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Nordirland: Martin McGuinness (1950 – 2017)

Von der Rebellion zur Resignation

24. März 2017 | Kaum jemand hat den Nordirlandkonflikt so geprägt wie Martin McGuinness. Seine Geschichte beschreibt den Werdegang eines Grossteils der irisch-republikanischen Bewegung.

Derry, im Herbst 1986. Mitten in Bogside, dem republikanischen Armenviertel unter der Stadtmauer, lag das kleine Büro von Sinn Féin, damals der politische Flügel der Irisch-Republikanischen Armee IRA. Zwei dunkle Zimmer, in jedem ein einfacher Tisch, Holzstühle, ein paar zerschlissene Sessel, fleckige Tapeten.

Hier traf ich zum ersten Mal Martin McGuinness, seinerzeit 36 Jahre alt. Ein handgestrickter Pullover, darunter ein kariertes Hemd, einfache Hose, Lockenkopf, jugendliches Gesicht und ein schüchternes Lächeln. Das also war der gefürchtete «Terrorist», wie ihn die Mainstream-Medien nannten: Bereits mit 21 Jahren IRA-Kommandant von Derry, danach Mitglied im Army Council der Untergrundorganisation, von Mitte der siebziger bis in die achtziger Jahre hinein – so genau weiß man das nicht – Stabschef einer der erfolgreichsten Guerillaorganisationen, mit denen es die Briten jemals zu tun hatten. Und auch danach blieb er wohl die einflussreichste Figur im Führungszirkel der IRA. Er sei, so sagten selbst britische Offiziere, «ein sehr fähiger militärischer Kopf».

«Wir befinden uns in einem nationalen Befreiungskampf. Unser Land ist von einer fremden Macht besetzt», sagte er 1986 in unserem Gespräch, das ich für die linke Schweizer Wochenzeitung WOZ führte. Von daher sei der bewaffnete Kampf legitim. Dass dieser das erhoffte Ziel, den Abzug der britischen Armee, nicht ohne weiteres erreichen würde, war ihm durchaus bewusst: «Wir wissen, dass die IRA die mächtige britische Armee, das Ulster Defense Regiment [mit seinen Freiwilligenverbänden] und die [nordirische Polizei] RUC militärisch nicht besiegen kann. Aber wir können durch wirksame Schläge […] die Regierung davon überzeugen, dass ein Rückzug in ihrem Interesse liegt.» Endziel des Kampfes, so fügte er hinzu, sei «eine 32 Grafschaften umfassende sozialistische Republik Irland».

Wie man weiss, haben McGuinness und die IRA beides nicht erreicht.

Diszipliniert, loyal, pragmatisch

Aufgewachsen in der Bogside, dem Armenviertel einer Stadt, deren BewohnerInnen zwar mehrheitlich irisch-katholisch waren, die aber aufgrund von Wahlkreismanipulation von protestantischen Unionisten kontrolliert wurde, hatte der junge McGuinness miterlebt, wie gewaltsam die nordirischen Behörden gegen die Bürgerrechtsbewegung vorgingen. Er half mit, die Polizei zurückzudrängen und «Free Derry» zu verteidigen. Er entkam der britischen Internierungspolitik, mit der ab August 1971 Hunderte von Verdächtigen ohne Gerichtsbeschluss oft jahrelang in Lager eingesperrt wurden. Er war dabei, als britische Fallschirmjäger am «Blutsonntag» von Derry (Januar 1972) vierzehn friedlich demonstrierende Männer erschossen. Und er gehörte der kleinen Delegation an, die kurze Zeit später von der britischen Regierung nach London geflogen wurde, um (vergebens) die Möglichkeiten eines Waffenstillstands auszuloten.

McGuinness wusste, wie tödlich der Kampf für ein wiedervereinigtes Irland sein kann – für Menschen auf der einen wie der anderen Seite. Es ist davon auszugehen, dass er an zahllosen Attentaten auf die bewaffneten Kräfte Britanniens und Nordirlands (den «legitimen Zielen» der IRA, wie er es nannte) beteiligt war oder sie befehligte. Er hat ziemlich sicher auch Maßnahmen gegen mutmassliche oder tatsächliche Verräter aus den eigenen Reihen angeordnet, mörderische Bestrafungsaktionen. Und oft kam es vor, dass Aktionen ihr eigentliches Ziel verfehlten – mit verheerenden Folgen für unbeteiligte ZivilistInnen. Einen sauberen Bürgerkrieg gibt es nicht, das zeigten der Nordirlandkonflikt, der 25 Jahre andauerte und rund 3600 Menschenleben forderte.

Martin McGuinness war diszipliniert (er trank nicht, er rauchte nicht und ging eifrig zur Kirche), er blieb «der Sache» loyal verbunden, lebte bescheiden (er hat nie, auch später nicht, die kleine Wohnung in der Bogside verlassen), handelte stets pragmatisch und hatte – anders als Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams – nie geleugnet, Mitglied der IRA gewesen zu sein. Ein großer politischer Stratege war er nie, sondern reagierte auf die jeweiligen Verhältnisse: Von 1968 bis Ende der achtziger Jahre war er von der Notwendigkeit des bewaffneten Kampfs überzeugt, später (als sich die politisch Großwetterlage änderte und die Kriegsmüdigkeit der nordirischen RepublikanerInnen unübersehbar geworden war) vom Gegenteil.

Auf seine Weise repräsentierte der gelernte Metzger McGuinness einen großen Teil der irisch-republikanischen Bewegung: rebellisch gegen die Briten, aber sozial konservativ. Das sozialistische Label, mit dem er noch 1986 (bei unserer Begegnung) die Ziele der IRA versehen hatte, war eher für die Öffentlichkeit (und die internationale Fan-Gemeinde) gedacht – nicht aber für die zumeist erzkonservative und einflussreiche irische Community in den USA. Es verschwand dann auch, als Adams und er zur Schlussfolgerung kamen, dass ohne die Unterstützung der USA und der irischen Republik eine Lösung nicht denkbar ist. Oder anders ausgedrückt: Mit der Erkenntnis, dass der militärische Kampf den britischen Staat eben doch nicht zum Abzug bringen kann, folgte die Anpassung. Das Ziel einer sozialistischen Umgestaltung fiel weg. Arg ernst war es Sinn Féin und IRA damit ohnehin nicht gewesen.

Hoffnung statt nüchterne Analyse

Ab 1988 begannen die Geheimgespräche mit dem britischen Staat, es folgten – unterstützt von der katholischen Kirche – Abmachungen mit der gemäßigt sozialdemokratischen SDLP von John Hume, dann (1994) der erste Waffenstillstand. Dieser wäre der eigenen Basis ohne McGuinness, der mehrfach im Gefängnis sass und in der republikanischen Gemeinschaft großes Ansehen genoss, kaum vermittelbar gewesen – schliesslich waren Britanniens Truppen, Geheimdienste, Polizeistreitkräfte und die protestantisch-loyalistischen Paramilitärs weiterhin aktiv.

Dass die allermeisten IRA-Freiwilligen die Waffen beiseite legten, war vor allem sein Verdienst: Wenn Martin das für richtig hält, muss es seine Richtigkeit haben, vermuteten Mitte der neunziger Jahre die ihm loyal ergebene Basis in den irisch-katholischen Quartieren. Ohne ihn wäre es Sinn Féin jedenfalls kaum möglich gewesen, das Karfreitagsabkommen als großen Erfolg zu verkaufen: Man habe in den Verhandlungen die Grundlagen für die irische Vereinigung geschaffen, hieß es bar jedes Belegs. Viele wollten das nur gar zu gern glauben.

Dabei hatte sich nicht viel geändert. Der Sonderstaat Nordirland sei unreformierbar und müsse daher als Produkt des britischen Kolonialismus zerschlagen werden, war in den siebziger Jahren eine zentrale Aussage der irisch-republikanischen Bewegung gewesen. Die antimilitaristische Bürgerrechtlerin Bernadette McAliskey sieht das heute noch so: Adams und McGuinness hätten nie zugegeben, dass der bewaffnete Kampf gescheitert ist und in einer Niederlage endete, sagt sie. Gleichzeit hätten sie – noch immer militärischem Denken verhaftet – nie begriffen, welche Chancen eine breite politische Basisbewegung hätte bieten können. Folglich, so McAliskey, seien sie dazu übergegangen, die gegebenen Verhältnisse zu akzeptieren.

Der Popularität von Sinn Féin schadete das nicht. Von Wahl zu Wahl gewann die Partei an Stimmen hinzu; vor allem nach dem Friedensabkommen von Ostern 1998 überflügelte die zunehmend moderater auftretende Sinn Féin die irisch-nationalistische SDLP. Und wurde so neben der konservativ-protestantischen Democratic Unionist Party DUP zu einer führenden politischen Kraft Nordirlands, in der McGuinness, ab 1997 Abgeordneter im britischen Unterhaus, eine zentrale Rolle spielte.

Braver Parteisoldat

2007, die neue nordirische Regionalregierung nahm nach mehreren Anläufen ihre Amtsgeschäfte auf, wurde er Bildungsminister. Sinn Féin hatte bis dahin schon mehrere Kröten schlucken müssen: die halbgare Polizeireform zum Beispiel. An der Spitze des Ressorts konnte er wenig gegen die fortbestehende Segregation im Schulwesen ausrichten: Noch immer gehen die Kids des unionistischen Bevölkerungsteils auf staatlich-protestantische Schulen, noch immer besuchen die allermeisten Kinder irischer Herkunft die Bildungseinrichtungen der katholischen Kirche. Und als Stellvertreter des Ersten Ministers (zuerst Ian Paisley, dann Peter Robinson, schließlich Arlene Foster) setzte er die allermeisten (neoliberalen) Vorgaben aus London um. Er und Sinn Féin nahmen auch hin, dass sie von der vom Prediger Paisley gegründeten DUP von oben herab behandelt wurden – bis der Skandal um eine miserabel umgesetzte Energiemaßnahme Martin McGuinness im Januar dazu brachte, das Amt niederzulegen. Die Koalition brach auseinander.

Martin McGuinness ist in seinem Leben also mehrfach gescheitert – und wurde dafür gelobt. Der Terrorist sei dann doch noch zu einem Staatsmann gereift, hieß es in den vielen Lobpreisungen, die nach seinem Tod eingingen. Ein Nachruf brachte es auf den Punkt: «McGuinness' Reise von den Waffen zur Politik hat die britische Herrschaft in Nordirland zementiert», schrieb Ian Paisley Junior, Sohn des früheren Ersten Ministers Paisley. So bitter das klingt: Der DUP-Politiker hat damit recht. Jedenfalls für den Augenblick.

PS: Bei der Beerdigung am Donnerstag folgten Zehntausende dem Sarg durch die Bogside. «Noch einmal gehörte Derry ihm», schrieb die «Irish Times». (pw)