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Nordirland: Recherchieren zwischen den Fronten
«Terroristen» in einem «Religionskrieg»?
10. April 2006 | Über Nordirland zu schreiben, ist recht einfach. Warum tun sich dann so viele JournalistInnen schwer damit?
Gewiss, ein paar Geschichtskenntnisse sind schon sinnvoll. Denn wer weiss heutzutage noch, dass Irland Britanniens älteste Kolonie war (und zum Teil noch ist)? Dass die Insel lange Zeit ein politisches Gebilde war – und Nordirland erst seit knapp neunzig Jahren besteht? Und dass die Grenzen dieses Kunststaats Nordirland so gezogen wurden, dass der unionistisch-protestantische Bevölkerungsteil – Nachfahren der britischen MigrantInnen – immer in der Mehrheit gegenüber der irisch-katholischen Bevölkerung sein würde?
Ansonsten aber, und das ist das Entscheidende, muss man, um Einwaaucht es nicht viel: Man muss nur hingehen und mit den Leuten reden. Allerdings mit allen. Also nicht nur mit den VertreterInnen der Staatsmacht und der «demokratischen» Parteien. Sondern und vor allem auch mit katholischen NationalistInnen, irisch-republikanischen Killern, bigotten ProtestantInnen, loyalistischen Halbfaschisten. Dazu benötigt man Zeit – und genau das haben die meisten JournalistInnen nicht. Mit Ausnahme der deutschen Tageszeitung «taz» und der NZZ unterhält kein deutschsprachiges Medium einen Korrespondenten in Irland. Dies erklärt die zum Teil grotesken Fehlleistungen der Berichterstattung der letzten Jahrzehnte. So waren zum Beispiel schon in den achtzigerJahren fast alle JournalistInnen davon überzeugt, dass die «Terroristen» (gemeint war damit die IRA) in diesem «Religionskrieg» ausgespielt hätten.
Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die in der Regel einmal im Jahr aus London angereisten JournalistInnen gerade drei oder vier Tage in Belfast verbrachten, kurz ein paar Politiker und Sicherheitsexperten interviewten, vom zehnten Stock des Europa-Hotels auf Westbelfast blickten (wenns mal wieder krachte) und dann ihre Berichte über die durchgeknallten, betbuchbesessenen Iren in die Tasten hauten.
Dabei war es selten schwierig, an die massgeblichen Leute heranzukommen – ich jedenfalls hatte in den letzten zwanzig Jahren Nordirlandberichterstattung für die WOZ keine grossen Probleme. Die einzig nennenswerte Schwierigkeit bestand darin, dass ich mir kein Hotel leisten und daher (in den Vor-Handy-Zeiten) auch nicht zurückgerufen werden konnte. Eine neutrale Unterkunft war aber angeraten, wenn man morgens mit der IRA, nachmittags mit der Polizei und abends mit einem Vertreter der loyalistischen Kommandos reden wollte. Aber auch dies liess sich bewältigen: Die Studentenwohnheime in Südbelfast bieten billige Zimmer, und zur Klärung der Termine musste ich öffentliche Telefonzellen suchen (was allerdings mühsam war - in den umkämpften Quartieren von Belfast gibt es keine Telefonzellen, da in ihnen zu oft Bomben platziert wurden).
Der Kontakt zur irisch-republikanischen Seite liess sich immer schnell herstellen: Die IRA-nahe Partei Sinn Féin betreibt seit langem eine offene Informationspolitik. Ich wartete zwar oft stundenlang auf das versprochene Interview, aber in der Regel beantworteten dann freundliche Männer meine Fragen. Genauso zuvorkommend - wenn auch nur phasenweise - waren die probritischen Loyalisten.
Immer wieder schotteten sich die protestantischen Hardliner ab, da gab es kein Herankommen. Aber zwischendurch hatte ich auch Glück. 1986 zum Beispiel erlaubte mir der damalige Chef der Ulster Defense Association, der grössten loyalistischen Organisation, den Besuch eines Lagers zur Ausbildung von loyalistischen Kämpfern (siehe mein Buch «Sie nennen es Trouble»). Nicht viele JournalistInnen haben so ein Training verfolgen können. 1994 traf ich in einem Pub-Hinterzimmer den Kommandeur der Ulster Volunteer Force, des anderen loyalistischen Todesschwadrons. David Ervine, der später zum Chef der wichtigen loyalistischen Progressive Unionist Party aufstieg, wollte damals offenbar ausloten, wie er bei den Medien ankommt (dass ich Ausländer war, kam mir mehrmals zugute). Tage später gab mir auch Ray Smallwood, der Attentäter von Bernadette McAliskey, ein Interview (zwei Monate danach wurde er von der IRA erschossen). All diese Gespräche haben mir mehr Einblick in das Denken der protestantischen Bevölkerung geboten als alle Interviews mit Ian Paisley und Konsorten.
Man muss von unten nach oben recherchieren und von aussen nach innen, wenn man herausfinden will, was tatsächlich los ist. Arg gefährlich waren diese Recherchen übrigens nie: Während des ganzen Konflikts wurde nur ein Journalist getötet (und der auch nur, weil er trotz zahlreicher Warnungen partout die mafiösen Machenschaften einiger loyalistischer Kommandeure aufdecken wollte). Auf mich haben nur patrouillierende britische Soldaten gezielt. (pw)