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Nordirland: Der Hass nimmt wieder zu

An der Kante

23. November 2006 | Letzte Woche hat die britische Regierung ihr «allerletztes» Ultimatum nochmals verlängert. Damit haben die nordirischen Parteien mehr Zeit, um Pech und Schwefel, die IRA und Ian Paisley, zusammenzuschweissen. Aber wird dadurch alles besser?

Nein, von seiner Seite habe sonst niemand kommen wollen, und auch er sei jetzt nur da, weil er das Projekt im Grundsatz ganz gut finde, aber mehr möchte er dazu im Moment nicht sagen. Stephen Bloomer, der junge protestantische Loyalist aus Carrickfergus, hielt sich ziemlich zurück beim letzten Treffen von «The Other View», dem mit Abstand interessantesten nordirischen Magazin.

Fünf Jahre lang war «Die andere Sicht» von früheren Gegnern im nordirischen Krieg herausgegeben worden, von Leuten wie den ehemaligen IRA-Mitgliedern Anthony McIntyre und Tommy McKearney auf der einen und Billy Mitchell von der loyalistischen Ulster Volunteer Force (UVF) auf der anderen Seite. Nach vielen Jahren in Haft waren die früheren Paramilitärs zum Schluss gekommen, dass eine Verständigung der beiden verfeindeten Gesellschaftsteile mehr brauche als gemeinsame Weihnachtsfeiern von KatholikInnen und ProtestantInnen – und auch mehr als die politischen Manöver ganz oben, die Nordirland seit dem Karfreitagsabkommen in Atem halten und jetzt wieder die Tagesordnung bestimmen.

Und so gründeten sie ihre Vierteljahreszeitschrift, die (vom EU-Friedensfonds anfangs finanziert) die Gegensätze nicht aussparte, sondern hervorhob. «The Other View» thematisierte die protestantischen Märsche in kontroversen Beiträgen (die einen waren dafür, die anderen begründeten ihre Opposition) ebenso wie die (unterschiedlich interpretierten) Ursachen des Nordirlandkonflikts oder die aktuellen Lebensverhältnisse in den Arbeiterquartieren.

Die vor allem an Schulen verteilte Publikation ermöglichte einen Blick auf die Sicht der anderen, förderte das Verständnis – und scheiterte. Denn vor Monaten zogen sich Mitchell und seine loyalistischen Kollegen aus der ehrenamtlich arbeitenden Redaktion zurück. «Sie können sich eine Zusammenarbeit mit uns Republikanern nicht mehr leisten, wenn sie sich nicht in Gefahr bringen wollen», sagt McKearney. Und so schickten sie Stephen Bloomer, der sich an der redaktionellen Arbeit bisher kaum beteiligt hatte und an dem letzten Treffen lieber nichts sagen wollte. «Das Projekt ist tot», konstatiert daher der ehemalige IRA-Mann McIntyre, «gestorben am wachsenden Misstrauen der unionistischen Mehrheit und insbesondere der loyalistischen Arbeiter gegenüber dem Friedensprozess.»

Teufelswerk Annährung

«Die Skepsis nimmt zu», sagt auch David Adams. Adams war bis vor kurzem ein führendes Mitglied der loyalistischen Ulster Democratic Party gewesen, dem politischen Sprachrohr der Ulster Defence Association UDA, dem grössten paramilitärischen Verband Nordirlands. Er selber, sagt Adams, sei immer noch der Meinung, «dass das Karfreitagsabkommen der protestantischen Sache dient, da es die Union mit Britannien gestärkt hat». Bis vor ein, zwei Jahren war dies auch die Ansicht der anderen LoyalistInnen von UDA und UVF gewesen. Sie hatten sich mit ihrer nüchternen Einschätzung lange Zeit abgehoben von den aufgeregten UnionistInnen um Ian Paisley, die das Abkommen und den Friedensprozess als Teufelswerk ablehnen. Dass sie mit dem Feind – der IRA-Partei Sinn Féin – die Macht teilen sollen, ist für viele AnhängerInnen von Paisleys Democratic Unionist Party (DUP) heute noch undenkbar: Sie wollen zurück in die alte Herrlichkeit und in eine Zeit, in der Nordirland ein protestantischer Staat für die protestantische Bevölkerung war.

Aber was hat die loyalistischen Organisationen in den Arbeiterquartieren von ihrer bisherigen Haltung abgebracht? «Dafür gibt es mehrere Gründe», sagt Adams. «Derzeit ist nur eine Stimme laut und deutlich vernehmbar – die von Ian Paisley, der täglich vor dem drohenden Ausverkauf warnt. Das prägt auch Leute, die es eigentlich besser wissen müssten. Die Siegerpose der Republikaner – die immer noch so tun, als hätten sie den Krieg gewonnen – hat ebenfalls Zweifel geweckt. Und schliesslich verunsichert das Hin und Her um die Regierungsbildung viele Menschen.»

Deswegen, so Adams, würden die loyalistischen Paramilitärs wieder verstärkt rekrutieren. Vor allem protestantische Jugendliche stünden vor den Büros von UDA und UVF Schlange, weil sie beitreten wollten. Seiner Schätzung nach sind in den bewaffneten Verbänden mittlerweile 20000 Leute organisiert – so viele wie schon lange nicht mehr. Zum Vergleich: selbst in ihrer aktivsten Zeit hatte die IRA nie mehr als 500 Freiwillige.

Adams Einschätzung teilen viele in den loyalistischen Hochburgen von Belfast, Lisburn, Portadown und Ballymena, zitiert werden aber will niemand und so richtig reden auch nicht. «Wir können uns vor beitrittswilligen Jugendlichen kaum retten», sagt einer in der Shankill Road und verschwindet auch schon wieder). Die LoyalistInnen haben, wie so oft in den letzten Jahrzehnten, die Rollläden heruntergelassen, keine Interviews, keine Kontakte. Das war noch nie ein gutes Zeichen.

Destabilisierung aller Fronten

Und es könnte noch schlimmer kommen – denn ein Grossteil der protestantisch-unionistischen Bevölkerung befindet sich seit einiger Zeit in heller Aufregung. Ein Indiz dafür waren die heftigen Auseinandersetzungen im September 2005, als der Streit um eine Parade des Oranierordens zu Strassenkämpfen führte, die eine Woche lang andauerten. Die Frustration sitzt tief. Der Friedensprozess hat an den sozialen Verhältnissen wenig geändert; in manchen Arbeiterquartieren liegt die Arbeitslosigkeit immer noch bei fünfzig Prozent. Der moderate Wirtschaftsaufschwung hat um protestantische und katholische Armenviertel einen grossen Bogen gemacht. Und die besser gestellte unionistische Mittelschicht ist verunsichert.

In dieser Situation hat die britische Regierung nun auch noch die andere Konfliktpartei in Schwierigkeiten gebracht. Im April hatten sich die Regierungen von London und Dublin darauf verständigt, die nordirischen Parteien unter Druck zu setzen. Die grossen Fraktionen der nordirischen Assembly hätten nur noch bis Ende Mai, maximal bis 24. November Zeit, um eine neue Regionalregierung zu wählen. Andernfalls werden die Versammlung, die seit der Suspendierung der Regionalregierung im Oktober 2002 nicht mehr tagt, aufgelöst, die Bezahlung der Abgeordneten eingestellt und das Karfreitagsabkommen ad acta gelegt. An einer Konferenz im Oktober im schottischen Ort St. Andrews, an der auch die grossen nordirischen Parteien teilnahmen, bekräftigten die Regierungen ihr Ultimatum. Und verbanden es mit einer Forderung an Sinn Féin.

Damit kamen London und Dublin der DUP weit entgegen. Paisleys Partei, die in einer gemeinsamen Regierung Anspruch auf den Posten des Ersten Ministers hat, hatte in den letzten Jahren eine Forderung nach der anderen aus der Tasche gezogen: Zuerst verlangte sie, dass die IRA ihre Waffen abgibt. Als dieser Schritt greifbar nahe war, bestand sie auf einer öffentlichen Übergabe des Arsenals: Eine demütigende Geste, auf die sich Sinn Féin nicht einlassen konnte. Danach pochte sie auf eine Entschuldigung der IRA, doch die IRA erklärte stattdessen den bewaffneten Kampf für beendet. Anschliessend forderte die DUP eine Auflösung der IRA, was jedoch kaum nötig ist – die IRA ist heute kaum mehr als ein Veteranenverband. In St. Andrews konnte sich Paisleys Truppe dann erneut durchsetzen.

Eine Regionalregierung, so die Vereinbarung, komme nur infrage, wenn der stellvertretende Erste Minister (den Sinn Féin stellen muss) seinen Eid auch auf die Sicherheitskräfte von Nordirland ablege. Für die Basis der Partei und die vielen ehemaligen IRA-Mitglieder geht dies jedoch einen Schritt zu weit. Sie misstrauen noch immer der nordirischen Polizei und den britischen Geheimdiensten. Mit gutem Grund: Erst vorletzte Woche kam ein internationaler Untersuchungsausschuss zum Ergebnis, dass Polizisten und britische Agenten während der Kriegsjahre viele Verbrechen begangen haben. In 24 der 25 untersuchten Fälle mit 76 Todesopfern hatten, so das unabhängige RichterInnengremium, Sicherheitskräfte ihre Finger im Spiel.

Mal wieder eine Pattsituation

Dazu kommt, dass London eine öffentliche Untersuchung all dieser Morde ablehnt und dass der designierte stellvertretende Regionalpremier Martin McGuinness auch noch die Operatio-nen des britischen Inlandgeheimdienstes MI5 gutheissen müsste. Der MI5 ist seit einiger Zeit für alle Anti-Terror-Massnahmen in Nordirland zuständig und nur der Londoner Regierung rechenschaftspflichtig.

Allein schon die Möglichkeit, dass die Sinn-Féin-Spitze auch diese Vorgabe hinnimmt, entzweit die Basis. In den letzten drei Wochen haben über vierzig zum Teil hochrangige Sinn-Féin/IRA-Mitglieder die Organisation verlassen. Die Real IRA und die Continuity IRA, zwei republikanische Splitterorganisationen, erleben derzeit einen Zulauf wie schon lange nicht mehr, vor allem von jungen Leuten. Und sie sind auch wieder aktiv. Vor zwei Wochen kam es in Belfast zu drei Brandanschlägen auf Geschäfte, und letzte Woche attackierten RepublikanerInnen eine Polizeiwache in South Armagh.

Die Sinn-Féin-Führung um Gerry Adams hat daher frühzeitig abgewinkt: Der verlangte Eid auf die Sicherheitsorgane müsse von einem Parteitag akzeptiert werden, und um die Basis zu bearbeiten, brauche sie noch etwas Zeit. Der achtzigjährige Ian Paisley wiederum, der gerne Regierungschef werden würde (es wäre die Krönung seiner Laufbahn), muss seinerseits erst wieder die Geister in die Flasche zurückstopfen, aus der er sie über Jahrzehnte hinweg rief. Nun hat London entschieden, dass das «allerletzte» Ultimatum nochmals verlängert wird und der Plan B (der Dublin eine grössere Mitsprache einräumt) erst nach einer Neuwahl der Assembly Anfang März in Kraft treten soll.

Aber wird es überhaupt zu einer Einigung kommen? David Adams bleibt skeptisch: «Die Politiker beider Seiten können nicht ohne Rücksicht auf ihre Basis handeln. Ausserdem kommt die Pattsituation Sinn Féin zugute: Die Partei kann immer noch so tun, als würde sie einen Staat bekämpfen, den sie inzwischen akzeptiert hat.» Bernadette McAliskey, die kluge Veteranin der nordirischen grosse Bürgerrechtsbewegung, ist ähnlicher Ansicht, begründet sie aber so: «Die Unionisten wollten nie Macht abgeben, wollen das nicht und werden das in Zukunft auch nicht tun.» Daher werde die DUP auch im März 2007 eine Zusammenarbeit mit der nationalistischen Minderheit ablehnen. (pw)