Buchkritik: Neue Berg- und Wanderbücher
Mit und ohne Seil
2. September 2004 | Eine einsame Route auf den Piz Palü, eine Nordwand im Bergell, ein Antifaschist in den Bergen, Alpinwandern mit dem SAC – es gibt wieder viele interessante Bergbücher.
Auch Kulturevents haben mitunter ihre gute Seite – besonders dann, wenn der Event auf 3000 Meter Höhe stattfindet und aus einem Film besteht, der das Leiden und die Gefahr am Berg hautnah schildert. So gesehen war es recht verdienstvoll, dass der Kur- und Verkehrsverein Pontresina Ende Juli am Berghaus Diavolezza in frischer Luft und Eiseskälte den Streifen «Touching the Void» vorführte: Zwei britische Bergsteiger erobern einen Gipfel in den Anden, beim Abstieg bricht sich einer ein Bein, stürzt anschliessend in eine Spalte, der andere kappt das Seil, doch der Verletzte kann ins Tal robben ... Eine haarsträubende Geschichte mit einem guten Ausgang, auch für uns. Denn um Mitternacht fuhren die allermeisten BesucherInnen des Openairkinos wieder mit der Gondel ins Tal – und so drängten sich vier Stunden später nur noch rund siebzig Leute um die Frühstückstische der Bergstation.
Man sieht: Der Piz Palü (3901 Meter über Meer) ist überaus beliebt, der Normalweg entsprechend überlaufen. Noch schöner aber ist der Anstieg über den östlichen der drei Nordwandpfeiler. Denn nach einer guten Stunde verlässt man die breit getretene Gletscherspur, quert hinüber zum schwierigen, aber festen Fels, klettert über diesen fast einsam empor und verlässt den Pfeiler über eine exponierte Firnschneide zum Ostgipfel. Eine wunderschöne Tour, über die schon viel geschrieben wurde – aber selten so ausführlich, so begeisternd und so schön bebildert wie im neuen Führer «Hochtouren Ostalpen», der jetzt im Münchner Bergverlag Rother erschienen ist.
In ihm beschreiben die beiden Autoren Edwin Schmitt und Wolfgang Pusch neunzig Fels- und Eistouren zwischen Monte Disgrazia in den Bergeller Bergen und Grossglockner in den Hohen Tauern, und nicht alle Wege sind so schwer wie der über den Ostpfeiler des Piz Palü. Ein Buch zum Schmökern, das mit Anstiegsskizzen, Routenangaben, Farbfotos der Planung dient, viele Ideen liefert - und all jene Schweizer BergsteigerInnen, für die die Alpen östlich der Landesgrenze aufhören, zu Fahrten in eine ihnen unbekannte Bergwelt einlädt. Denn auch am Ortler, in den Ötztaler Alpen oder in der Stubaier-Gruppe sind – etwas Bergerfahrung vorausgesetzt – schöne Hochtouren zu machen.
«Hochtouren Ostalpen» berücksichtigt auch die Folgen der Klimaveränderung. So haben die Autoren manche klassische Tour ausgeklammert, weil sie durch Steinschlag oder Eisbruch objektiv zu gefährlich geworden ist. Ganz aktuell sind ihre Beschreibungen allerdings nicht immer: Der Anstieg zur Fuorcla Prievlusa, über den der Biancograt auf den Piz Bernina erreicht werden kann, verlaufe über einen «steilen Firnhang», heisst es in dem Buch – obwohl schon vor Jahren BergführerInnen einen Klettersteig unter der Fuorcla eingerichtet haben, weil über den «Firnhang» jeden Morgen Steine poltern. Dafür ist die Beschreibung der Zufahrt zum Monte Disgrazia ganz hervorragend; ohne sie hätten wir vor einiger Zeit den Weg Richtung Rifugio Ponti kaum gefunden.
Im gleichen Verlag ist jetzt auch die siebte, völlig überarbeitete Ausgabe des Gebietsführers Bergell «für Wanderer, Bergsteiger und Kletterer» von Paul Nigg erschienen. Nigg, lange Zeit Leiter der Bergsteigerschule Pontresina, gilt als einer der besten Kenner der Bergeller Berge. Er hat dort etliche schwierige Kletterrouten erstmals begangen. Er erläutert die wichtigsten Anstiege über wuchtige Kanten und plattige Wände, schildert aber auch die eher gemächlichen Wanderwege wie den Sentiero Alpino auf Schweizer Seite und den Sentiero Roma auf italienischem Gebiet. Derzeit gibt es keinen aktuelleren Führer über die Bergeller Berge auf dem Markt (auch wenn die grafische Gestaltung der Topos, der Kletterskizzen, mit denen des SAC-Clubführers nicht ganz mithalten kann).
Und so haben ihn auch manche dabei, die seit Jahr und Tag den Piz Badile belagern. Sie kommen von überall her, aus Schottland wie aus Tschechien, aus den USA wie aus Spanien, um vor allem eine Route durch «eine der berühmtesten Nordwände der Alpen» (Nigg) anzugehen: die Cassin-Führe. Durch die Wand führen mittlerweile zwar schönere und sicherere Routen, aber Riccardo Cassin, einer der besten Bergsteiger des vergangenen Jahrhunderts, gilt auch heute noch als Massstab. Er hatte die Wand unter dramatischen Umständen als Erster gemeistert und die Tour mehrfach wiederholt – zuletzt im Alter von 78 Jahren.
Cassin war als junger Arbeiter in Lecco am Comersee schon früh in die Berge gezogen: oft erst am Samstagnachmittag, wenn er vom Patron freibekam, manchmal auch am Sonntag in aller Frühe. Die Badile-Nordostwand (damals ein «ungelöstes Problem») reizte ihn besonders. Und so stieg er 1937 mit Gino Esposito und Vittorio Ratti in die Wand. Eine zweite Seilschaft, die bereits unterwegs war, schloss sich ihnen an. Die Gruppe wurde von Schlechtwetter und Steinschlag überrascht, Gewitter und Schneefall zermürbten die bereits angeschlagenen Begleiter Mario Molteni und Giuseppe Valsecchi. Beim Abstieg starben die beiden an Erschöpfung.
Cassin schildert diese Tragödie in seinem jetzt erschienenen Buch «Erster am Seil». Er beschreibt darin auch seine anderen grossen Erstbegehungen, etwa durch die Nordwand der Westlichen Zinne in den Dolomiten, über den Walker-Pfeiler auf die Grand Jorasses, durch die Südwand des Mount McKinley. Viele, die mit ihm geklettert waren, kamen in den Bergen um – oder im Partisanenkampf, dem sich Cassin und seine Freunde angeschlossen hatten (Ratti zum Beispiel starb bei den letzten Kampfhandlungen in Lecco im April 1945). «In die Berge geht man, um frei zu sein. Ohne Freiheit gibt es keinen Alpinismus mehr» – mit diesen Worten eines Freunds erklärt Cassin sein Engagement bei der Gruppo Rocciatori della Brigata Lecco. (Im AS-Verlag sind in letzter Zeit mehrere solch ausgezeichnet editierter Biografien erschienen.)
Nigg im Kletterrucksack, Cassin im schweren Gepäck – und doch wäre die Bergell-Sammlung nicht komplett ohne den in jeder Hinsicht reichhaltigen Band «Grenzland Bergell» von Ursula Bauer und Jürg Frischknecht. Über die Bücher der beiden (und die anderen Naturpunkt-Bände des Rotpunktverlags) muss man nicht viel Worte verlieren; sie sind längst Klassiker der Wanderliteratur. Bauer/Frischknecht stellen in ihrem neuesten Werk 23 Wanderungen durch das Bergell vor und haben ihre Wegbeschreibungen jeweils mit historisch, sozial und kulturell höchst informativen Kapiteln versehen. Wie Luis Trenker und Leni Riefenstahl am Fornogletscher aneinander gerieten, welche Waren die SchmugglerInnen von Castasegna über die Grenze schleppten, was der Bergrutsch am Monte Conto so alles verschüttete und wie die Zürcher Elektrizitätswerke die Arbeiter beim Bau ihrer Bergeller Kraftwerke ausbeuteten – all das ist höchst lesenswert.
Ein etwas anderes Wanderbuchkonzept verfolgt hingegen der Verlag des Schweizer Alpen-Clubs (SAC). Dieser publiziert seit ein paar Jahren neben seinen konkurrenzlosen Club- und Auswahlführern die Reihe «Alpinwandern», in der jetzt zwei neue Bände erschienen sind: «Rund um die Berner Alpen» und «Tessin». Bei diesen Führern sind nicht mehr die Gipfel das Ziel, sondern der Weg von Hütte zu Hütte. Dass viele SAC-Hütten unter Besucherschwund leiden, mag den Anstoss zu dieser Reihe gegeben haben.
Aber dies schmälert genauso wenig den Wert dieser exakten, schön aufgemachten Alpinwanderführer wie die Tatsache, dass sie eine wesentliche Idee des Rotpunktkonzepts aufgreifen und kapitelweise über Geschichte, früheres Brauchtum, die Natur und ihre Zerstörung informieren. Nur die Analyse der sozialen Verhältnisse kommt etwas kurz – aber darin war der SAC noch nie besonders stark. Dafür hat er eine neue Schwierigkeitsskala fürs Bergwandern entwickelt. Sie reicht von T1 bis T6 («T» steht für Trekking) und erlaubt eine der Erfahrung angemessene Routenwahl. Im Führer «Rund um die Berner Alpen» zum Beispiel sind neben dem anspruchsvollen Klettersteig aufs Doldenhorn (T6) und 11-Stunden-Märschen in teilweise weglosem Gelände (T5) auch viele einfache, sehr lohnende und genauso präzis beschriebene Wanderungen aufgeführt. Man muss ja nicht immer gleich über einen Ostpfeiler gehen. (pw)
Edwin Schmitt, Wolfgang Pusch: «Hochtouren Ostalpen». Bergverlag Rother. München 2004. 288 Seiten. 29.90 Euro.
Paul Nigg: «Bergell Gebietsführer». Bergverlag Rother. München 2004. 356 Seiten. 19.90 Euro.
Riccardo Cassin: «Erster am Seil». AS Verlag. Zürich 2003. 367 Seiten. 45 Franken.
Ursula Bauer, Jürg Frischknecht: «Grenzland Bergell». Rotpunktverlag. Zürich 2003, 360 Seiten. 29 Euro.
Ueli Mosimann: «Rund um die Berner Alpen». SAC-Verlag. Bern 2003. 288 Seiten. 44 Franken (SAC-Mitgliederpreis: 36 Franken).
Marco Volken, Remo Kundert, Teresio Valsesia: «Einsame Touren südlich des Gotthards». SAC-Verlag. Bern 2004. 335 Seiten. 44 Franken (SAC-Mitgliederpreis: 36 Franken).