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Nordirland: Ständige Warnungen
Jeden Tag ein kleiner Knall
14. Mai 2009 | Bombenalarme, Brandsätze, Todesdrohungen: Der britisch kontrollierte Teil der irischen Insel rückt vom Frieden ab. Gegen wen richten sich die Anschläge? Warum beteiligen sich immer mehr Jugendliche daran?
Es ist Abend, der Regen hat aufgehört. Der Springfield Park hat zwar geschlossen, aber für die Kids ist der Zaun kein Hindernis. Colin (Name geändert) sitzt mit ein paar Freunden auf einer Parkbank. Kurz geschorene Haare, helle Kapuzenjacke, vielleicht siebzehn Jahre alt. Natürlich sei er ein Republikaner, sagt Colin, «aber ein richtiger!» Was ist das? «Na, ein Dissident. Continuity IRA, Real IRA, so was.» Und warum? «Die kämpfen noch wirklich, die haben nicht aufgegeben. Hast du schon mal was von den irischen Freiheitskämpfern gehört?» Dann, fast übergangslos, fragt er: «Willst du Ecstasy? Ich hab Stoff dabei.» Und nennt auch gleich den Preis: «Six for a tenner», sechs Stück für zehn Pfund.
Colin kommt von der irisch-nationalistischen Seite der Springfield Road im Westen von Belfast. An dem Hügel, der sich auf der gegenüberliegenden Strassenseite hochzieht, wohnen die anderen, die unionistischen ProtestantInnen, die ebenfalls in Sozialwohnungen untergebracht sind. Nur ein paar Statistiken verbinden die katholischen und die protestantischen Familien in den ArbeiterInnenvierteln von Westbelfast: Auf beiden Seiten liegt die Arbeitslosigkeit bei rund sechzig Prozent, hüben wie drüben gibt es Arbeitslosigkeit schon in der dritten Generation, die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Auskommen ist nahezu null. Das meiste aber trennt sie: Die einen wollen im Vereinigten Königreich bleiben, die anderen sehnen sich nach einem Vereinten Irland, die einen suchen den Schutz von London, die anderen appellieren an Dublin. Sie misstrauen einander, manche hassen sogar die andere Seite, und zwischen ihnen wachsen die Mauern. In Belfast hat sich seit dem Friedensabkommen 1998 die Zahl der «peace lines» genannten Zäune zwischen den beiden Gemeinschaften verdoppelt; die meisten sind inzwischen so hoch, dass selbst olympiareife Wurfkraft kaum ausreicht, um einen Stein von der einen auf die andere Seite zu schleudern.
36 Zwischenfälle in vier Wochen
Aber kann das soziale Elend die Ereignisse der letzten Monate erklären? Gab es in den Arbeitslosenghettos – wo der nordirische Krieg von 1969 bis 1994 ausgetragen wurde – nicht schon immer Armut und Hoffnungslosigkeit?
Was sich in Nordirland entwickelt, erreicht nur selten die Aussenwelt. Eine Ausnahme waren die Anschläge vor zwei Monaten. Am 7. März erschossen in Antrim Mitglieder der Real IRA (vgl. den Text «Irische Spaltungen» unten) zwei britische Soldaten, die einen Pizzalieferdienst bestellt hatten – und zwei Tage später ermordete ein Kommando der Continuity IRA in Craigavon einen nordirischen Polizisten. Diese Attentate kamen nicht aus heiterem Himmel. Es hatte vorher viele Anschlagsversuche gegeben, und sie nehmen seither eher noch zu. Von Mitte März bis Mitte April zählte die nordirische Tageszeitung «Irish News» 36 Zwischenfälle: Bombenalarme, die sich zwar meist als Falschmeldungen herausstellen, aber das öffentliche Leben blockieren; Überfälle; gewaltsame Fahrzeugentführungen; Brandanschläge auf Einrichtungen des militant-protestantischen Oranierordens und auf Wohnungen von Abgeordneten der ehemaligen IRA-Partei Sinn Féin; kleinere Auseinandersetzungen an den Nahtstellen zwischen unionistischen und nationalistischen Quartieren; Schüsse auf Polizeistationen; Morddrohungen.
Hält der Friedensprozess noch, den die nordirische Bevölkerung 1998 in einem Referendum guthiess und der die grossen Parteien Nordirlands zu einer gemeinsamen Koalition verpflichtet, in der mittlerweile die extrem unionistische Partei des protestantischen Predigers Ian Paisley und die ehemalige Führung der IRA den Ton angeben? Im Moment scheint er stabil. Aber nur oben. Unten hingegen wächst die Opposition, vor allem auf der republikanischen Seite. Mittlerweile, so sagt die Polizei, sei sogar das Leben des stellvertretenden Regionalpremiers Martin McGuinness in Gefahr. McGuinness war in den siebziger und achtziger Jahren Stabschef der IRA gewesen.
Offenbar ist der von London und Dublin initiierte Friedensprozess an der Basis nie angekommen. Die IRA hat zwar ihre Waffen vernichtet; die Friedensdividende, von der einst alle sprachen, wurde jedoch zumeist in den Stadtzentren ausgezahlt, wo neue Kongresshallen, Shoppingmalls und Hotels entstanden sind. «Es wächst eine neue Generation heran», sagt einer, der nicht mit Namen zitiert werden will, weil er in letzter Zeit genug Probleme hatte und mehrmals festgenommen wurde. In den letzten Jahrzehnten hätte die republikanische Jugend die heutige Regierungspartei Sinn Féin unterstützt, «das aber ändert sich. Für immer mehr Jugendliche ist Sinn Féin zu einem Teil des Establishments geworden.» Die Provos – die ehemaligen IRA-Kämpfer und Sinn-Féin-AktivistInnen – stünden nun aufseiten des britischen Staates: «Sie haben sich kaufen lassen.»
«Solange Irland nicht frei ist …»
Der Mann aus der Grafschaft Fermanagh sieht nicht danach aus, als würde er demnächst in den Krieg ziehen können: Er ist Anfang fünfzig, hat ein Bäuchlein, leidet unter Kurzatmigkeit. Aber er gilt als Sprecher von Republican Sinn Féin (RSF), der ältesten Dissidentenorganisation. «Wofür haben wir Republikaner denn ab 1969 gekämpft?», fragt er. «Sicherlich nicht für eine ‹Gleichheit in der Wertschätzung›, wie die Provos behaupten. Sondern um die britische Herrschaft in Irland zu beenden.» Solange Irland nicht frei sei, «wird es immer bewaffneten Widerstand geben». Das sind markige Sprüche, die wie Parolen aus einer anderen Zeit klingen – und doch finden sie offenbar immer mehr Gehör. Jedenfalls wäre es vor einem Jahr noch undenkbar gewesen, dass sich junge RepublikanerInnen in offenen Scharmützeln mit der Staatsmacht anlegen, dass die Zahl der DissidentInnen zunimmt und dass, wie nach den Anschlägen von Anfang März, Siebzehnjährige über Wochen hinweg in Untersuchungshaft gehalten werden.
«Noch unterstützt nur eine kleine Minderheit den republikanischen Kampf», gibt der RSF-Gewährsmann zu, aber das könnte sich bald ändern: «Wenn der Staat, wie so oft, repressiv reagiert, wächst die Zustimmung für uns.» Er sagt das gelassen, wie einer, der die Geschichte hinter sich weiss.
Dass Gewalt Gegengewalt erzeugt, weiss auch Tommy McKearney. Der Direktor der Gefangenenhilfsorganisation Expac, die inzwischen in der Konfliktberatung tätig ist, kennt die Stimmung in den republikanischen Vierteln: «Viele sind vom Friedensprozess enttäuscht, von dem sie sich so viel erhofft hatten.» Die Gewalt der nordirischen Klassengesellschaft habe die des britischen Staates ersetzt, sagt das ehemalige IRA-Mitglied. McKearney hält den bewaffneten Kampf für falsch. Krieg führe immer zu Elitedenken, die Verhältnisse müssten jedoch von unten her und politisch verändert werden. «Dazu sind die hierarchisch strukturierten Provos aber nicht in der Lage. Sie glauben immer noch, befehlen zu können, und sind mittlerweile zu einer Mittelstandspartei geworden.» Wie sehr Sinn Féin den Kontakt zur Basis verloren hat, illustriert er an zwei Beispielen:
– Im vergangenen August hatten Jugendliche in Bellymena Material für ein Freudenfeuer zusammengeschleppt, so wie das BewohnerInnen des nationalistischen Viertels Dunclug (Arbeitslosigkeit: rund neunzig Prozent) seit Jahrzehnten tun. Sie erinnern damit an den Beginn der Internierung von 1971, als die britische Armee wahllos Verdächtige verhaftete und oft jahrelang ohne Anklage inhaftierte. «Der Scheiterhaufen war klein, gerade mal acht Meter hoch, die Kids betranken sich und randalierten ein bisschen, so wie jedes Jahr.» Dann aber schritten Sinn-Féin-Abgeordnete ein, besorgt um ihre Reputation als Friedensstifter, und zogen den Haufen auseinander – bis sie von Mitgliedern der Real IRA gewaltsam gestoppt wurden. Die sind jetzt in Dunclug die Helden.
– In der Stadt Armagh wehrte sich ein Quartier lange Zeit gegen die Modernisierung eines Stadions des irisch-konservativen Gälischen Sportverbands GAA. Neue Flutlichtanlage, mehr Spiele, mehr Training, mehr Verkehr, mehr Bierdosen: Das wollten die BewohnerInnen verhindern. Sie wurden dabei von den örtlichen Sinn-Féin-RätInnen unterstützt – bis sich die Sinn-Féin-Führung aus wahltaktischen Erwägungen mit dem GAA verbündete. Seither stellt Sinn Féin die bezahlten Ordner bei den Spielen, und manche der Betroffenen machen inzwischen die Faust nicht nur im Sack.
Wie die alten Helden
Es gibt viele solcher Begebenheiten, und sie alle schildern dieselbe Story: Es ist die Geschichte von bewegten Militanten, die Frieden geschlossen haben, vom Gegner eingebunden wurden, Karriere machen, Ämter akzeptieren, respektabel werden wollen und ihre alten Ziele vergessen. Das Phänomen ist nicht neu – auch in Irland nicht, wie die vielen Spaltungen in der Geschichte der republikanischen Bewegung zeigen. Aber in Irland – das machen die vielen Erhebungen der letzten 200 Jahre deutlich – ist der bewaffnete Kampf stets eine Option gewesen. Und noch immer findet sich jemand, der eine Pistole ausgräbt. Weil ihm, auch das ist ein Bestandteil des langen Konflikts, ein paar Altvordere von den grossen Zeiten des heroischen Widerstands gegen die Briten vorschwärmen. «Viele Jugendliche, die für sich keine Chance sehen, eifern jetzt den Alten nach, die ihre frühere Opposition wie eine Monstranz vor sich hertragen.»
Besonders tragisch findet McKearney das absehbare Schicksal vieler Jungen. «Die opfern sich für eine Idee, deren Zeit vorbei ist. Sie kämpfen einen Kampf, den kaum jemand unterstützt, der niemandem nützt und landen – wenn die nicht gleich erschossen werden– für Jahrzehnte im Knast.» Er weiss, wovon er redet: Tommy McKearney sass sechzehn Jahre im Haft.
Schnelle Lösungen?
Auch Breandán Mac Cionnaith kann die Frustration der Enttäuschten gut verstehen. Jahrelang stand der Sprecher des nationalistischen Quartiers an der Garvaghy Road, das im protestantischen Portadown liegt, im Zentrum des nordirischen Konflikts. Er wurde verhaftet, verprügelt, bedroht und widersetzte sich mit seinen NachbarInnen dennoch den triumphalistisch-protestantischen Aufmärschen des Oranierordens von der kleinen Kirche Drumcree durch seine Strasse. Viele Jahre war er die Vorzeigeperson der Sinn-Féin-Führung in Portadown, ein Kämpfer an der heikelsten politischen Front. Bis er 2007 seinen bezahlten Beraterposten kündigte und aus der Partei austrat.
«Hier sieht es zum Teil noch schlimmer aus als in den Belfaster Arbeiterquartieren», sagt Mac Cionnaith. «Rund zwei Drittel der Schüler verlassen die Schule ohne formellen Abschluss, die Lebenserwartung liegt zehn Jahre unter dem nordirischen Durchschnitt, laut offiziellen Sozialstatistiken rangieren wir in allen Kategorien am unteren Ende der Tabellen.» Dabei habe er als Sinn-Féin-Gemeinderat bis vor kurzem noch alles Mögliche in Aussicht gestellt: Jobs, mehr Ausbildung, bessere Anbindung an den öffentlichen Verkehr, mehr Sozialwohnungen.
Doch daraus ist nichts geworden. Unter Sinn Féin als massgeblicher Regierungspartei schritt die Privatisierung von Schulen und Spitälern voran, die Sozialleistungen wurden gekürzt, der Sozialwohnungsbau eingeschränkt. Als Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams gegen alle Parteitagsbeschlüsse die skandalös niedrigen Unternehmenssteuern in der Republik verteidigte und Sinn Féins nordirische Bildungsministerin monatelang die Gewerkschaft der LehrerInnen bekämpfte, hatte Breandán Mac Cionnaith genug. Und trat Éirígí bei, einer vor zwei Jahren entstandenen linken Gruppierung, die einen Mittelweg zwischen Anpassung und militärischer Gewalt versucht: den der politischen Mobilisierung.
«Die Jungen suchen nach schnellen Lösungen, das ist nicht nur in Irland so», sagt er. «Aber hier entwickelt sich der Protest aus einer Subkultur, die im Kampf gegen die Briten entstand und sehr solide, sehr selbstbewusst ist.» In den siebziger und achtziger Jahren waren die republikanischen Gemeinschaften einem grossen Druck ausgesetzt gewesen. Die britische Armee besetzte oft ganze Häuserblocks und misshandelte die BewohnerInnen, die protestantisch-loyalistischen Todesschwadronen schickten ihre Killerkommandos. Das schweisst zusammen – und macht immun gegen jegliche Kritik.
Aber gegen wen richtet sich der Protest heute? Gegen Sinn Féin, sagt Mac Cionnaith; die Parteispitze verliere ausserhalb von Westbelfast und South Armagh, ihren traditionellen Hochburgen, an Rückhalt. Laut Medienberichten hat die Sinn-Féin-Führung nicht einmal mehr Ardoyne unter Kontrolle, ein erzrepublikanisches Quartier im Belfaster Norden. Das Kalkül der DissidentInnen: Je vehementer sich Sinn-Féin-MinisterInnen hinter die Sicherheitskräfte stellen müssen, desto klarer tritt ihre staatstragende Rolle hervor. Aber warum wenden sich die Unzufriedenen nicht seinem dritten Weg zu, dem des sozialen, gewerkschaftlichen Protests? «Dieser Ansatz wurde in Irland nie wirklich versucht», sagt das Éirígí-Mitglied Mac Cionnaith, «das braucht noch seine Zeit.»
Von Éirígí hat Colin im Westbelfaster Springfield Park noch nie gehört. Ihn treiben andere Themen um, denn es wird kalt. Ein paar Pussys, ein paar Fotzen, wären jetzt nicht schlecht, sagen seine Kumpel. Die Kapuzenkids markieren den starken Mann. Haben sie jemals gekämpft, ihre Sprüche vom irischen Freiheitskampf in die Tat umgesetzt? Ihren Helden nachgeeifert? Colin sagt nichts. Wahrscheinlich gibt er nur an. Und ist vielleicht mit Farbbeuteln durch Westbelfast gezogen: Dort haben Unbekannte in den letzten Wochen etliche Mauerbilder zerstört, auf denen die Sinn-Féin-Spitze ihre frühere IRA-Militanz zelebriert. Sogar ein Bildnis von Bobby Sands wurde beschädigt, der beim grossen Hungerstreik 1981 starb: eine Ikone der republikanischen Bewegung. Den Jungen, so die Botschaft, ist nichts mehr heilig.
(pw)