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Kapital & Arbeit: Gewerkschaften als Gegenmacht?
Sozialdemokratische Selbstentmachtung
4. April 2002 | Kommt nach der Zeit des sozialdemokratischen Europas ein Europa der Gewerkschaften? Zeit dafür wär's ja.
Erinnern Sie sich noch? So lange ist es nicht her, dass überall vom neuen Zeitalter geredet wurde, das nach den finsteren Jahren konservativer Dominanz endlich angebrochen schien. Massimo d'Alema, Viktor Klima, Poul Nyrup Rasmussen, António Guterres strahlten mit Tony Blair, Lionel Jospin, Gerhard Schröder um die Wette; die linke Mitte war an der Macht, die Sozialdemokratie hatte Europa erobert.
Vor drei Jahren noch waren sozialdemokratische Parteien an den Regierungen von dreizehn der fünfzehn EU-Staaten beteiligt. Die Euphorie hat sich mittlerweile gelegt, in allen Wahlen seither (Österreich, Italien, Dänemark und vor knapp drei Wochen in Portugal) siegte die Rechte; die linke Mitte regiert nur noch in sieben Ländern. Und es könnte noch schlimmer kommen – Mitte Mai in den Niederlanden, wo der Rechtspopulist Pim Fortuyn antritt; im Juni in Frankreich, wo Jospins Koalition nicht viel mehr vorzuweisen hat als die Einführung der 35-Stunden-Woche; im September in Deutschland, wo laut Meinungsumfragen das rot-grüne Regierungsbündnis hinter der konservativ-liberalen Opposition rangiert.
Gut möglich also, dass zum Jahresende nur noch Schweden, Finnland, Griechenland sozialdemokratisch regiert werden – und Britannien. Dort aber führt mit New Labour eher der konservative Mittelstand die Regierungsgeschäfte.
Ideenlose Anpassung
Dass das sozialdemokratische Zeitalter gerade mal fünf Jahre währte, haben sich die meisten sozialdemokratischen Parteien selbst zuzuschreiben. Als mit der Südostasienkrise 1997/98 die Erkenntnis wuchs, dass wirtschaftliche Entwicklung kontrolliert, reguliert, gesteuert werden muss, wenn sie auch sozial und ökologisch ausfallen soll, und der Neoliberalismus an Überzeugungskraft einbüsste, weil überall die Folgen seiner Politik zu spüren waren, fand das sozialdemokratische Konzept eines sozialstaatlich regulierten Kapitalismus (auch mangels einer linken Alternative) fast überall in Europa breite Zustimmung.
Die neuen Regierungen versprachen, die durch die neoliberale Strategie fragmentierten Gesellschaften zu stabilisieren, die Ökonomie nicht allein den Marktkräften zu überlassen und den Korporatismus (in Form von Sozialpakten wie das deutsche «Bündnis für Arbeit») neu zu beleben. Heraus kamen aber keine «fairen» Gesellschaften. Die Mitte-links-Koalitionen akzeptierten die Hegemonie des global agierenden Kapitals, beschränkten ihre Reformen auf den Umbau des Wohlfahrtsstaats in einen Wettbewerbsstaat, führten die Deregulierungs- und Privatisierungsstrategien ihrer VorgängerInnen fort oder verfolgten wie die ExkommunistInnen in Italien vor allem ein Ziel – das jeweilige Land mit allen Mitteln den Maastricht-Kriterien anzupassen und Euro-kompatibel zu gestalten.
In Italien hat die politische Selbstentmachtung der sozialdemokratisch-parlamentarischen Linken ein Vakuum entstehen lassen, das momentan vom Gewerkschaftbund CGIL in Kooperation mit den seit Genua immer aktiveren sozialen Foren der linken GlobalisierungskritikerInnen gefüllt wird. Mit ihrer Kundgebung vor zwei Wochen, an der zwei bis drei Millionen Menschen teilnahmen, haben CGIL und die vielen lokalen Initiativen gezeigt, wer tatsächlich gegen die Rechtsregierung von Silvio Berlusconi opponiert. Auch anderswo kommt der Widerstand gegen konservative wie sozialdemokratische Regierungsvorhaben nicht aus parlamentarischen Reihen. In Deutschland zum Beispiel haben etwa die treuesten Bündnispartnerinnen der SPD, die Gewerkschaften, Schröder den Fehdehandschuh hingeworfen.
Selbst PolizistInnen demonstrieren
Auch in Britannien laufen Blair gleich scharenweise die Bataillone davon, auf die sich Labour vor kurzem noch hundertprozentig verlassen konnte. Nach den Feuerwehrleuten und der grossen Gewerkschaft GMB hat dort letzte Woche die Gewerkschaft Kommunikation eine drastische Kürzung ihrer Finanzbeiträge an die Partei bekanntgegeben, die einst von den Gewerkschaften gegründet worden war. Wichtiger noch: Bei allen Vorstandswahlen seit Blairs zweitem Erfolg 2001 siegten in den Gewerkschaften linke Regierungskritiker über die von oben favorisierten BlairistInnen.
Die Streiks der Bahnbeschäftigten, der LehrerInnen (die zudem einen Kampf für die Einführung der 35-Stunden-Woche beschlossen haben), der Flughafenangestellten von Manchester über Ostern, der Protestmarsch von PolizistInnen gegen geplante Privatisierungen und die angekündigten Arbeitsniederlegungen des Krankenhauspersonals, der städtisch Beschäftigten, der PöstlerInnen lassen ahnen, welche Auseinandersetzungen Blair noch bevorstehen könnten.
Dass ausgerechnet die oftmals sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaften im Mittelpunkt der neuen ausserparlamentarischen Opposition stehen, ist kein Zufall. Parteien können neue WählerInnen-Segmente erschliessen und je nach politischem Schwenk anderswo Mitglieder gewinnen – die Gewerkschaften können das nicht. Ihre Basis setzt sich aus Lohnabhängigen zusammen, deren Interessen sie nicht ignorieren können. Das macht ihre Stärke aus. Andererseits orientieren sie sich deshalb zumeist am kapitalistischen Wirtschaftsmodell, kämpfen für bessere Bedingungen im Rahmen des bestehenden Verwertungs- und Lohnsystems (statt für dessen Abschaffung) und lassen sich oftmals auch in eine Standortpolitik einbinden in der Hoffnung, auf diese Weise den vordergründigen Interessen ihrer Mitglieder – und nur diesen – zu entsprechen. Das ist ihre Schwäche.
Gleichwohl blicken immer mehr GewerkschafterInnen über den Tellerrand ihrer eigenen Abhängigkeit hinaus. Die deutsche Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat Schröder «grossen Ärger» versprochen, sollte die Arbeitslosenhilfe weiter abgesenkt werden, und kooperiert wie die IG Metall mittlerweile mit Organisationen wie Attac. Und in England wollen die Trade Unions am 1. Mai erstmals gemeinsam mit der bunten Koalition der GlobalisierungskritikerInnen durch London ziehen. Die Gewerkschaften, die lange Zeit nur sozialdemokratische Hilfstruppen stellten, ähneln so langsam wieder einer Gegenmacht. (pw)