Buchkritik: «Der Erste Weltkrieg»
Macht und Inkompetenz
11. August 2014 | Kann man epochale Auseinandersetzungen wie den Ersten Weltkrieg auf wenigen Seiten fundiert beschreiben? Der Historiker Volker Berghahn hat das geschafft.
Mindestens zwanzig Millionen Tote, etwa ebenso viele, oft bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Verletzte, ganze Armeen, die an den vielen Fronten buchstäblich verbluteten, Hungersnöte, Massenstreiks, später der Kollaps von drei Monarchien und des Osmanischen Reichs, Revolutionen in Mittel- und Osteuropa (darunter zwei in Russland 1917), schliesslich ein fataler Friedensvertrag und neue Staaten auf dem Balkan sowie im Nahen Osten, deren Grenzverlauf bis heute das Weltgeschehen prägt: Der Erste Weltkrieg war in der Tat die «Urkatastrophe» (so der US-amerikanische Historiker George F. Kennan) des 20. Jahrhunderts. Mit ihr beschäftigen sich seit Jahren zahllose HistorikerInnen, die pünktlich zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns dicke Bücher publiziert haben. Aber wer soll die alle lesen?
Der Historiker Volker Berghahn, Professor an der Columbia University (New York), nahm einen anderen Weg und hat jetzt die wesentlichsten Aspekte der epochenbestimmenden Ereignisse von 1914 bis 1918 auf Basis jüngster Erkenntnisse in einem Büchlein von 110 Seiten zusammengefasst. Er schreibt darin beispielsweise, dass die jetzt wieder vielfach kolportierte Kriegsbegeisterung eine Erfindung der staatlich gelenkten Propaganda war – in etlichen deutschen Städten hatte es zu Kriegsbeginn Friedensdemonstrationen gegeben. Erst als es der kaiserlichen Regierung gelang, Russland als Angreifer darzustellen, habe man «die deutsche Arbeiterschaft für einen patriotischen Verteidigungskampf gegen die zaristische Autokratie» mobilisieren können.
Berghahn berücksichtigt bei seiner Analyse die neuesten Forschungsergebnisse der Geschichtswissenschaft und beantwortet auch die Kriegsschuldfrage. Er geht zwar nicht so weit wie der deutsche Historiker Fritz Fischer in den sechziger Jahren, der die These von der deutschen Hauptschuld schon im Titel seines Hauptwerks («Griff nach der Weltmacht») formulierte, macht sich aber nicht den in Deutschland derzeit sehr populären Ansatz des australischen Historikers Christopher Clark zu eigen. Dieser verteilt in seinem Werk «Die Schlafwandler» die Schuldfrage einigermassen gleichmässig auf alle Hauptkriegsparteien.
Im Unterschied zu Clark und andern setzt der 1938 geborene Berghahn nicht auf der Ebene der aussenpolitischen Diplomatie und deren katastrophalen Fehleinschätzungen an (die er durchaus beschreibt), sondern bezieht auch die damals herrschenden sozialen Verhältnisse und die sich innenpolitisch zuspitzenden Auseinandersetzungen mit ein. In welcher Absicht, mit welchen gross herumposaunten Kriegszielen und mit welchen Tricks hatten die Herrschenden seinerzeit versucht, sich die Zustimmung der Massen zu sichern, ohne die das grosse Massaker nicht möglich gewesen wäre?
Vieles ist mittlerweile all jenen bekannt, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigen. Den SpezialistInnen erzählt Berghahn wahrscheinlich nichts, was diese nicht wussten. Dass damals keine der europäischen Grossmächte wirklich vorbereitet war, dass ausgerechnet Militärstrategen (wie 89 Jahre später beim Irakkrieg) vor dem Waffengang warnten, dass die Konsequenzen einer durchindustrialisierten Kriegsführung verheerend ausfielen – all das ist nicht neu.
Und doch beeindruckt Berghahns Zusammenfassung. Weil er nicht nur die oft aberwitzigen Kriegsziele, die Positionen der Wirtschaftseliten, die sich ab dem dritten Kriegsjahr zuspitzenden innenpolitischen Widersprüche beschreibt. Sondern weil er auch die Totalisierung des Kriegs an der Front und die desaströsen Zustände an der «Heimatfront» eindrücklich zu schildern versteht. Und wie er – man spürt seine Empörung – die Arroganz und den Dünkel, die unglaubliche Inkompetenz und die enorme Korruptheit der militärischen Befehlshaber jedweder Couleur geisselt! Wem seine Sympathie gehört, ist unverkennbar.
Natürlich weist ein Buch, das so komplexe und oft widersprüchliche Prozesse auf so knappem Raum zusammenfasst, Lücken auf. Das für den Nahen Osten enorm folgenreiche Sykes-Picot-Abkommen von 1916 erwähnt Berghahn ebenso wenig wie die Geschehnisse ausserhalb Europas. Aber wer rasch einen Überblick gewinnen will, wird mit dem Buch bestens bedient. (pw)
Volker Berghahn: «Der Erste Weltkrieg». C.H.Beck Verlag. München 2014. 110 Seiten. 8.95 Euro.