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Kapital und Arbeit: Der Niedergang einer Konstanzer Weltfirma

Tod auf Raten

30. September 2024 | Am 30. September 1984, vor genau vierzig Jahren, sperrte die traditionsreiche Konstanzer Zeltfirma L. Stromeyer & Co. für immer das Werktor zu – und setzte die Belegschaft auf die Straße. Wie kam es dazu? Und was bedeutete es für die Beschäftigten? Hier mein leicht aktualisierter Beitrag aus dem früheren Regionalmagazin Nebelhorn von Oktober 1984.

«Die Alleinschuld an dieser Tragödie hat der Unternehmer ... diese Firma Stromeyer hat einen Wasserkopf, zu viele Köche rühren an dem Brei und sahnen ab, die Führungsspitze ist nicht tatkräftig und zielbewußt.» Das sagte DGB Kreissekretär Erwin Reisacher Ende 1973 auf einer Belegschaftsversammlung der Stromeyer-Beschäftigten, die kurz zuvor aus der Zeitung erfahren hatten, dass die Firma drastische Einschränkungen plant.

Ein Vierteljahr später war die «Katastrophe» [Warum in Gänsefüsschen?] da: «Stromeyer-Konkurs stürzt Konstanzer Arbeitsmarkt in die Tiefe – mit bald 2,5 Prozent höchste Arbeitslosenquote des Landes», so lautete die Schlagzeile des Südkurier am 6. April 1974. Die Weltfirma Stromeyer hatte am Tag zuvor, um 12 Uhr mittags, Insolvenz angemeldet. Fast 1000 Arbeitsplätze in Konstanz waren damit gefährdet.

Der Konkurs zog sich über zehn Jahre hin. Zehn Jahre lang hoffte die Belegschaft auf einen neuen Unternehmer, zehn Jahre suchte Konkursverwalter H.R. Schulze nach einem Käufer. Denn so düster waren die Unternehmensaussichten nicht.

Vom Jutesack zu Großzelten …

«Das Familienunternehmen Stromeyer ist in 100 Jahren jung geblieben», steht in der Festschrift des Unternehmens, die zwei Jahre vor dem Konkurs anlässlich der 100-Jahr-Feier der Stromeyer-Gruppe erschienen war. Das deutsch-schweizerische Unternehmen feierte 1972 ein Jubiläum, bei dem die Firmenleitung selbstbewusst und zukunftssicher auftrat. Stromeyer, so ihr Tenor, werde auch künftig allen Untiefen der marktwirtschaftlichen Entwicklung trotzen.

Die Geschichte der Stromeyer-Fabriken ist schnell erzählt. 1872 gründete der Konstanzer Ludwig Stromeyer in Romanshorn eine Fabrik zur Herstellung von Jutesäcken und Pferdedecken. Ein Jahr später kaufte er ein Anwesen an der Konstanzer Münzgasse, verlagerte das Schweizer Geschäft von Romanshorn nach Kreuzlingen und erwarb 1874 ein Grundstück an der Gottlieber Straße im Konstanzer Stadtteil Paradies.

Parallel zur räumlichen Verlagerung (wie bei vielen anderen Baugründungen in dieser Zeit spielen Zoll und Grenzlage eine entscheidende Rolle) wurde die Produktion erweitert: Stromeyer begann mit der Herstellung von Großzelten (zu den Kund:innen zählen bald Zirkusunternehmen wie Sarrasani, Althaff, Hagenbeck und Schausteller) und kaufte eine mechanische Weberei in Weiler/Allgäu, um von Lieferanten unabhängig zu werden.

… und Rüstungsgütern

Das Unternehmen florierte. ,,Planen für die Eisenbahn sowie Zelte für militärische Zwecke erweitern das Lieferprogramm und bleiben bis zum heutigen Tage einer der Umsatzträger der Stromeyer-Unternehmen», heißt es in der Festschrift von 1972. An der Gottlieber Straße wurde es allmählich eng, und so erwarb Ludwig Stromeyer 150.000 Quadratmeter am rechten Rheinufer – dem heutigen Stromeyersdorf.

Der große Aufschwung kam mit dem Ersten Weltkrieg, nachdem Stromeyer zuvor mit Leihplanen fast eine Monopolstellung erreicht hatte: Für die Zelte mit wasserdichten Nähten interessierten sich auch die Militärs. 1914-18 wurde viel nachgefragt, die Materialschlachten an der Ost- und der Westfront sorgten für Bedarf. Die Umsatzentwicklung stieg steil an – so steil, dass Stromeyer die Fertigung nur mit Hilfe von 64 Fremdunternehmen bewältigen konnte.

Nach dem Ersten Weltkrieg gestaltete sich die Umstellung auf zivile Produkte nicht einfach. Wäsche und Berufsbekleidung wurden ins Programm aufgenommen. Mitte der 1920er Jahre gesellte sich auch die Herstellung von Gartenschirmen und Gartenmöbeln dazu: Das Unternehmen war ständig auf der Suche nach neuen Gewinnmöglichkeiten.

Der Zweite Weltkrieg verhalf der Firma erneut zu einem willkommenen Umsatzplus. Mitte der 1950er Jahre, in der Modernisierungsphase der BRD, folgten neue Zelt- und Überdachungskonstruktionen. Und so entwickelte das Unternehmen neben bewährten Zirkuszelten und Planen für Eisenbahnwaggons luftige phantasievolle Zeltdächer, die schnell Weltruhm erlangen: Stromeyer-Membrane schützten den bundesrepublikanischen Pavillon während der Industriemesse in Neu Delhi (1961), zierten die Expo 64 in Lausanne, die Expo 67 in Montreal und überdachen seit 1972 das Olympische Schwimmstadion von München.

Der Konkurs

Ein Weltunternehmen mit Zukunft also? Auf jeden Fall aber eine Weltfirma in familiärer Hand und der damit verbundenen «unternehmerischen Inzucht», wie Gewerkschafter es nennen.

Das einst so potente Unternehmen mit Zweigwerken in Mannheim, Weiler, Markdorf, Hüfingen, Überlingen und Zweiggeschäften in Frankfurt, Mannheim, Bonn, Heerjansdam (Holland) und einer separaten Firma in Kreuzlingen steuerte Anfang der siebziger Jahre, als Billigkonkurrenz aus Drittwelt-Ländern den Textilweltmarkt umkrempelte, auf eine hausgemachte Krise zu.

In der Festschrift 1972 heißt es noch: «Die Mode ist eine kapriziöse Dame, aber nicht weniger auch eine strapaziöse; zumindest für den Produzenten, der von ihr abhängig ist.» Den Strapazen waren die Stromeyers nicht gewachsen.

Kommerzienrat Manfred Stromeyer und seine Kollegen im Vorstand –Söhne Albrecht und Manfred Hans sowie die Neffen Hans und Peter – steuerten nicht gegen, als die Bekleidungsabteilung in die Tiefe schlitterte. Auch der für die Zelte verantwortliche Unternehmer Peter Stromeyer – «sein Interesse galt großen Autos und großen Booten» (so Erwin Reisacher) – unternahm nicht viel.

Damals war «Stromeyer-Mode» die umsatzstärkste Abteilung des Unternehmens, für kurze Zeit jedenfalls. Nach fünfwöchiger Kurzarbeit im Jahre 1967, für die die Firmenleitung die «Zurückhaltung des Verteidigungsministeriums» verantwortlich machte, meldete das Unternehmen am 3. September 1973 erneut Kurzarbeit an: die Auftragseingänge seien stark rückläufig, die Kaufhäuser hätten nur zwanzig Prozent der bisherigen Aufträge geordert, hieß es zur Begründung. Am 28. Februar 1974 stellt L. Stromeyer & Co. GmbH die Zahlungen ein.

Einseitige Abhängigkeit

Die Erklärung der Firmenleitung ließ erkennen, dass die Konzentration auf den Bekleidungssektor das Unternehmen in eine einseitige Abhängigkeit gestürzt hatte; die Stuttgarter Zeitung brachte am 2. März 1974 die Schwierigkeiten so auf den Nenner: Bei Stromeyer gebe eine «patriarchalische Geschäftsführung» den Ton an, «die sich den modernen Verkaufsmethoden nicht anpassen konnte».

Hundert Jahre Gewinne, ein paar Jahre Verluste – eine Weltfirma (und als solche sahen sich die Stromeyers gern) hätte das wohl weggesteckt. Schließlich gab es ja noch Grundstücke und einen gesunden Schweizer Ableger, der erst 1971 den bis dahin größten Auftrag vom Schweizer Militär (Laufzeit: drei Jahre) bekommen hatte.

Der dritten Generation der Stromeyers fehlte jedoch der unternehmerische Elan ihres Großvaters. Oder anders ausgedrückt: Sie hatte sich auf eine Weise abgesichert, wie es dem Firmengründer Ludwig noch nicht möglich gewesen war.

Die Teilung

1949 – ein Jahr, nachdem allen Westzonenbewohner:innen Legenden zufolge mit 40 Mark Handgeld die «gleichen Chancen» geboten worden waren – teilten die Stromeyers ihr Vermögen auf. Sie machten die Textilgesellschaft L. Stromeyer & Co. zur Besitzerin von Grund und Boden, Gebäuden und Maschinen; die L. Stromeyer & Co GmbH übernahm Fabrikation und Vertrieb. Die Produktions GmbH zahlte für die Nutzung der Produktionsmittel und hatte – als die Schwierigkeiten begannen – keinen Zugriff auf die Vermögenswerte der Stromeyers.

Als die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens publik wurde, setzte der DGB alle Hebel in Bewegung, um die Arbeitsplätze zu retten. DGB-Kreissekretär Reisacher verhandelte mit den Gläubigerbanken, um ein Stillhalteabkommen zu erzielen – vergebens. Außerdem überlegte er sich ein Modell zur Betriebsübernahme durch die Belegschaft. Voraussetzung für das Beschäftigtenkonzept war jedoch, dass die von den Gewerkschaften gegründete Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) die Schulden des Unternehmens übernimmt – also die Forderungen der Gläubiger (in Höhe von zwischen 20 und 22 Millionen Euro) befriedigt.

Die BfG lehnt jedoch ab, als sie feststellt, dass die Vermögensbestandteile der Stromeyers längst den Ehefrauen übertragen worden waren und somit jede Sicherheit für das Selbstverwaltungsmodell fehlte. Die Versuche der SPD, durch eine teilweise Überbauung des Geländes die Firma vor der Pleite zu bewahren, scheiterten am Einspruch des Regierungspräsidiums.

Zehn Jahre Schrumpfung

Konkursverwalter Schulze (Reisacher: «Ein Mann mit unternehmerischem Elan») zog das Unternehmen jahrelang durch. Das funktionierte: Die Gläubigerbanken profitierten von den Zinsen. Das zurechtgestutzte Unternehmen (die unrentablen Bereiche Bekleidung und textile Ausrüstung wurden geschlossen, die Belegschaft von 950 auf 300 Beschäftgte reduziert) war tragfähig. Ein Teil der alten Schulden konnte zurückgezahlt werden. Aber der investitionsfreudige Unternehmer, auf den Schulze wartete, blieb aus.

Die Gebäude, immer noch im Besitz der Stromeyers, verfielen jedoch zusehends, die Dächer wurden undicht, vor allem in den Wintermonaten sickerte Wasser ein. Diese Löcher konnte die Firma nicht stopfen, der Ertrag reichte gerade aus, um die fälligen Zinsen zu begleichen. Als 1984 auch der letzte Strohhalm brach und die von dem Finanzmakler Franz Josef Schmidt geforderte dichte Bebauung von Stromeyersdorf scheiterte, gab die Insolvenzverwaltung auf.

Die Stromeyer-Familie betraf das alles nicht. Sie hat noch ihre Grundstücke in Stromeyersdorf und betreibt weiterhin ihr Kreuzlinger Unternehmen, recht erfolgreich, wie es heißt. Denn dort, so DGB-Chef Reisacher, «haben sie aus den Konstanzer Fehlern gelernt.» Die Stromeyers werden also auch künftig nicht auf große Autos und große Boote verzichten müssen.


Ergänzung: Was danach geschah

Knapp sechs Monate nach der Stilllegung urteilte das Arbeitsgericht Radolfzell am 21. März 1985 in einem Kündigungsschutzverfahren, dass ein Teil der Kündigungen «unwirksam» seien. Einige Monate später bestätigte das Landesarbeitsgericht diesen Entscheid. Allerdings wies es Klagen auf Weiterbeschäftigung ab und verpflichtete die Konkursverwaltung lediglich zur Lohnnachzahlung.

Von dem Geld (rund ein Jahresgehalt für jede:n Kläger:in) sahen die Betroffenen – trotz aller Bemühungen des damaligen DGB-Rechtssekretärs Peter Wortner – jedoch keinen Pfennig (wie Jürgen Geiger in einem Nebelhorn-Artikel, Ausgabe Oktober 1985, vermerkte). Ein Gutteil der Firmeneinnahmen war in Form von Mieten ja an die zweite Stromeyer-Firma in der Schweiz gegangen, die sich für den Niedergang der einstigen «Weltfirma» nicht verantwortlich fühlte.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Nebenaspekt. Die Stadt Konstanz, so erzählte der damalige DGB-Kreisvorsitzende Erwin Reisacher dem Nebelhorn (Ausgabe Januar 1987) habe das DGB-eigene Bau- und Wohnungsunternehmen Neue Heimat «fast flehentlich darum gebeten, zur Sanierung der vom Konkurs bedrohten Firma Stromeyer für 6 Millionen Mark ein Stück des Firmengeländes abzukaufen». Die Neue Heimat, so Reisacher seinerzeit zum Nebelhorn, «war sich der Verantwortung zur Erhaltung von Arbeitsplätzen bewusst und kaufte». Stromeyer ging trotzdem pleite. Aber danach «saß die Neue Heimat auf dem Gelände, bis es vor wenigen Monaten [Ende 1986] an die Stuttgarter Bank verkauft werden konnte». Allerdings weit unter dem Preis, «nämlich für 3,6 Millionen». Unter dem Strich habe das, so Reisacher weiter, einen Verlust («wenn man Zins und Zinseszins dazurechnet») von «weit über 5 Millionen Mark» ergeben.

Diese Summe hat zwar nicht den Kollaps der Neuen Heimat bewirkt: Zum Niedergang des ab 1986 abgewickelten Gewerkschaftsunternehmens trugen eher undurchsichtiges Geschäftsgebaren und horrende Vorstandsgehälter bei. Aber eine kleine Rolle spielten solche politischen Gefälligkeitsinvestitionen wohl schon. (pw)