Indien: Grösster Generalstreik in der Geschichte
150 Millionen gegen Modi
16. September 2015 | Noch nie gingen in Indien so viele Landarbeiterinnen, Rikschafahrer und Näherinnen für mehr Lohn, mehr Preiskontrollen und weniger Privatisierungen auf die Strasse.
Die Hauptverkehrsstrassen sind wie leergefegt, die Fliessbänder der Autowerke stehen still, vor den grossen Häfen sind Streikposten aufgezogen. Nichts bewegt sich mehr, keine Vorortzüge, keine Busse, keine Lastwagen. In vielen Bundesstaaten bleiben Postämter, Banken, Versicherungen, Schulen und Universitäten geschlossen. Die meisten Behörden haben zu. Transportarbeiter, Mineure, Bauhandwerker, IT-Spezialistinnen, ein Grossteil der Service-public-Beschäftigten und selbst Hausangestellte legen für einen Tag ihre Arbeit nieder.
Das war am 2. September. Und noch nie in der indischen Geschichte war ein Generalstreik so umfassend. Denn es streikten auch Unorganisierte, Landarbeiterinnen, Rikschafahrer, Strassenverkäufer und Näherinnen in Zulieferbetrieben. Zum Streik aufgerufen hatten zehn der zwölf grossen Gewerkschaftsverbände Indiens. Und es beteiligten sich weit mehr Lohnabhängige am Protest als erwartet. Der Allindische Gewerkschaftsbund AITUC bezifferte die Zahl der Streikenden auf 150 Millionen. Das sind weitaus mehr Menschen, als die Gewerkschaften Mitglieder haben.
Modi hofiert Multis
Die grosse Mobilisierung hat auch mit der Politik der hindu-nationalistischen Regierung von Narendra Modi zu tun. Vor seinem Wahlsieg im Mai 2014 versprach Modi einen Wirtschaftsaufschwung für alle. Seither hofiert der Premier aber nur internationalen Konzernen. Vor allem für sie sollen indische Staatsunternehmen wie die Bahn privatisiert werden. Für sie sind die neuen gewerkschaftsfreien Wirtschaftszonen gedacht und für sie wird der Arbeitsmarkt dereguliert. Die Weltbank fordert das schon lange.
Die Lebensmittelpreise in Indien galoppieren davon, die Armut wächst und die staatlich organisierten Landvertreibungen zugunsten von Industrieansiedlungen nehmen zu. Jetzt will Modi den Unternehmen auch noch Kündigungen und Betriebsschliessungen erleichtern, das Streikrecht einschränken und gewerkschaftliche Mitbestimmungsrechte aushebeln.
70.000 Organisationen
Die indische Gewerkschaftsbewegung ist momentan die einzig nennenswerte oppositionelle Kraft im bevölkerungsreichsten Land der Welt. Die im Korruptionssumpf erstickte Kongresspartei ist seit ihrer Wahlniederlage im Mai 2014 nur noch mit sich selber beschäftigt. Die Linksparteien haben ihre Hochburgen in Westbengalen und Kerala verloren. Die einst so wichtigen Nichtregierungsorganisationen werden immer mehr gegängelt, überwacht und ausgeschaltet.
Von einer gemeinsamen Bewegung sind die indischen Gewerkschaften allerdings noch weit entfernt. Die grossen Gewerkschaftsbünde sind parteipolitisch orientiert; jede der vielen linken Parteien hat ihren eigenen Verband, ebenso die Kongresspartei und die Hindu-Nationalisten von Premier Narendra Modi.
Handlungsfähig waren diese traditionellen und meist zentralistisch ausgerichteten Organisationen bisher jedoch nur in der herkömmlichen (lange Zeit staatlichen) Industrie und im Service public. Im informellen, unregulierten Bereich, er macht rund neunzig Prozent der Arbeitsverhältnisse aus, spielten sie kaum eine Rolle. Und sie vertreten auch längst nicht alle der 70.000 registrierten Gewerkschaften, die zumeist auf einzelne Unternehmen beschränkt sind. Diese bezahlen ihnen oft sogar die Sekretäre.
Doch das ändert sich allmählich, zumal die Mutterparteien an Einfluss verlieren. So haben seit einiger Zeit parteiunabhängige Gewerkschaften wie die New Trade Union Initiative grossen Zulauf. Sie sind demokratisch strukturiert und suchen den Kontakt zu sozialen und politischen Basisbewegungen der unteren Kasten wie den Dalits, der Urbevölkerung und anderen benachteiligten Gruppen.
Viele Aktive nehmen sich auch ein Beispiel an Organisationsprinzipien der Self Employed Women's Association SEWA. Der Zusammenschluss von selbständigen Händlerinnen, Lumpennäherinnen, Wäscherinnen agiert einerseits als Gewerkschaft, weil er Preisverhandlungen führt. Andererseits reicht er darüber hinaus: SEWA unterhält eine eigene Akademie, unterstützt die Gründung von Kooperativen und organisiert auf diese Weise jene, die bisher als unorganisierbar galten. Es sind solche Ansätze, die den Generalstreik so erfolgreich machten.
Forderungen für alle
Aber wie bereitet man einen solchen Generalstreik vor? Eine so umfassende Arbeiterniederlegung ist in einem geographisch, sprachlich, sozial und religiös so vielfältigen und zerklüfteten Land wie Indien ist nicht im Handumdrehen organisiert. Die Verhandlungen mit der Regierung scheiterten im Mai, es folgten zahllose Koordinierungssitzungen, Mobilisierungstreffen, Massenveranstaltungen. Am Ende stand ein Forderungskatalog, der weit mehr umfasste als die Rücknahme der geplanten Arbeitsmarktreform: Staatliche Preiskontrolle, eine Mindestrente von monatlich 40 Euro, eine Sozialversicherung für alle, ein Mindestlohn von umgerechnet 210 Euro im Monat, kein Landraub mehr zugunsten der Industrie, sofortiger Stop der Privatisierungen.
Dass der Generalstreik so massiv ausfiel, hat mit diesen Zielen zu tun, hinter denen alle stehen können: Die Festangestellten genauso wie die Tagelöhner, die Beschäftigten wie die Arbeitslosen. Entsprechend teuer fiel er aus. Nach Schätzung des grössten Industriellenverbands kostete er die indische Wirtschaft 3,7 Milliarden US-Dollar.
Und die Regierung Modi? Sie hatte schon im Vorfeld reagiert – und einige umstrittene Massnahmen zurückgezogen. Jetzt signalisiert sie Zugeständnisse beim Mindestlohn. Und die Arbeitsmarktreform-Gesetze will sie erst nächstes Jahr dem Parlament vorlegen. Das lässt den Gewerkschaften Zeit für den nächsten Kampf.
PS: Dieser Text erschien zuerst in der Zeitung «work» der Schweizer Gewerkschaft unia (Nummer 15/15)