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Kapital & Arbeit: Gewalt in nachdemokratischen Verhältnissen
Weil es eine Alternative gibt
17. Juli 2001 | In diesen Tagen beginnt der G8-Gipfel in Genua. Die Ziele sind vorher schon klar, die Berichterstattung auch.
Nun sind sie also wieder unterwegs, die rabiaten Chaoten, die militanten Radauschwestern, die blindwütigen KrawallantInnen. Man kann sich die Schlagzeilen und die Fernsehbilder der nächsten Tage lebhaft vorstellen, die Medien kannten ja schon im Vorfeld des G8-Gipfels in Genua nur ein Thema: die Gewalt.
An ihr – und nur an ihr – wird der Gipfel gemessen. Sollten jene DemonstrantInnen, die das Treffen der mächtigsten PolitikerInnen aus nachvollziehbaren Gründen verhindern wollen, in die «rote Zone» um den Tagungsort vordringen können, sind heftige Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Dann «regiert der Terror». Sollte es aber wider Erwarten friedlich bleiben, werden die meisten Medien auch nur dies vermelden – und kaum ein Wort darüber verlieren, wer sich auf dem Gipfel zu welchem Zweck versammelt hat.
Privatisierungen global
Jedenfalls werden die acht Staats- und Regierungschefs das weiter vorantreiben können, was sie unter Globalisierung verstehen. Sie werden die nächste Gesprächsrunde der Welthandelsorganisation (WTO) beraten, die eine weltweite Privatisierung des Service public vorsieht; sie werden die Reform des Internationalen Währungsfonds und der globalen Finanzarchitektur besprechen; sie werden der wachsenden Kluft zwischen Nord und Süd Vorschub leisten und zwischendurch immer wieder die «Förderung der Demokratie» propagieren.
Was sie darunter verstehen könnten, zeigt schon die Teilnehmerliste. Einer der acht übernahm die Präsidentschaft seines Landes, nachdem er die Wahl verloren hatte; ein anderer führt einen völkermordenden Krieg in einer annektierten Teilrepublik; ein Dritter steht unter Korruptionsverdacht und der Vierte – der Gastgeber – wurde bereits wegen illegaler Parteienfinanzierung und Bestechung verurteilt. Eine illustre Runde. Doch nicht sie steht im Kreuzfeuer der Kritik, sondern die «rabiaten Chaoten» (DRS-Moderator Stephan Klapproth) unter den GegnerInnen der kapitalistischen Globalisierung.
Die Hysterie der Medien über physische Formen sozialer und politischer Auseinandersetzungen ist freilich nicht neu. Schon vor zweihundert Jahren berichteten die damaligen Medien in ähnlicher Weise über den «Pöbel» und den «Mob», der sich aufrührerisch dem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel zu Beginn der Industrialisierung widersetzte. Doch schon der Widerstand damals war in höchstem Masse rational. Er richtete sich etwa in England gegen die Einfriedung von Gemeindeland (einer frühen Form der Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen) und verlangte die Wiederherstellung verloren gegangener Rechte. In England, in Frankreich und in anderen westeuropäischen Staaten kam es ab Mitte des 18. Jahrhunderts regelmässig zu Aufständen gegen Veränderungen, die «im Namen des Fortschritts von Regierungen, Kapitalisten, Getreidehändlern und spekulierenden Immobilienbesitzern» vorangetrieben wurden, wie der Sozialhistoriker George Rudé schrieb (seine Liste der Verantwortlichen ist verblüffend aktuell).
«Tarifverhandlungen per Aufruhr»
Die «food riots» gegen Preiserhöhungen führten oft zur Besetzung von Märkten, Mühlen und Bäckereien. Ab Beginn des 19. Jahrhunderts rebellierten die Armen gegen die Einführung von mechanischen Webstühlen und Dreschmaschinen, die ihre Arbeitsplätze vernichteten. Der Maschinensturm war aber eher selten Ausdruck einer allgemeinen Ablehnung des industriellen Fortschritts – oft diente er vornehmlich der Durchsetzung höherer Löhne und besserer Arbeitsbedingungen.
«Tarifverhandlungen per Aufruhr» nannte der Historiker Eric Hobsbawm die Handlungen der zumeist spontan, aber zielgerichtet agierenden Aufständischen, die in der Regel gegen Eigentum, nicht aber gegen Menschen vorgingen (die geringe Opferzahl zumindest in der ersten Zeit ist übrigens ein Merkmal aller demokratischen Revolutionen von der Französischen bis zur Russischen). Was hätten die Menschen damals auch tun sollen? Die Gewerkschaften waren verboten, nur eine kleine Minderheit hatte ein Wahlrecht, Institutionen zur friedlichen Konfliktregelung (wie Parteien und Verbände) existierten nicht. Eine Debatte über den Nutzen der Gewaltanwendung setzte in England beispielsweise erst mit der Chartistenbewegung (1848) ein, die für das allgemeine Stimmrecht kämpfte; zum ersten Mal sahen ArbeiterInnen die Möglichkeit, ihren Forderungen auch anders Gehör zu verschaffen. Der gewaltsame Aufruhr ist ein Merkmal der vordemokratischen Zeit.
Und heute? Heute leben wir in mehrerlei Hinsicht in einer nachdemokratischen Zeit. Gewiss, die alte Willkür staatlicher Obrigkeit besteht nicht mehr so wie früher, als harmlose RebellInnen zu hunderten aufgeknüpft wurden. Fast alle Menschen haben das Wahlrecht. Aber sie haben kaum noch eine Wahl.
«Es gibt keine Alternative» zur neoliberalen Globalisierung, hatte schon Margaret Thatcher gesagt; ihre Parole ist mittlerweile von fast allen (auch den sozialdemokratischen) Parteien des Nordens übernommen worden. Den Gleichschritt begründen alle PolitikerInnen ähnlich: Wohlstand, Vollbeschäftigung und Glück könne nur einer besorgen – der Markt. Der freilich ist auch für Sozialabbau, Deregulierung, Privatisierung und Verelendung verantwortlich. Da dem Markt (wie den Tyrannen früherer Zeit) nicht beizukommen sei, dankt die Politik ab. Sie hat ja auch nichts mehr zu sagen, wie das Beispiel der Europäischen Union zeigt, die unter dem Einfluss der Grosskonzerne steht. Die wichtigsten Entscheidungen werden hinter verschlossenen Türen von Leuten getroffen, die niemand gewählt hat und die niemandem rechenschaftspflichtig sind.
Wie in vordemokratischen Zeiten fehlt es heute an Institutionen, die im Konflikt zwischen den GlobalisierungsprofiteurInnen oben und der wachsenden Opposition unten vermitteln könnten. Die Gewerkschaften wären als einzige Kraft dazu in der Lage, da sie überall an Zustimmung gewinnen und die Opfer der Globalisierung vertreten. Aber sie verharren noch in der nationalen Perspektive und müssen selber ständig Angriffe von Unternehmen und PolitikerInnen abwehren. Was bleibt also? Eigentlich nur die Solidarität aller politisch Entmündigten und sozial Ausgegrenzten über alle taktischen Fragen der Gegenwehr hinweg. Denn auch nach Genua wird es Gewalt geben – von denen oben sowieso. (pw)
Nachtrag: Die Demonstrationen gegen den G8-Gipfel wurden – wie oben befürchtet – von einem massiven Polizeiaufgebot zusammengeschlagen. Während des Gipfels, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, hätten die Sicherheitskräfte gefoltert; eine Reihe von Videofilmen zeigen das Vorgehen der Polizei. Von der massiven Attacke des Staates hat sich die ausserparlamentarische Linke in Italien nie mehr erholt.