viele der ExtrembergsteigerInnen arbeiten als Profis. Sie müssen sich vermarkten, und dazu brauchen sie Schlagzeilen. Sie müssen Bücher veröffentlichen, Vortragssäle füllen, ihre Sponsoren bei Laune halten. Aber geht es nur darum?
Der Psychologe und praktizierende Psychotherapeut Manfred Ruoß hat darüber ein Buch geschrieben, das zu den besten und lohnendsten Werken der jüngeren Alpinliteratur gehört. Ruoß ist selber erfahrener Alpinist (auch wenn er sich etwas arg bescheiden als «alpinistischer Universaldilletant» bezeichnet) und er ist noch immer viel in den Bergen unterwegs – weil er «die Jahre, in denen andere Leistungssport betreiben, gelenkschonend in finsteren Kneipen zugebracht» hat. So locker und so selbstironisch beschreibt er im Buch die eigenen Erfahrungen am Berg und auf Expeditionen zu Sechs- und Siebentausendern: Was treibt mich, wie verkrafte ich ein Scheitern, wie ändern sich Menschen, die sich (zu) hohe Ziele gesteckt haben. Oder, allgemeiner ausgedrückt: Müssen wir über Grenzen hinausgehen, um bestehen zu können (was uns die marktradikalen ApologetInnen des neoliberalen Kapitalismus laufend predigen)?
Das kurze Glücksgefühl
Die eigenen Erlebnisse und Selbstzweifel bilden einen wichtigen Teil des Buchs, das mit einer längeren, gut verständlichen theoretischen Abhandlung beginnt. Neben den elementaren Grundbedürfnissen Essen, Trinken, Schlafen benötigt der Mensch, so Ruoß, für sein Überleben auch die Befriedigung anderer Bedürfnisse (nach Bindung, nach Orientierung und Kontrolle, nach Lustgewinn und nach Selbstwertstabilisierung), um sich psychisch entwickeln und stabilisieren zu können. Wir sind stets bestrebt, «Zustände herzustellen, in denen diese Bedürfnisse befriedigt sind». Das (normale) Bergsteigen ist ein probates Mittel dafür: die gemeinsame Anstrengung, das Glücksgefühl auf dem Gipfel, die Freude am Erfolg.
Allerdings hält das Vergnügen, das ein gelungener Bergtag bereitet, nicht bei allen an: Es verschwindet schon beim Abstieg wieder. Für diese Menschen ist das Bergsteigen eine Sucht, ein Zwang – weil sie ein als minderwertig empfundenes Selbst mit sich herumtragen, unter psychischen Spannungszuständen leiden oder glauben, sich und anderen durch immer neue Höchstleistungen etwas beweisen zu müssen. Mitunter zeigt sich bei diesen ExtremistInnen ein rücksichtsloser Narzissmus, der – so Ruoß – «besonders bei Führungsfiguren in Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft» verbreitet ist.
Gefährliche Vorbilder
Woher kommt die Ruhelosigkeit? Was löst die unerträglich grossen Anspannungen aus, die manche der bekanntesten HöhenbergsteigerInnen offenbar nur mit Hilfe von starken Reizen (extreme Kälte, Ausgesetztheit, grosse Höhe, ständige Absturzgefahr) bewältigen können? Das zeigt Ruoß anhand von dreizehn Einzelbeispielen und einer Randnotiz zu Reinhold Messner (dem ersten Menschen auf allen Achttausendern). Seine Kurzbiografien reichen von Edward Whymper (dem Erstbesteiger des Matterhorns) bis Hermann Buhl (dem Erstbesteiger des Nanga Parbat), von Ricardo Cassin über Reinhard Karl, Andy Kirkpatrick, Gerlinde Kaltenbrunner, Stephan Siegrist bis Ueli Steck – sie stützen sich alle auf Selbstaussagen in Büchern, die in renommierten Bergverlagen erschienen sind.
Auf Basis dieser Texte attestiert der erfahrene Therapeut den «Berghelden» unserer Zeit schwere psychische Störungen, narzisstisches Handeln, autistische Züge, zwanghaftes Leistungs- und Konkurrenzdenken, Borderline-Tendenzen und (bis auf Kaltenbrunner) mangelnde Empathie. Woher kommt das? Ruoß' These, die er ausführlich und plausibel belegt: Es waren Misshandlungen und Missachtungen in der Kindheit, materielle und emotionale Deprivation – durch fehlende Mütter oder Väter, durch repressiv-herabsetzende Erziehung – und frühkindliche Instabilität, die viele der bekannten HöhenbergsteigerInnen in Extremsituationen treiben. Weil sie nur dann eine kurzfristige Selbstwertstabilisierung erleben.
Dass ausgerechnet diese beschädigten Menschen von Managern und PolitikerInnen als Vorbilder gefeiert und zu Rate gezogen werden, passt zwar in unsere leistungsgeile Gesellschaft, ist aber – so Ruoß – «nutzlos bis gefährlich». Nutzlos, weil bergsteigerisches Denken «kein Modell für komplexe Alltagsentscheidungen» sein kann. Und gefährlich, weil die Narzissten in den Führungsetagen zwar genauso «vom persönlichen Erfolg um jeden Preis besessen» sind wie Bergsteiger – im Unterschied zu diesen aber ganze Volkswirtschaften ruinieren können.
Auch wenn sich am Ende die Wiederholungen häufen: Das Buch steckt voller Erkenntnisse. Zum Beispiel darüber, wie leicht sich «Berghelden» für politische Zwecke missbrauchen liessen (während der Nazizeit etwa), und dass es nicht die gehetzten Frühaufsteher sind, die gesellschaftliche Entwicklungen vorantreiben. Auf jeden Fall können wir FreizeitbergsteigerInnen uns nach der Lektüre ein bisschen trösten: Wir schaffen es zwar auf keine Achttausender und erleben die Bergwelt nur wandernd oder an mehr oder weniger einfachen Viertausendern. Aber dafür sind wir psychisch zumeist einigermassen beieinander. (pw)
Manfred Ruoß: «Zwischen Flow und Narzissmus. Die Psychologie des Bergsteigens.» Hans Huber Verlag. Bern 2014. 282 Seiten. 24.95 Euro.