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Kapital und Arbeit: 40 Jahre Kampf für die 35-Stunden-Woche

Ein Beispiel auch für heute

2. Mai 2024 | Vor vierzig Jahren begann in Konstanz der Kampf der Südkurier-Belegschaft für Arbeitszeitverkürzung. Hier meine kurze Rede bei der gestrigen 1.-Mai-Demo, gehalten auf dem Fischmarkt.

Bleiben wir hier kurz stehen, um an etwas zu erinnern, das an dieser Stelle vor ziemlich genau vierzig Jahren passierte. Es ging dabei um ein Thema, das den 1. Mai schon immer geprägt hat – um Arbeitszeitverkürzung. Der Tag der internationalen Arbeiter:innenklasse ist ja aus dem Kampf für den Achtstundentag hervorgegangen, und auch dieses Jahr geht es beim Motto «Mehr Lohn, Freizeit, Sicherheit» um Arbeitszeit. So wie am 2. Mai 1984, als sich hier Streikposten versammelten, um die 35-Stunden-Woche durchzusetzen.

Aber warum an dieser Stelle, auf diesem Platz, umgeben von herausgeputzten Häusern? Nun, dies hier ist ein historischer Ort: 1984 stand hier am Fischmarkt nicht nur der besetzte Gebäudekomplex mit dem ehemaligen Fernmeldegebäude dort drüben, wo politisch einiges abging. Wo jahrelang Menschen billig wohnen konnten, wo sich Initiativen trafen, wo es mit dem Fischkult ein Kulturzentrum gab, wo auch die Redaktionsräume unseres Stadtmagazins Nebelhorn untergebracht waren.

Sondern hier stand früher auch die Druckerei des Südkurier. In beziehungsweise vor dem Gebäude, das jetzt eine Senior:innen-Residenz beherbergte, versuchte die Industriegewerkschaft Druck und Papier damals, parallel zur IG Metall, die 35-Stunden-Woche durchzusetzen.

Schwierige Voraussetzungen

Natürlich – wir kennen das von heute – ging sofort die Jammerei los. Die Printmedien (fast alle im Besitz der Verleger und Druckunternehmer) heulten auf, die Politiker:innen warnten vor dem ökonomischen Niedergang, es grummelte in der Gesellschaft.

Dabei gab es die Forderung schon lange, wie in den Protokollen unseres Ortsvereins Konstanz der DruPa (der IG Druck und Papier) von 1984 nachzulesen ist. Sie liege, so heißt da wörtlich, «in der Druckindustrie seit 1972 auf dem Tisch. Wenn die Unternehmen jetzt so tun, als sei sie ihnen von heute auf morgen vor den Latz geknallt worden, dass ist das nur Teil ihrer Propagandakampagne.»

Aber würde man sie auch durchsetzen können? Die Verhältnisse waren so günstig nicht: Erstens setzte mal wieder eine Wirtschaftskrise ein, die Konjunktur sackte ab, die Arbeitslosigkeit nahm zu. Zweitens schwächten neue Techniken die Kampfkraft der Belegschaften vor allem in der Druckindustrie. An die Stelle des Bleisatzes trat der elektronische, rechnergesteuerte Fotosatz, der bald die Setzer an den Linotype-Maschinen überflüssig machte.

Und drittens war die Streikkasse der DruPa ziemlich leer: 1973 hatten die Belegschaften ein Lohnplus von über zehn Prozent durchgesetzt. 1976 durchbrach man mit einem Totalstreik das Lohndiktat der damaligen sozialliberalen Regierung. Und 1978 hatte ein langer Streik einen Schutz der Beschäftigten vor der Rationalisierungswelle erkämpft, die nach die Einführung der elektronischen Fotosatztechnik drohte.

Wer heute über «Streikhäufigkeit» klagt, sollte vielleicht mal ins Geschichtsbuch blicken – viele Streiks, das zeigen die Beispiele, gab es auch früher schon. Jedenfalls bei der DruPa, die damals kampffreudigste Gewerkschaft.

Ein halbes Dutzend Streikbrecher

Die Wirtschaftskrise, die Digitalisierung, die leeren Kassen – all dies stärkte das Selbstbewusstsein der Unternehmen: Sie forderten in den Tarifverhandlungen eine Festschreibung der 40-Stunden-Woche und die Kürzung der übertariflichen Löhne. Die DruPa hingegen hatte nicht nur die 35-Stunden-Woche zum Ziel, sondern auch eine angemessene Lohnerhöhung.

Und so kam es, dass am 2. Mai 1984 die Spät- und die Nachtschicht der Südkurier-Druckerei für zwölf Stunden die Arbeit niedergelegten. Unumstritten war dieser erste Streik nicht: Die Maschinensetzer waren vehement dafür, viele Rotationsdrucker eher dagegen. Während also 55 Streikende hier vor dem Fabriktor standen, ging eine Handvoll von Gewerkschaftsmitgliedern an den Streikposten vorbei. Ihr Streikbruch hatte später Konsequenzen. Sie wurden – richtigerweise, wie ich finde – auf Antrag des Ortsvereins aus der Gewerkschaft ausgeschlossen.

Der erste Streiktag brachte noch nicht viel. Drei Woche später aber folgte der zweite Ausstand, an gleich zwei Tagen. Am 24. und 25. Mai 1984 streikten 100 Beschäftigte, darunter fast alle Maschinensetzer. Die Unterstützung war in der Rotationsdruckerei zwar wieder schwach – aber immerhin beteiligte sich dieses Mal auch ein Journalist aus der Redaktion. Und heraus kamen nur Notzeitungen mit jeweils gerade mal 8 Seiten.

Breite Solidarität

Daraufhin folgte eine Schlichtung – die jedoch scheiterte. Das Ergebnis war zu weit von dem entfernt, was die Kolleg:innen wollten. Und so kam es beim Südkurier drei Wochen später – am 12. und 13. Juni – wieder zu einer zweitägigen Arbeitsniederlegung, an der sich jetzt 110 Beschäftigten beteiligten.

Getragen wurden diese Streiks im Mai und Juni von einer breiten Solidarität. Das sei «kein gewöhnlicher Arbeitskampf» gewesen, sagte später der damalige Singener IG-Metall-Bezirksbevollmächtigte Heinz Rheinberger, sondern «eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung». Und genau darum geht es auch heute bei den Arbeitskämpfen für kürzere Arbeitszeiten – sei es bei der Bahn, sei es im ÖPNV.

Rheinberger stand mit seinen Mitgliedern öfters hier, ebenso natürlich der damalige DGB-Kreisvorsitzende Erwin Reisacher. Kolleg:innen der damaligen Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen (HBV) waren dabei, Mitglieder der ÖTV fanden sich ein, auch Lehrer:innen von der GEW kamen zum Streikposten. Mitunter hatten sich mehr Sympathisant:innen vor der Druckerei versammelt als Streikende.

Besonders wichtig war übrigens die Unterstützung der Schweizer Kolleg:innen: Sie lehnten es während des gesamten Arbeitskampfs ab, Aufträge aus Deutschland entgegenzunehmen.

Schrittweise Annäherung

Und so kam es nach – bundesweit – sieben Wochen Arbeitskampf zu einem Ergebnis: einer Verkürzung der Arbeitszeit auf 38,5 Stunden. Das war der erste Schritt.

1989 folgte der zweite. Während die Unternehmen fast totale Zeitflexibilität und längere Maschinenlaufzeiten verlangten, setzten die DruPa-Mitglieder die 35-Stunden-Woche durch. Dafür streikte die Südkurier-Belegschaft dann eine ganze Woche. Und wieder war die Unterstützung – besonders der IG Metall-Kolleg:innen – enorm. Im Jahr danach traten dann die Südkurier-Journalist:innen erstmals in den Ausstand. Auch sie hatten Erfolg: Sie erzielten nicht nur eine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden in der Redaktion, sondern auch eine tarifvertragliche Regelung der Volontärs-Ausbildung.

Warum erzähle ich das alles? Nun, um zu zeigen, dass die Auseinandersetzungen um Arbeitszeitverkürzung so neu nicht sind, dass Entschlossenheit, Beharrlichkeit und Solidarität zum Ziel führen kann, dass der jüngste Arbeitskampf der Kolleg:innen von der Lokführer-Gewerkschaft GdL gesellschaftlich von großer Bedeutung war. Und um auf etwas aufmerksam zu machen, was viele nicht wissen.

Es gibt da nämlich die Europäische Sozialcharta von 1961, die praktisch von allen Staaten ratifiziert wurde, darunter von der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1965. In ihr steht im Artikel 2: «Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf gerechte Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien, für eine angemessene tägliche und wöchentliche Arbeitszeit zu sorgen und die Arbeitswoche fortschreitend zu verkürzen, soweit die Produktivitätssteigerung und andere mitwirkende Faktoren dies gestatten».

Vor zwei Wochen veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Studie, die unter anderem zum Ergebnis kam, dass in den letzten drei Jahrzehnten die Produktivität durchschnittlich um 30 Prozent gestiegen ist. Dieser Berechnung zufolge müssten wir mittlerweile die 28-Stunden-Woche haben. Lasst uns dafür kämpfen.


PS (1): Wer mehr über den hiesigen Kampf für die 35-Stunden-Woche und die Geschichte der Konstanzer Gewerkschaftsbewegung wissen möchte: Wir haben zum 150-jährigen Jubiläum unseres Medien-Ortsvereins ein Buch herausgebracht, das in allen Buchhandlungen erhältlich ist.

PS (2): Mehr Infos über den langen Arbeitskonflikt vor vierzig Jahren bietet der Artikel «Blockaden, Aussperrung, Aufruhr» in der Wochenzeitung kontext. (pw)