Buchkritik: «Im Kältefieber»
Ein literarisches Denkmal für den Widerstand
13. August 2014 | Wer erinnert sich noch an den kurzen österreichischen Bürgerkrieg 1934? Eine Anthologie tut das auf bemerkenswerte Weise.
Fritz Propst kann nichts mehr erzählen. Über Jahrzehnte hinweg hat er berichtet: von der radikalen sozialdemokratischen Lokalpolitik im Roten Wien der zwanziger Jahre, vom damals aufkommenden Austrofaschismus, von den geplanten Gegenmassnahmen der Arbeiterbewegung, von den verzweifelten Abwehrkämpfen im Februar 1934 und vom schändlichen Verrat der sozialdemokratischen Führungsspitze. Propst, der damals im Alter von achtzehn Jahren mit einer Handvoll junger GenossInnen und bewaffnet mit ein paar Pistolen ein Arbeiterjugendheim verteidigte, schrieb Artikel, gab Interviews, veröffentlichte Statements wider das Vergessen, forderte immer wieder die öffentliche Benennung der Schuldigen, publizierte zwei Bücher und referierte vor Schulklassen. Das kann er nun nicht mehr. Ende April starb der Sozialdemokrat, den die Februarereignisse von 1934 zu einem dauerhaften Mitglied der KPÖ machten, im Alter von 98 Jahren.
Aber dafür erzählt nun ein Buch. Es ist kein Geschichtsband, keine historische Analyse, sondern ein höchst anschauliches, vielschichtiges, packendes und in seiner Wirkung wuchtiges Werk: Ein Lesebuch, das vierzig Geschichten, Erzählungen und Romanauszüge umfasst, die alle Facetten des ArbeiterInnenwiderstands gegen den autoritären Ständestaat von Engelbert Dollfuss schildern. Es handelt von der Hoffnung, die es am Anfang gab, von der tiefen Enttäuschung, als der versprochene Generalstreik ausblieb, von der verzweifelten Entschlossenheit (bei der Verteidigung der städtischen Arbeiterbauten, vom Hass, der den Kämpfenden entgegenschlug, von der Wut über die sozialdemokratische Führung, die stets nur den Rückzug gepredigt hatte – und sich dann absetzte. Und es beschreibt die trotzige Trauer nach der Niederlage, weil die bessere Zukunft gescheitert war, weil viele im Widerstand starben, weil Genossen danach gehenkt wurden. Trotzdem macht das Buch Mut: Auch angesichts der reaktionären Übermacht gab es damals Menschen, die sich nicht alles gefallen lassen wollten.
Achtzig Jahre später
Rund achtzig Jahre lang dauere nach Ansicht von Erinnerungsexperten das kollektive Gedächtnis an, schreibt Erich Hackl, Mitherausgeber des jetzt erschienenen Sammelbands «Im Kältefieber. Februargeschichten 1934». So lange in etwa würden Geschichten «innerhalb einer Familie oder Sippe mündlich weitergegeben, bis [das Gedächtnis] mit dem Tod der ältesten Generation erlischt».
Und er nennt in seinem Vorwort noch einen weiteren Grund dafür, dass jetzt – achtzig Jahre nach den Kämpfen von 1934 – dieses Buch erscheinen musste. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den damaligen Ereignissen habe, so Hackl, nach einem kurzen Höhepunkt in den achtziger Jahren immer mehr nachgelassen und sei einer Pauschalisierung gewichen: Die allermeisten ÖsterreicherInnen, so hiess es nach der internationalen Debatte um den Wehrmachtsoffizier, Uno-Generalsekretär und späteren Bundespräsidenten Kurt Waldheim, hätten sich für Hitler begeistert. Und die wenigen anderen seien halt Leidtragende gewesen.
Als habe es nur Täter und Opfer gegeben, und sonst nichts: «Keinen Widerstand, keinen Klassenkampf, keine Bewegung, keinen Freiheitswillen», schreibt Hackl, sondern «lediglich, in einer Rückprojektion der eigenen stumpfbürgerlichen Misere, eine Gesellschaft, die als unabänderbar, ja unheilbar abzuschreiben ist, weswegen jede und jeder beanspruchen darf, sich dem bestehenden Unrecht durch Karrierismus anzupassen».
Dabei gab es ja Opposition. Von der wohl wichtigsten kollektiven Aktion der österreichischen Arbeiterklasse handelt dieses Buch. Sie begann, als sich am 12. Februar in Linz Mitglieder des (1933 verbotenen) sozialdemokratisch-republikanischen Schutzbunds, der (ebenfalls verbotenen) KPÖ und der (kurz darauf verbotenen) Sozialdemokratischen Arbeiterpartei SDAP einem Sturm der Armee und der klerikal-faschistoiden paramilitärischen Heimwehr entgegen stellten, und sie endete ein paar Tage später mit dem Sieg der reaktionären Kräfte.
Viele Neuentdeckungen
Diesen WiderständlerInnen setzt dieses Buch ein in mehrerlei Hinsicht bemerkenswertes Denkmal. Erstens sammelten die HerausgeberInnen Hackl und Evelyne Polt-Heinzl grossartig geschriebene literarische Texte (inklusive Zeitungsreportagen wie jener von Ilja Ehrenburg). Zweitens haben sie Werke von AutorInnen ausgegraben, an die sich – falls sie jemals bekannt waren – niemand mehr erinnert. Und drittens werden durch die Erzählungen auch reale Personen wieder lebendig, die man nie hätte vergessen dürfen.
Denn da war beispielsweise der Maschinist Kunz, der – beschrieben von Franz Leschanz – mit einem Maschinengewehr das sozialdemokratisches Parteilokal von Linz verteidigte und als erster fiel. Da taucht Prezihov Voranc wieder auf, der in jenen Februartagen die ersten Manuskripte der neuen slowenischen StudentInnenzeitung «Punt» (Aufstand) quer durch das umkämpfte Wien zur Druckerei trug. Da schildert der spätere Nazigegner und KZ-Häftling Tibor Déry das fiebrige Engagement der revolutionären Evi aus Budapest. Da blickt Robert Neumann, wie viele AutorInnen ein Zeitzeuge und Mitkämpfer, auf eine Liselotte Lewy, Tochter einer wohlhabenden Textilfabrikantenfamilie und in weichen Betten aufgewachsen. Die kam erst am dritten Tag des kurzen Bürgerkriegs auf die Welt – als sie begriff, dass sie allein aufgrund ihrer Herkunft einer gnadenlosen Rache entgangen war. Und endlich bekommen wir einmal (in mehreren Beiträgen, darunter von Anna Seghers) einen Eindruck vom grossen Grazer Rebellen Koloman Wallisch, den die kleinen Leute liebten, wer er stets auf ihrer Seite stand. Als die grosse Abwehrschlacht begann, kämpfte der sozialistische Nationalsratsabgeordnete, der sich 1919 an der Ungarischen Räterepublik beteiligt hatte, mit seinen GenossInnen in der Gegend von Bruck an der Mur – und wurde sechs Tage nach Beginn der Revolte von den Siegern in Leoben standrechtlich zum Tode verurteilt – und am Würgegalgen stranguliert.
Die Texte sind, soweit das ging, chronologisch geordnet (man versteht also die zeitliche Abfolge, obwohl eine knappe Zusammenfassung der Abläufe und politischen Zusammenhänge dem Buch gut getan hätte). Sie beschreiben nicht nur die Kämpfe in Wien, sondern auch die Ereignisse in rebellischen Provinzstädten. Sie zeichnen ein lebendiges und ziemlich realistisches Bild von den sozialen und politischen Verhältnissen damals in Österreich. Denn eins darf man nicht übersehen: Abgesehen vom Kampf des Proletariats von Parma gegen Mussolinis Sturmtruppen (im August 1922) waren die österreichischen ArbeiterInnen die ersten in Europa, die sich dem Faschismus widersetzten.
Schade nur, dass Fritz Propst dieses hervorragende Buch nicht mehr lesen konnte.(pw)
Erich Hackl, Evelyne Polz-Heinzl (Hg.): «Im Kältefieber. Februargeschichten 1934». Picus Verlag. Wien 2014. 327 Seiten. 22.90 Euro.
Weitere Infos
Einen guten Überblick über die Hintergründe, den Verlauf und Folgen der Februarkämpfe bietet die Webseite «12Februar1934». Sie enthält neben einer Chronologie, zahlreichen Fotos, einer Liste weiterführender Literatur und nützlichen Links auch eine inter-aktive Karte der Februarkämpfe in Linz.